Sie mag ihm gar nicht mehr widersprechen, stellt Iris Radisch gleichermaßen erstaunt wie besorgt fest, und doch, gesteht die Literaturkritikerin, beschleicht sie beim Lesen von Strauß' neuesten Notaten mit dem schönen Titel "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" leichte Ungeduld. Wer will Strauß' kulturkonservativem Lamento, seiner Untergangsklage, die er schon vor zehn Jahren in den "Bocksgesängen" zur Empörung vieler anstimmte, heute noch ernsthaft etwas entgegenhalten, fragt Radisch. Auch in seinem neusten Buch geht das Lamento weiter, bekennt sie, endlos sei die "Kette der Verfallserscheinungen", die Strauß aneinander reihe, und dennoch: messerscharfe
Kulturanalyse und glänzende Fortschrittskritik, bekräftigt Radisch. Was sie stört, vielleicht auch langweilt, ist die Wiederholung der alten Rede, die "kalte" und "pompöse" Geste, mit der Strauß verkündet, was er immer schon verkündet hat. Das alles ist glänzend formuliert, gesteht Radisch zu, sozusagen in "Goldrand" gefasst, wodurch es sich zwar von der deutschen Durchschnittsprosa abhebe, aber eben auch nicht daran reibe, sondern steril bleibe. Die schönsten Passagen in dem Buch sind darum für Radisch diejenigen, wo Strauß gleichsam auf Zehenspitzen unter seinen Rotbuchen in der Uckermark steht und sich Sorgen um die Baumkronen macht. "Offenbar erkennen auch sie nicht, was höher ist als sie selbst", schreibt Radisch liebevoll spöttelnd.
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