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Ein weiterer Band von Botho Strauß' unzeitgemäßen Betrachtungen: über den Rückgang der Empfindungsfähigkeit und die Zunahme der Abstumpfung meditiert einer, der davon überzeugt ist, dass wir das Erinnern neu erfinden müssen. Wer nur nach vorn schaut, wird die Verluste und Opfer, das, was uns abhanden kommt, weder sehen noch verstehen; aber auch dem bloß starr zurück Schauenden wird die gegenwärtige Not nicht verständlich.

Produktbeschreibung
Ein weiterer Band von Botho Strauß' unzeitgemäßen Betrachtungen: über den Rückgang der Empfindungsfähigkeit und die Zunahme der Abstumpfung meditiert einer, der davon überzeugt ist, dass wir das Erinnern neu erfinden müssen. Wer nur nach vorn schaut, wird die Verluste und Opfer, das, was uns abhanden kommt, weder sehen noch verstehen; aber auch dem bloß starr zurück Schauenden wird die gegenwärtige Not nicht verständlich.
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Autorenporträt
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände "Mikado" (2006), "Die Unbeholfenen" (Bewußtseinsnovelle, 2007), "Vom Aufenthalt" (2009), "Sie/Er" (Erzählungen, 2012), "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (Aufsätze, 2012), "Die Fabeln von der Begegnung" (2013), "Kongress" (Die Kette der Demütigungen, 2013), "Allein mit allen" (Gedankenbuch, 2014), "Herkunft" (2014), "Oniritti Höhlenbilder" (2016), "zu oft umsonst gelächelt" (2019) und "Nicht mehr. Mehr nicht" (Chiffren für sie, 2021).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2004

Das schönere Nichtmehr
Auf wilder Jagd: Botho Strauß aktiviert das Präteritum-Gen

Gesten der Erschöpfung" möchte er sehen: "ich kann diese skrupellose Geschwindigkeit um mich herum nicht mehr aushalten." Das ist nicht neu. Lange schon hat Botho Strauß wenn auch nicht gerade Mitstreiter, so doch zumindest Mitleidende gefunden. Aber wer hätte gedacht, daß dieser Wunsch schon im Jahr 1975 formuliert wurde? Das Leiden an der gefühlten Beschleunigung unserer Lebenswelt ist innerhalb der letzten drei Jahrzehnte längst zum Gemeinplatz verkommen. Was der Seismograph gestern erspürte, das leise Zittern, mit dem sich ein Erdbeben ankündigt, begräbt heute die Massen unter sich. Vor dreißig, vierzig Jahren, so heißt es im neuen Buch von Botho Strauß, herrschte eine "Gestimmtheit der Angst", die der Autor auf den Schrecken der Kernspaltung, den Ölschock und anderes zurückführt. "Inzwischen überwiegt allgemein eine Gestimmtheit, die einerseits von Funktionslust, von großer Weltbeholfenheit geprägt ist, andererseits von großer Enttäuschung. Denn das meiste ward nicht, wie es versprach zu werden."

Aber stimmt das überhaupt? Speist sich die Enttäuschung, die Botho Strauß zu Recht konstatiert, tatsächlich aus dem Ausbleiben befürchteter Katastrophen? Wohl kaum. So präzise und leichthändig dieser Autor das Aroma unserer Zeit mit den Begriffen "Funktionslust" und "Weltbeholfenheit" auf den Punkt bringt, so leichtfertig geht es weiter. Die Nachlässigkeit mag nicht zuletzt damit zu tun haben, daß Botho Strauß seines Amtes als Chronist unserer Befindlichkeiten und Attitüden gründlich müde geworden ist: "Die Stimmungen im Land ziehen dahin wie die Wolkenschatten über unsere Weide. Befindlichkeiten sondieren, das ist, als wollte einer Badeschaum an die Wand nageln."

Aber den Badeschaum an die Wand werfen und dann verfolgen, welche Muster sich ergeben, wenn er langsam und unaufhaltsam an den Kacheln entlang zu Boden gleitet, das geht noch, das läßt sich noch immer machen, und nur ganz selten kippt der Tonfall gepflegter Melancholie in düstere Depression. Botho Strauß leidet nicht mehr, wie er früher litt. Und mit dem Schmerz schwindet der Zorn. Gelassenheit macht sich breit, die mitunter in Zufriedenheit mündet. Sogar tiefes Einverständnis zeigt sich hier und dort, wenngleich es vor allem der Natur gilt. So läßt sich manches aushalten, auch wenn es bis zu jenem Zustand des "höchsten Bewußtseins", das zuletzt mit allem einverstanden ist, "einfach mit allem", noch ein weiter Weg sein muß.

Der Blick zurück auf die Revolten vergangener Tage relativiert auch die schärfsten Debatten der Gegenwart. Angesichts der Kritik an der Biotechnologie und ihren gewaltigen Herausforderungen erinnert Strauß an die ökologische Endzeitstimmung der siebziger und achtziger Jahre, als etwa ein Sammelband mit dem Titel "Bis hierher und nicht weiter" erschien. Das dem Buch Hiob entlehnte Wort erinnert ihn an gegenwärtige "Pathosformeln" im Kampf gegen die Allmachtsansprüche der Wissenschaft. Strauß betrachtet diese Auseinandersetzung wie eine längst geschlagene Schlacht, nach deren Ende Fortschrittsbegriff und Forscherdrang vor ihrer Neudefinition stehen: "Eines nicht zu fernen Tages werden die besten Köpfe nicht mehr erkennen wollen, was zuvor noch kein Mensch erkannt hat. Sie werden vielmehr von der Neugier gepackt, erkennen zu wollen, was einst der Mensch erkannte."

Genau diese Neugier aber ist es, die Botho Strauß antreibt. Seine Sehnsucht gilt der Vergangenheit oder vielmehr dem Vergangenen, und mit ungewohnter Offenheit kommentiert hier ein Autor seine Person, sein Werk und sogar seine Sprache. Womöglich, so wird auf den ersten Seiten des neuen Buches sinniert, hätten die vielen "sinnlichen Nichtmehrs seines Lebens", von der Schreibmaschine bis zum Fünfzig-Pfennig-Stück, seinen "natürlichen Gegenwartssinn getrübt" und ein "Präteritum-Gen aktiviert, so daß ich vieles von dem, was sich gerade um mich herum zutrug, unwillkürlich in der Vergangenheitsform erlebte ... Und so erkannte ich in allem, was jetzt ist, sein schöneres Nichtmehr."

Die wilde, verwegene Jagd nach dem schöneren Nichtmehr führt über Stock und Stein. Manches geht auf immer verloren, anderes widersteht dem Jäger lange Zeit und ergibt sich dann plötzlich und unverhofft seinem Drängen. Dann kann es passieren, daß der Jäger, der meistens mehr ein Findender als ein Suchender ist, eines Morgens, wenn er im Flurspiegel an sich vorübereilt, Camus darin erblickt. Es könnte genauso gut Eluard oder Max Ernst sein, der Autor ist nicht mehr als ein "durchlässiges Zwischengeweb", von den feinsten Beeinflussungen unentwegt konstituiert und wieder aufgelöst. Konsistenz, feste, unveränderliche Umrisse sind so nicht zu haben, aber Strauß läßt keinen Zweifel daran, daß er sein Sehnsuchtstreiben zu genießen weiß: "Täglich sich etwas unergründlich machen, das ist das Leben!"

Derlei Emphase ist selten, aber wo sie zutage tritt, läßt sie sich auch von den Dämonen des Fortschritts nicht vertreiben. Das Erschließbare am Menschen, ein unablässig wachsender Bereich, zu dem auch der Genomcode gehört, ist ihm weit weniger von Interesse als das Unerschließbare, ein Reich, dessen Ausmaß auch die "verwegensten Entschlüsselungen" nicht verkleinern können. Die Reserven des Unerschließbaren, des Unverfügbaren und Unveräußerlichen, so muß man Botho Strauß verstehen, sind endlos, und es ist nicht zuletzt diese der Gestimmtheit unserer Zeit so völlig zuwiderlaufende Zuversicht, die dieses Buch so erstaunlich macht.

An die Stelle hochfahrender Bocksgesänge sind intime Zwiegespräche und Demutsgesten getreten: "Im wesentlichen berichte ich den toten, den von mir geliebten Autoren, die unverständig aus mir herausblicken auf diese Welt, von den unerhörten Dingen, die sich dort zutragen. Dabei versuche ich mich in einer Sprache auszudrücken, die ihnen, wie ich hoffe, bekannt vorkommt. Jedoch, wenn man es stilistisch genau nähme, so fragt alles, wovon ich spreche. Es fragt an bei ihnen und ihrem alten Verstehen."

Wer es stilistisch genau nimmt mit diesem Autor, der weiß natürlich, daß das aktivierte Präteritum-Gen immer wieder unter dem Störfeuer der Gegenwartssprache zu leiden hat. Das Nebeneinander gezierter Wendungen und schrecklich schiefer Bilder, der edle hohe Ton, der rasant ins Triviale abstürzt, die zuweilen brachiale Kraftanstengung, mit der auch recht banale Erwägungen ins Korsett der Prätention geschnürt werden, all das kennt man nicht erst seit verwandten Werken wie "Wohnen Dämmern Lügen" (1994) oder "Das Partikular". Auch in "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" stößt man auf Sätze wie diesen: "Die Dinge verwirklichen ihr fading. Kaum etwas, das nicht schwände." Hier straft Strauß seinen eigenen Aphorismus, dem zufolge das Häßliche, nicht aber das Schöne zu verstehen sei, Lügen.

Aber in diesem Buch der Reflexion und der Prätention, der intensivsten Natur- und entspanntesten Selbstbetrachtung ist auch der Schlüssel zum Rätsel der verunglückten Formulierungen zu finden. In Anlehnung an das Goethewort, dem zufolge jedes Erbe erworben werden will, schreibt Botho Strauß: "Nicht mehr die Sehnsucht ist die aufs äußerste gespannte Saite, sondern zu haben, was man nicht ist, zerreißt den Erben/Lageristen fast." Das gilt auch und vielleicht gerade für die Sprache des neunzehnten Jahrhunderts und seiner Menschen, zu denen auch der Unzeitgemäße nicht gehören kann.

Max Ernst hätte sich nicht träumen lassen, daß eine der größten Bedrohungen der Menschheit einmal den Namen Castor tragen würde, als er das Brüderpaar malte und Pollux den Namen "Pollution" gab. Und auch die Umweltschützer, die den Regenwald bewahren wollten, konnten nicht ahnen, daß sich auf den abgeholzten Flächen ein Savannengras ansiedeln würde, das dem Treibhauseffekt entgegenarbeitet. Botho Strauß beschreibt dieses ökologische Paradox und setzt eine zarte Hoffnung auf den "hinterlistigen Kreuzschluß allen Gleichgewichts". Von dieser Dialektik der Unvernunft ist es gar nicht mehr so weit bis zur prästabilierten Harmonie. Führt der Weg des Botho Strauß also von Voltaires "Alles geht uns an" zum allumfassenden Einverständnis eines "höchsten Bewußtseins"? Wohl kaum. Wenn Botho Strauß Teixeira de Pascoaes zitiert - "Ein Gott, der sich zeigt, hat auf der Stelle einen Teufel, der über ihn lacht" -, dann weiß er, daß ein Lichtenberg nur auf einen solchen Satz gelauert hätte, um ihn umzudrehen: Kein Teufel kann sich zeigen, ohne daß nicht ein Gott ihn zu seinem gefallenen Engel erklärte.

Botho Strauß: "Der Untenstehende auf Zehenspitzen". Carl Hanser Verlag, München und Wien 2004. 169 S., geb., 17,90 [Euro].

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"Präzise und leichthändig bringt er das Aroma unserer Zeit auf den Punkt." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.04

"Das ist glänzende Kulturkritik... Botho Strauß muss wieder als Seismograf des intellektuellen Zeitgeistes gelten." Iris Radisch, Die Zeit / Literaturbeilage, 25.03.04

"Wieder setzt man sich, süchtig und erwartungsvoll über einen Band mit kurzer Prosa von Botho Strauss. Wieder wissend, dass man hingerissen und abgestossen, verstört und betört sein wird." Andreas Isenschmid, Neue Zürcher Zeitung, 21.03.04

"Botho Strauß ist der umfassendste Zeitdiagnostiker, den wir haben. Ein Glücksfall." Stephan Sattler, Focus, 15.03.04

"Der Anwalt der Gegenwärtigkeit [...] Sätze von lakonischer Klarsichtigkeit und zuweilen erschütternde Prägnanz, wie sie gegenwärtig kein anderer Autor deutscher Sprache schreibt." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 14.05.04

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Sie mag ihm gar nicht mehr widersprechen, stellt Iris Radisch gleichermaßen erstaunt wie besorgt fest, und doch, gesteht die Literaturkritikerin, beschleicht sie beim Lesen von Strauß' neuesten Notaten mit dem schönen Titel "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" leichte Ungeduld. Wer will Strauß' kulturkonservativem Lamento, seiner Untergangsklage, die er schon vor zehn Jahren in den "Bocksgesängen" zur Empörung vieler anstimmte, heute noch ernsthaft etwas entgegenhalten, fragt Radisch. Auch in seinem neusten Buch geht das Lamento weiter, bekennt sie, endlos sei die "Kette der Verfallserscheinungen", die Strauß aneinander reihe, und dennoch: messerscharfe Kulturanalyse und glänzende Fortschrittskritik, bekräftigt Radisch. Was sie stört, vielleicht auch langweilt, ist die Wiederholung der alten Rede, die "kalte" und "pompöse" Geste, mit der Strauß verkündet, was er immer schon verkündet hat. Das alles ist glänzend formuliert, gesteht Radisch zu, sozusagen in "Goldrand" gefasst, wodurch es sich zwar von der deutschen Durchschnittsprosa abhebe, aber eben auch nicht daran reibe, sondern steril bleibe. Die schönsten Passagen in dem Buch sind darum für Radisch diejenigen, wo Strauß gleichsam auf Zehenspitzen unter seinen Rotbuchen in der Uckermark steht und sich Sorgen um die Baumkronen macht. "Offenbar erkennen auch sie nicht, was höher ist als sie selbst", schreibt Radisch liebevoll spöttelnd.

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