Die "Welt von gestern", die mit dem Ersten Weltkrieg unterging, war voller innerer Widersprüche und äußerer Spannungen und erschien doch im Rückblick als verlorenes Paradies. Die Sieger dieser Geschichte sind oft genannt und gehört worden. Doch was war mit den Verlierern, und welches künftige Unheil war in der neuen Welt schon im Keim angelegt? Arne Karsten erzählt in seinem glänzend geschriebenen Buch eine andere Geschichte des großen Epochenumbruchs jenseits der hohen Politik.
Da ist zum Beispiel Stephanie Bachrach, die jugendliche Freundin Arthur Schnitzlers und geistsprühende Tochter eines jüdischen Börsenmaklers in Wien. Nach Bankrott und Selbstmord des Vaters tritt die einstige Millionenerbin im Krieg als Krankenschwester in den Spitaldienst ein und nimmt sich 1917 das Leben - wie soviele junge Frauen ihrer Generation, denen ihre vertraute Welt weggebrochen war. Ihr Schicksal hat Schnitzler mit sensibler Aufmerksamkeit verfolgt, wie er überhaupt ein brillanter Beobachter der gesellschaftlichen Krisen dieser Epoche war.
Neben diesen beiden lässt Arne Karsten eine Fülle anderer Zeugen auftreten - Diplomaten, Militärs, Politiker, Künstler der späten k. u. k. Monarchie - und webt so das dichte Bild einer schillernden Epoche, die nicht nur in Wien, sondern in ganz Europa das bürgerliche Zeitalter zu Grabe trug.
Da ist zum Beispiel Stephanie Bachrach, die jugendliche Freundin Arthur Schnitzlers und geistsprühende Tochter eines jüdischen Börsenmaklers in Wien. Nach Bankrott und Selbstmord des Vaters tritt die einstige Millionenerbin im Krieg als Krankenschwester in den Spitaldienst ein und nimmt sich 1917 das Leben - wie soviele junge Frauen ihrer Generation, denen ihre vertraute Welt weggebrochen war. Ihr Schicksal hat Schnitzler mit sensibler Aufmerksamkeit verfolgt, wie er überhaupt ein brillanter Beobachter der gesellschaftlichen Krisen dieser Epoche war.
Neben diesen beiden lässt Arne Karsten eine Fülle anderer Zeugen auftreten - Diplomaten, Militärs, Politiker, Künstler der späten k. u. k. Monarchie - und webt so das dichte Bild einer schillernden Epoche, die nicht nur in Wien, sondern in ganz Europa das bürgerliche Zeitalter zu Grabe trug.
Aufstieg und Untergang der Stephanie Bachrach
Bei Schnitzlers im Wiener Cottageviertel: Arne Karsten verklammert das Ende der Habsburger Monarchie mit der Rekonstruktion einer Frauenbiographie
"Ich bin ja so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann", klagt Fräulein Else in Arthur Schnitzlers gleichnamigem Stück. Zwar würden sich die Eltern mühen und für eine gute Erziehung sorgen. "Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr Euch darum je gekümmert?"
So wie es dem österreichischen Schriftsteller um das Innenleben seiner Protagonistin Else ging, so rückt Arne Karsten die Person in den Vordergrund seines Interesses, in der er das "Urbild" von "Fräulein Else" vermutet: Stephanie Bachrach. Als er, wie Karsten im Nachwort seines Buchs schildert, Anfang 2016 begann, die Tagebücher Schnitzlers aus den Jahren 1913 bis 1916 zu lesen, stolperte er immer wieder über ihren Namen. Schnell habe sich das Gefühl eingestellt, "dass hier ein historischer Stoff behandelt werden wollte". So kam es, dass der Wuppertaler Historiker, eigentlich ein Experte für die Frühe Neuzeit, sich daranmachte, ein Buch zu schreiben, dessen Struktur "dem Lebensweg der Stephanie Bachrach" folgt. Im Zentrum stehen dabei die Jahre zwischen 1911 und 1917, also die Zeit von der ersten Begegnung "Fräulein Bachrachs" mit Arthur Schnitzler bis zu ihrem Freitod.
Als gebildete Tochter eines zu Reichtum gekommenen jüdischen Börsenmaklers war die junge, attraktive Frau ein gern gesehener Gast in den Gesellschaftskreisen des vornehmen Wiener "Cottage-Viertels" und nicht zuletzt im Hause Schnitzler. Der Neunundvierzigjährige Schriftsteller schätzte die weniger als halb so alte Frau, schon weil sie ihm offenbar einen - vor allem - intellektuellen Resonanzraum bot, den er bei seinen stets mit Konkurrenzgefühlen beschäftigten Dichterkollegen nicht fand. "Stephis" Welt allerdings ging schon 1912 unter: Durch die Kursverluste infolge des ersten Balkankrieges erwiesen sich die Aktienkäufe des Vaters als Fehlinvestition. Vom Bankrott bedroht, nahm sich Julius Bachrach das Leben. Zwar sicherte eine kleine Rente Frau und Töchtern das Auskommen, aber der hohe Lebensstandard war dahin.
Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete sich Stephanie als "freiwillige Hilfspflegerin" beim Roten Kreuz. Das Wiener Spital, in dem sie tätig war, wurde im Sommer 1915 nach Lemberg verlegt, wo sie vollends mit der brutalen Seite des Kriegs konfrontiert wurde. Bis zum Frühjahr des Folgejahres hielt sie es aus, dann quittierte sie ihren Dienst. Inwiefern dabei die (von der Forschung immer noch unterschätzten) Traumatisierungen einer Krankenschwester im Kriegsdienst den Ausschlag gaben oder eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten Oberstabsarzt, bleibt unklar. Daheim ließ man sie jedenfalls spüren, dass die Affäre dem Renommee schädlich war.
Im Frühjahr 1917 bemühte Schnitzler vermehrt Begriffe wie "zerrüttet" oder "zerbrochen", wenn er Stephanies Zustand beschrieb, bis er am 17. Mai 1917 den Inhalt eines Telegramms wiedergab: "Stephi heute früh an Veronal Morphium Vergiftung gestorben." Von dem Charisma, das die junge Frau gehabt haben muss, zeugen nicht nur Schriften aus Schnitzlers Freundeskreis, sondern auch die Versuche, ihr in fiktionalen Texten ein Denkmal zu setzen. Sei es in einem unter Pseudonym geschriebenen Roman aus der Feder jenes Oberstabsarztes oder eben in Schnitzlers "Fräulein Else".
Die Faszination für diese Vita ist nachzuvollziehen. Doch leider tritt die Hauptfigur mangels Quellengrundlage und durch den überbordenden Versuch, ihre Geschichte zu kontextualisieren, in Arne Karstens Buch viel zu stark in den Hintergrund. Es ist eben ein problematisches Unterfangen, wenn man auf der Basis von nur zwei Briefen und einigen Postkarten, die Karsten als Ego-Dokumente der Protagonistin auftreiben konnte, und ansonsten ausschließlich auf die Außenperspektive angewiesen, "die Biographie eines Menschen" schreiben möchte. Zumal Karsten die Tagebucheinträge Schnitzlers, die seine Hauptquelle darstellen, verständlicherweise nicht nur wegen Stephanie Bachrach interessieren.
So wird das Buch über weite Strecken mehr zu einem Beitrag zur Wiener beziehungsweise deutschsprachigen Schriftstellerszene der Jahrhundertwende, in dem nicht nur Schnitzler, sondern auch Jakob Wassermann, Robert Musil oder Thomas Mann mit ausführlichen Zitaten zu Worte kommen. Dass deren zeitgenössische Schriften ebenso wie der Lebenslauf Stephanies nur zu verstehen sind vor dem Hintergrund der politischen Situation zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ist selbstverständlich. Ebenso wie die Notwendigkeit, sich bei der Rekonstruktion des Kontextes nicht allein auf Schnitzler zu verlassen, zumal dieser über lange Strecken seine Distanz zur Politik schon dadurch zum Ausdruck brachte, dass er die Hinweise dazu in seinem Tagebuch in Klammern setzte. So führt die breite Hinzuziehung nicht nur der Forschung zum Ersten Weltkrieg, sondern vor allem auch der Memoiren einiger Militärs und Diplomaten letztlich dazu, dass die Geschichte der Stephanie Bachrach untergeht in einer im Vergleich zu mächtigen Rekonstruktion der Geschichte des Ersten Weltkriegs beziehungsweise der österreichisch-ungarischen Geschichte.
Basierend vor allem auf den Werken von Christopher Clark, Holger Afflerbach und Konrad Canis zum Kriegsausbruch, dem Dreibund und der Politik Österreich-Ungarns erinnert Karsten noch einmal an die Bedeutung der italienischen Kolonialpolitik und die Expansionsgelüste Serbiens als Faktoren des Kriegsausbruchs und an die Problematik des österreich-ungarischen Vielvölkerstaats im aufkommenden Nationalismus. Dieser wird lebendig dargestellt in den ausführlichen Abschnitten über nationale Stereotypen und die wechselseitigen Feindbilder von Deutschen und Briten. Die Anschaulichkeit des Textes resultiert nicht zuletzt daraus, dass Karsten immer wieder politischen Akteuren, aber auch Literaten das Wort erteilt, deren Werke er resümiert oder aus denen er zitiert. Damit aber handelt er sich weitere gravierende Probleme ein. Erstens ist das Buch wegen des wechselnden Fokus weder ein substantieller Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs noch zur Schnitzler-Forschung. Zweitens hätte die Heranziehung fiktionaler Texte zur Illustration historiographischer Betrachtungen doch zumindest einige methodische Überlegungen verdient.
Inwiefern Schnitzlers "literarisches Werk als Mittel historischer Erkenntnis fruchtbar" gemacht werden kann, ist auch nach der Lektüre nicht klar. Auf jeden Fall aber ist es anregend, Schnitzler bei der literarischen, messerscharfen Sektion der menschlichen Psyche zu folgen und aus dem Tagebuch herauszulesen, wie sehr er sich sämtlichen Schwarzweißmalereien entzog. Bei allen Fragen, die Karstens Buch aufwirft, steht so am Ende doch eine klare Erkenntnis: Man müsste mal wieder Schnitzler lesen.
BIRGIT ASCHMANN
Arne Karsten: "Der Untergang der Welt von gestern". Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919.
C. H. Beck Verlag,
München 2019.
269 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei Schnitzlers im Wiener Cottageviertel: Arne Karsten verklammert das Ende der Habsburger Monarchie mit der Rekonstruktion einer Frauenbiographie
"Ich bin ja so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann", klagt Fräulein Else in Arthur Schnitzlers gleichnamigem Stück. Zwar würden sich die Eltern mühen und für eine gute Erziehung sorgen. "Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr Euch darum je gekümmert?"
So wie es dem österreichischen Schriftsteller um das Innenleben seiner Protagonistin Else ging, so rückt Arne Karsten die Person in den Vordergrund seines Interesses, in der er das "Urbild" von "Fräulein Else" vermutet: Stephanie Bachrach. Als er, wie Karsten im Nachwort seines Buchs schildert, Anfang 2016 begann, die Tagebücher Schnitzlers aus den Jahren 1913 bis 1916 zu lesen, stolperte er immer wieder über ihren Namen. Schnell habe sich das Gefühl eingestellt, "dass hier ein historischer Stoff behandelt werden wollte". So kam es, dass der Wuppertaler Historiker, eigentlich ein Experte für die Frühe Neuzeit, sich daranmachte, ein Buch zu schreiben, dessen Struktur "dem Lebensweg der Stephanie Bachrach" folgt. Im Zentrum stehen dabei die Jahre zwischen 1911 und 1917, also die Zeit von der ersten Begegnung "Fräulein Bachrachs" mit Arthur Schnitzler bis zu ihrem Freitod.
Als gebildete Tochter eines zu Reichtum gekommenen jüdischen Börsenmaklers war die junge, attraktive Frau ein gern gesehener Gast in den Gesellschaftskreisen des vornehmen Wiener "Cottage-Viertels" und nicht zuletzt im Hause Schnitzler. Der Neunundvierzigjährige Schriftsteller schätzte die weniger als halb so alte Frau, schon weil sie ihm offenbar einen - vor allem - intellektuellen Resonanzraum bot, den er bei seinen stets mit Konkurrenzgefühlen beschäftigten Dichterkollegen nicht fand. "Stephis" Welt allerdings ging schon 1912 unter: Durch die Kursverluste infolge des ersten Balkankrieges erwiesen sich die Aktienkäufe des Vaters als Fehlinvestition. Vom Bankrott bedroht, nahm sich Julius Bachrach das Leben. Zwar sicherte eine kleine Rente Frau und Töchtern das Auskommen, aber der hohe Lebensstandard war dahin.
Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete sich Stephanie als "freiwillige Hilfspflegerin" beim Roten Kreuz. Das Wiener Spital, in dem sie tätig war, wurde im Sommer 1915 nach Lemberg verlegt, wo sie vollends mit der brutalen Seite des Kriegs konfrontiert wurde. Bis zum Frühjahr des Folgejahres hielt sie es aus, dann quittierte sie ihren Dienst. Inwiefern dabei die (von der Forschung immer noch unterschätzten) Traumatisierungen einer Krankenschwester im Kriegsdienst den Ausschlag gaben oder eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten Oberstabsarzt, bleibt unklar. Daheim ließ man sie jedenfalls spüren, dass die Affäre dem Renommee schädlich war.
Im Frühjahr 1917 bemühte Schnitzler vermehrt Begriffe wie "zerrüttet" oder "zerbrochen", wenn er Stephanies Zustand beschrieb, bis er am 17. Mai 1917 den Inhalt eines Telegramms wiedergab: "Stephi heute früh an Veronal Morphium Vergiftung gestorben." Von dem Charisma, das die junge Frau gehabt haben muss, zeugen nicht nur Schriften aus Schnitzlers Freundeskreis, sondern auch die Versuche, ihr in fiktionalen Texten ein Denkmal zu setzen. Sei es in einem unter Pseudonym geschriebenen Roman aus der Feder jenes Oberstabsarztes oder eben in Schnitzlers "Fräulein Else".
Die Faszination für diese Vita ist nachzuvollziehen. Doch leider tritt die Hauptfigur mangels Quellengrundlage und durch den überbordenden Versuch, ihre Geschichte zu kontextualisieren, in Arne Karstens Buch viel zu stark in den Hintergrund. Es ist eben ein problematisches Unterfangen, wenn man auf der Basis von nur zwei Briefen und einigen Postkarten, die Karsten als Ego-Dokumente der Protagonistin auftreiben konnte, und ansonsten ausschließlich auf die Außenperspektive angewiesen, "die Biographie eines Menschen" schreiben möchte. Zumal Karsten die Tagebucheinträge Schnitzlers, die seine Hauptquelle darstellen, verständlicherweise nicht nur wegen Stephanie Bachrach interessieren.
So wird das Buch über weite Strecken mehr zu einem Beitrag zur Wiener beziehungsweise deutschsprachigen Schriftstellerszene der Jahrhundertwende, in dem nicht nur Schnitzler, sondern auch Jakob Wassermann, Robert Musil oder Thomas Mann mit ausführlichen Zitaten zu Worte kommen. Dass deren zeitgenössische Schriften ebenso wie der Lebenslauf Stephanies nur zu verstehen sind vor dem Hintergrund der politischen Situation zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ist selbstverständlich. Ebenso wie die Notwendigkeit, sich bei der Rekonstruktion des Kontextes nicht allein auf Schnitzler zu verlassen, zumal dieser über lange Strecken seine Distanz zur Politik schon dadurch zum Ausdruck brachte, dass er die Hinweise dazu in seinem Tagebuch in Klammern setzte. So führt die breite Hinzuziehung nicht nur der Forschung zum Ersten Weltkrieg, sondern vor allem auch der Memoiren einiger Militärs und Diplomaten letztlich dazu, dass die Geschichte der Stephanie Bachrach untergeht in einer im Vergleich zu mächtigen Rekonstruktion der Geschichte des Ersten Weltkriegs beziehungsweise der österreichisch-ungarischen Geschichte.
Basierend vor allem auf den Werken von Christopher Clark, Holger Afflerbach und Konrad Canis zum Kriegsausbruch, dem Dreibund und der Politik Österreich-Ungarns erinnert Karsten noch einmal an die Bedeutung der italienischen Kolonialpolitik und die Expansionsgelüste Serbiens als Faktoren des Kriegsausbruchs und an die Problematik des österreich-ungarischen Vielvölkerstaats im aufkommenden Nationalismus. Dieser wird lebendig dargestellt in den ausführlichen Abschnitten über nationale Stereotypen und die wechselseitigen Feindbilder von Deutschen und Briten. Die Anschaulichkeit des Textes resultiert nicht zuletzt daraus, dass Karsten immer wieder politischen Akteuren, aber auch Literaten das Wort erteilt, deren Werke er resümiert oder aus denen er zitiert. Damit aber handelt er sich weitere gravierende Probleme ein. Erstens ist das Buch wegen des wechselnden Fokus weder ein substantieller Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs noch zur Schnitzler-Forschung. Zweitens hätte die Heranziehung fiktionaler Texte zur Illustration historiographischer Betrachtungen doch zumindest einige methodische Überlegungen verdient.
Inwiefern Schnitzlers "literarisches Werk als Mittel historischer Erkenntnis fruchtbar" gemacht werden kann, ist auch nach der Lektüre nicht klar. Auf jeden Fall aber ist es anregend, Schnitzler bei der literarischen, messerscharfen Sektion der menschlichen Psyche zu folgen und aus dem Tagebuch herauszulesen, wie sehr er sich sämtlichen Schwarzweißmalereien entzog. Bei allen Fragen, die Karstens Buch aufwirft, steht so am Ende doch eine klare Erkenntnis: Man müsste mal wieder Schnitzler lesen.
BIRGIT ASCHMANN
Arne Karsten: "Der Untergang der Welt von gestern". Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919.
C. H. Beck Verlag,
München 2019.
269 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2019Aufstieg und Untergang der Stephanie Bachrach
Bei Schnitzlers im Wiener Cottageviertel: Arne Karsten verklammert das Ende der Habsburger Monarchie mit der Rekonstruktion einer Frauenbiographie
"Ich bin ja so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann", klagt Fräulein Else in Arthur Schnitzlers gleichnamigem Stück. Zwar würden sich die Eltern mühen und für eine gute Erziehung sorgen. "Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr Euch darum je gekümmert?"
So wie es dem österreichischen Schriftsteller um das Innenleben seiner Protagonistin Else ging, so rückt Arne Karsten die Person in den Vordergrund seines Interesses, in der er das "Urbild" von "Fräulein Else" vermutet: Stephanie Bachrach. Als er, wie Karsten im Nachwort seines Buchs schildert, Anfang 2016 begann, die Tagebücher Schnitzlers aus den Jahren 1913 bis 1916 zu lesen, stolperte er immer wieder über ihren Namen. Schnell habe sich das Gefühl eingestellt, "dass hier ein historischer Stoff behandelt werden wollte". So kam es, dass der Wuppertaler Historiker, eigentlich ein Experte für die Frühe Neuzeit, sich daranmachte, ein Buch zu schreiben, dessen Struktur "dem Lebensweg der Stephanie Bachrach" folgt. Im Zentrum stehen dabei die Jahre zwischen 1911 und 1917, also die Zeit von der ersten Begegnung "Fräulein Bachrachs" mit Arthur Schnitzler bis zu ihrem Freitod.
Als gebildete Tochter eines zu Reichtum gekommenen jüdischen Börsenmaklers war die junge, attraktive Frau ein gern gesehener Gast in den Gesellschaftskreisen des vornehmen Wiener "Cottage-Viertels" und nicht zuletzt im Hause Schnitzler. Der Neunundvierzigjährige Schriftsteller schätzte die weniger als halb so alte Frau, schon weil sie ihm offenbar einen - vor allem - intellektuellen Resonanzraum bot, den er bei seinen stets mit Konkurrenzgefühlen beschäftigten Dichterkollegen nicht fand. "Stephis" Welt allerdings ging schon 1912 unter: Durch die Kursverluste infolge des ersten Balkankrieges erwiesen sich die Aktienkäufe des Vaters als Fehlinvestition. Vom Bankrott bedroht, nahm sich Julius Bachrach das Leben. Zwar sicherte eine kleine Rente Frau und Töchtern das Auskommen, aber der hohe Lebensstandard war dahin.
Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete sich Stephanie als "freiwillige Hilfspflegerin" beim Roten Kreuz. Das Wiener Spital, in dem sie tätig war, wurde im Sommer 1915 nach Lemberg verlegt, wo sie vollends mit der brutalen Seite des Kriegs konfrontiert wurde. Bis zum Frühjahr des Folgejahres hielt sie es aus, dann quittierte sie ihren Dienst. Inwiefern dabei die (von der Forschung immer noch unterschätzten) Traumatisierungen einer Krankenschwester im Kriegsdienst den Ausschlag gaben oder eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten Oberstabsarzt, bleibt unklar. Daheim ließ man sie jedenfalls spüren, dass die Affäre dem Renommee schädlich war.
Im Frühjahr 1917 bemühte Schnitzler vermehrt Begriffe wie "zerrüttet" oder "zerbrochen", wenn er Stephanies Zustand beschrieb, bis er am 17. Mai 1917 den Inhalt eines Telegramms wiedergab: "Stephi heute früh an Veronal Morphium Vergiftung gestorben." Von dem Charisma, das die junge Frau gehabt haben muss, zeugen nicht nur Schriften aus Schnitzlers Freundeskreis, sondern auch die Versuche, ihr in fiktionalen Texten ein Denkmal zu setzen. Sei es in einem unter Pseudonym geschriebenen Roman aus der Feder jenes Oberstabsarztes oder eben in Schnitzlers "Fräulein Else".
Die Faszination für diese Vita ist nachzuvollziehen. Doch leider tritt die Hauptfigur mangels Quellengrundlage und durch den überbordenden Versuch, ihre Geschichte zu kontextualisieren, in Arne Karstens Buch viel zu stark in den Hintergrund. Es ist eben ein problematisches Unterfangen, wenn man auf der Basis von nur zwei Briefen und einigen Postkarten, die Karsten als Ego-Dokumente der Protagonistin auftreiben konnte, und ansonsten ausschließlich auf die Außenperspektive angewiesen, "die Biographie eines Menschen" schreiben möchte. Zumal Karsten die Tagebucheinträge Schnitzlers, die seine Hauptquelle darstellen, verständlicherweise nicht nur wegen Stephanie Bachrach interessieren.
So wird das Buch über weite Strecken mehr zu einem Beitrag zur Wiener beziehungsweise deutschsprachigen Schriftstellerszene der Jahrhundertwende, in dem nicht nur Schnitzler, sondern auch Jakob Wassermann, Robert Musil oder Thomas Mann mit ausführlichen Zitaten zu Worte kommen. Dass deren zeitgenössische Schriften ebenso wie der Lebenslauf Stephanies nur zu verstehen sind vor dem Hintergrund der politischen Situation zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ist selbstverständlich. Ebenso wie die Notwendigkeit, sich bei der Rekonstruktion des Kontextes nicht allein auf Schnitzler zu verlassen, zumal dieser über lange Strecken seine Distanz zur Politik schon dadurch zum Ausdruck brachte, dass er die Hinweise dazu in seinem Tagebuch in Klammern setzte. So führt die breite Hinzuziehung nicht nur der Forschung zum Ersten Weltkrieg, sondern vor allem auch der Memoiren einiger Militärs und Diplomaten letztlich dazu, dass die Geschichte der Stephanie Bachrach untergeht in einer im Vergleich zu mächtigen Rekonstruktion der Geschichte des Ersten Weltkriegs beziehungsweise der österreichisch-ungarischen Geschichte.
Basierend vor allem auf den Werken von Christopher Clark, Holger Afflerbach und Konrad Canis zum Kriegsausbruch, dem Dreibund und der Politik Österreich-Ungarns erinnert Karsten noch einmal an die Bedeutung der italienischen Kolonialpolitik und die Expansionsgelüste Serbiens als Faktoren des Kriegsausbruchs und an die Problematik des österreich-ungarischen Vielvölkerstaats im aufkommenden Nationalismus. Dieser wird lebendig dargestellt in den ausführlichen Abschnitten über nationale Stereotypen und die wechselseitigen Feindbilder von Deutschen und Briten. Die Anschaulichkeit des Textes resultiert nicht zuletzt daraus, dass Karsten immer wieder politischen Akteuren, aber auch Literaten das Wort erteilt, deren Werke er resümiert oder aus denen er zitiert. Damit aber handelt er sich weitere gravierende Probleme ein. Erstens ist das Buch wegen des wechselnden Fokus weder ein substantieller Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs noch zur Schnitzler-Forschung. Zweitens hätte die Heranziehung fiktionaler Texte zur Illustration historiographischer Betrachtungen doch zumindest einige methodische Überlegungen verdient.
Inwiefern Schnitzlers "literarisches Werk als Mittel historischer Erkenntnis fruchtbar" gemacht werden kann, ist auch nach der Lektüre nicht klar. Auf jeden Fall aber ist es anregend, Schnitzler bei der literarischen, messerscharfen Sektion der menschlichen Psyche zu folgen und aus dem Tagebuch herauszulesen, wie sehr er sich sämtlichen Schwarzweißmalereien entzog. Bei allen Fragen, die Karstens Buch aufwirft, steht so am Ende doch eine klare Erkenntnis: Man müsste mal wieder Schnitzler lesen.
BIRGIT ASCHMANN
Arne Karsten: "Der Untergang der Welt von gestern". Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919.
C. H. Beck Verlag,
München 2019.
269 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei Schnitzlers im Wiener Cottageviertel: Arne Karsten verklammert das Ende der Habsburger Monarchie mit der Rekonstruktion einer Frauenbiographie
"Ich bin ja so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann", klagt Fräulein Else in Arthur Schnitzlers gleichnamigem Stück. Zwar würden sich die Eltern mühen und für eine gute Erziehung sorgen. "Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr Euch darum je gekümmert?"
So wie es dem österreichischen Schriftsteller um das Innenleben seiner Protagonistin Else ging, so rückt Arne Karsten die Person in den Vordergrund seines Interesses, in der er das "Urbild" von "Fräulein Else" vermutet: Stephanie Bachrach. Als er, wie Karsten im Nachwort seines Buchs schildert, Anfang 2016 begann, die Tagebücher Schnitzlers aus den Jahren 1913 bis 1916 zu lesen, stolperte er immer wieder über ihren Namen. Schnell habe sich das Gefühl eingestellt, "dass hier ein historischer Stoff behandelt werden wollte". So kam es, dass der Wuppertaler Historiker, eigentlich ein Experte für die Frühe Neuzeit, sich daranmachte, ein Buch zu schreiben, dessen Struktur "dem Lebensweg der Stephanie Bachrach" folgt. Im Zentrum stehen dabei die Jahre zwischen 1911 und 1917, also die Zeit von der ersten Begegnung "Fräulein Bachrachs" mit Arthur Schnitzler bis zu ihrem Freitod.
Als gebildete Tochter eines zu Reichtum gekommenen jüdischen Börsenmaklers war die junge, attraktive Frau ein gern gesehener Gast in den Gesellschaftskreisen des vornehmen Wiener "Cottage-Viertels" und nicht zuletzt im Hause Schnitzler. Der Neunundvierzigjährige Schriftsteller schätzte die weniger als halb so alte Frau, schon weil sie ihm offenbar einen - vor allem - intellektuellen Resonanzraum bot, den er bei seinen stets mit Konkurrenzgefühlen beschäftigten Dichterkollegen nicht fand. "Stephis" Welt allerdings ging schon 1912 unter: Durch die Kursverluste infolge des ersten Balkankrieges erwiesen sich die Aktienkäufe des Vaters als Fehlinvestition. Vom Bankrott bedroht, nahm sich Julius Bachrach das Leben. Zwar sicherte eine kleine Rente Frau und Töchtern das Auskommen, aber der hohe Lebensstandard war dahin.
Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete sich Stephanie als "freiwillige Hilfspflegerin" beim Roten Kreuz. Das Wiener Spital, in dem sie tätig war, wurde im Sommer 1915 nach Lemberg verlegt, wo sie vollends mit der brutalen Seite des Kriegs konfrontiert wurde. Bis zum Frühjahr des Folgejahres hielt sie es aus, dann quittierte sie ihren Dienst. Inwiefern dabei die (von der Forschung immer noch unterschätzten) Traumatisierungen einer Krankenschwester im Kriegsdienst den Ausschlag gaben oder eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten Oberstabsarzt, bleibt unklar. Daheim ließ man sie jedenfalls spüren, dass die Affäre dem Renommee schädlich war.
Im Frühjahr 1917 bemühte Schnitzler vermehrt Begriffe wie "zerrüttet" oder "zerbrochen", wenn er Stephanies Zustand beschrieb, bis er am 17. Mai 1917 den Inhalt eines Telegramms wiedergab: "Stephi heute früh an Veronal Morphium Vergiftung gestorben." Von dem Charisma, das die junge Frau gehabt haben muss, zeugen nicht nur Schriften aus Schnitzlers Freundeskreis, sondern auch die Versuche, ihr in fiktionalen Texten ein Denkmal zu setzen. Sei es in einem unter Pseudonym geschriebenen Roman aus der Feder jenes Oberstabsarztes oder eben in Schnitzlers "Fräulein Else".
Die Faszination für diese Vita ist nachzuvollziehen. Doch leider tritt die Hauptfigur mangels Quellengrundlage und durch den überbordenden Versuch, ihre Geschichte zu kontextualisieren, in Arne Karstens Buch viel zu stark in den Hintergrund. Es ist eben ein problematisches Unterfangen, wenn man auf der Basis von nur zwei Briefen und einigen Postkarten, die Karsten als Ego-Dokumente der Protagonistin auftreiben konnte, und ansonsten ausschließlich auf die Außenperspektive angewiesen, "die Biographie eines Menschen" schreiben möchte. Zumal Karsten die Tagebucheinträge Schnitzlers, die seine Hauptquelle darstellen, verständlicherweise nicht nur wegen Stephanie Bachrach interessieren.
So wird das Buch über weite Strecken mehr zu einem Beitrag zur Wiener beziehungsweise deutschsprachigen Schriftstellerszene der Jahrhundertwende, in dem nicht nur Schnitzler, sondern auch Jakob Wassermann, Robert Musil oder Thomas Mann mit ausführlichen Zitaten zu Worte kommen. Dass deren zeitgenössische Schriften ebenso wie der Lebenslauf Stephanies nur zu verstehen sind vor dem Hintergrund der politischen Situation zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ist selbstverständlich. Ebenso wie die Notwendigkeit, sich bei der Rekonstruktion des Kontextes nicht allein auf Schnitzler zu verlassen, zumal dieser über lange Strecken seine Distanz zur Politik schon dadurch zum Ausdruck brachte, dass er die Hinweise dazu in seinem Tagebuch in Klammern setzte. So führt die breite Hinzuziehung nicht nur der Forschung zum Ersten Weltkrieg, sondern vor allem auch der Memoiren einiger Militärs und Diplomaten letztlich dazu, dass die Geschichte der Stephanie Bachrach untergeht in einer im Vergleich zu mächtigen Rekonstruktion der Geschichte des Ersten Weltkriegs beziehungsweise der österreichisch-ungarischen Geschichte.
Basierend vor allem auf den Werken von Christopher Clark, Holger Afflerbach und Konrad Canis zum Kriegsausbruch, dem Dreibund und der Politik Österreich-Ungarns erinnert Karsten noch einmal an die Bedeutung der italienischen Kolonialpolitik und die Expansionsgelüste Serbiens als Faktoren des Kriegsausbruchs und an die Problematik des österreich-ungarischen Vielvölkerstaats im aufkommenden Nationalismus. Dieser wird lebendig dargestellt in den ausführlichen Abschnitten über nationale Stereotypen und die wechselseitigen Feindbilder von Deutschen und Briten. Die Anschaulichkeit des Textes resultiert nicht zuletzt daraus, dass Karsten immer wieder politischen Akteuren, aber auch Literaten das Wort erteilt, deren Werke er resümiert oder aus denen er zitiert. Damit aber handelt er sich weitere gravierende Probleme ein. Erstens ist das Buch wegen des wechselnden Fokus weder ein substantieller Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs noch zur Schnitzler-Forschung. Zweitens hätte die Heranziehung fiktionaler Texte zur Illustration historiographischer Betrachtungen doch zumindest einige methodische Überlegungen verdient.
Inwiefern Schnitzlers "literarisches Werk als Mittel historischer Erkenntnis fruchtbar" gemacht werden kann, ist auch nach der Lektüre nicht klar. Auf jeden Fall aber ist es anregend, Schnitzler bei der literarischen, messerscharfen Sektion der menschlichen Psyche zu folgen und aus dem Tagebuch herauszulesen, wie sehr er sich sämtlichen Schwarzweißmalereien entzog. Bei allen Fragen, die Karstens Buch aufwirft, steht so am Ende doch eine klare Erkenntnis: Man müsste mal wieder Schnitzler lesen.
BIRGIT ASCHMANN
Arne Karsten: "Der Untergang der Welt von gestern". Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919.
C. H. Beck Verlag,
München 2019.
269 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Liest sich wie ein großer, atmosphärischer Essay, der vor allem Stimmungen und Bilder erzeugt."
Historische Zeitschrift, Verena Moritz
"Ein kenntnisreiches Buch."
Tagesspiegel, Bernhard Schulz
"Es gelingt dem Autor eindrucksvoll, die Arbeiten und autobiographischen Schriften Arthur Schnitzlers (vor allem die Tagebücher!) als Mittel historischer Erkenntnis fruchtbar zu machen."
Bücherschau, Simon Berger
"Bei Schnitzlers im Wiener Cottageviertel: Arne Karsten verklammert das Ende der Habsburger Monarchie mit der Rekonstruktion einer Frauenbiographie."
Birgit Aschmann
"Arne Karsten hat in großer Klarheit Zeit und Umwelt, Poltik und Soziologie der Epoche analysiert"
Online Merker, Renate Wagner
Historische Zeitschrift, Verena Moritz
"Ein kenntnisreiches Buch."
Tagesspiegel, Bernhard Schulz
"Es gelingt dem Autor eindrucksvoll, die Arbeiten und autobiographischen Schriften Arthur Schnitzlers (vor allem die Tagebücher!) als Mittel historischer Erkenntnis fruchtbar zu machen."
Bücherschau, Simon Berger
"Bei Schnitzlers im Wiener Cottageviertel: Arne Karsten verklammert das Ende der Habsburger Monarchie mit der Rekonstruktion einer Frauenbiographie."
Birgit Aschmann
"Arne Karsten hat in großer Klarheit Zeit und Umwelt, Poltik und Soziologie der Epoche analysiert"
Online Merker, Renate Wagner