In einem großen Buch, das nun endlich in deutscher Übersetzung erscheint, nimmt Hubert Damisch sich vor, was er als das wichtigste Merkmal der abendländischen Malerei betrachtet: das in der Renaissance entwickelte System der Zentralperspektive. Weshalb hört dieses kunsthistorische und kulturtechnische Dispositiv nicht auf, uns zu beschäftigen? Die Perspektive ist weit mehr als ein bloßes technisches Hilfsmittel des Malers, das die Renaissance »erfunden« hat: Sie ist ein Paradigma, ein Denkmodell mit weitreichenden Konsequenzen. Damischs kühnes Vorhaben ist es, nicht nur eine Geschichte oder Theorie der Perspektive zu schreiben, sondern ein Modell für die künftige Theorie und Praxis der Kunstgeschichte zu entwickeln und an die epistemologische Basis einer ganzen Disziplin zu rühren. In einer fruchtbaren Verbindung von Erwin Panofskys Werk und Lacans psychoanalytischem Strukturalismus, in detaillierten Analysen etwa der drei »Idealstädte« geht Hubert Damisch der Frage nach, welches in der »geometrisch« genannten Perspektive, entstanden im Italien des Quattrocento, der Ort des Subjekts ist und inwiefern sich im Dispositiv des Brunelleschi die heutige Auffassung der Wahrnehmung von Welt konstituiert.
»Ein radikaler Ansatz« (Christopher S. Wood), eine tiefgehende Reflexion über die Perspektive als Gegenstand des Wissens und als Gegenstand des Denkens - ein nicht nur für die Kunstgeschichte bahnbrechendes Werk.
»Ein radikaler Ansatz« (Christopher S. Wood), eine tiefgehende Reflexion über die Perspektive als Gegenstand des Wissens und als Gegenstand des Denkens - ein nicht nur für die Kunstgeschichte bahnbrechendes Werk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2010Nach Florenz mit Dr. Lacan
Wie man die Erfindung der Perspektive in der Malerei tief denken kann: Hubert Damisch entdeckt das Subjekt hinter den Bildern und lässt beiseite, dass es auch ganz gut ohne exakten Fluchtpunkt ging.
Es ist einfach so, dass führende Kunsthistoriker irgendwann ihr Statement zum Thema Perspektive abgeben müssen. Die männliche Form ist bewusst gewählt: Kunsthistorikerinnen wählen dieses Fach entweder früh ab oder schmälern es als eine typisch männliche Form der Weltbeherrschung. Der Schlüsseltext dieser Branche ist der 1924/25 publizierte Aufsatz von Erwin Panofsky "Perspektive als symbolische Form": Er spaltete das Feld in zwei Lager. Auf der einen Seite agieren die Anhänger der darstellenden Geometrie, der minutiösen Nachbearbeitung perspektivischer Konstruktionen und vor allem der Mängelrügen. Gegenüber stehen die Gelehrten, die Perspektive eben als symbolische Form begreifen, als Dispositiv der Dar- und Vorstellung, als quasitranszendentale Konstruktion.
Zu letzterer Gruppe gehört der Autor des vorliegenden Buches. Er lässt kein gutes Haar an allen positivistischen und wissenschaftsgeschichtlichen Annäherungen an das Thema, wirft ihnen vor, sie würden Perspektive als realistisches, referentielles Kunstmittel verstehen - und Schlimmeres kann man heute Kollegen nicht nachsagen, das ist schon gerichtsverwertbar. Er dagegen hält Perspektive für eine Denkform, vergleichbar nur mit den epistemologischen Wenden von Descartes und Kant.
Hubert Damisch, Jahrgang 1928, Professor an der École des Hautes Études, ist einer der führenden Semiologen auf dem Gebiet der Künste. Den Plural gilt es dabei zu unterstreichen: Er hat über Fotografie und Film genauso gearbeitet wie über Malerei und Architektur. Bekannt wurde er durch das schöne Buch "Theorie der Wolken" (1972); der "Ursprung der Perspektive" liegt seit 1987 auf Französisch, seit 1994 auf Englisch und jetzt in der verlässlichen Übersetzung von Heinz Jatho auf Deutsch vor. Der Übersetzer ist mit großer Geduld den aufhaltsamen und rekurrenten Gedankengängen Damischs gefolgt. Gombrich hat einmal gesagt, Perspektive gäbe es, weil wir nicht um die Ecke schauen können. Damisch kann um die Ecke denken, er tut es unablässig, sich mit realen oder fiktiven Gegenargumenten auseinandersetzend - das ist der Stil des Pariser "Seminars", ein endloser Monolog, der sich als Denkprozess und Zwiesprache tarnt. Und doch liest man Damisch - in Dosen - nicht ungern, denn er versteht es, den Gegenstand der Perspektive zu denken: "ein(en) Gegenstand, der mehr Gedanken hervorrufen kann, als in ihm enthalten sind" (Merleau-Ponty), darunter - versteht sich - auch falsche.
"Perspektive ist wesentlich reflexiv und regulierend" - auf diesen beiden Prämissen baut Damisch seine Lesart von Perspektive auf, und für beide sucht er sich hohe Gewährsmänner außerhalb der Kunstwissenschaft. Den epistemologischen Charakter der Perspektive begreift er als eine Art Grammatik, welche die Äußerung eines Ich an ein Du organisiert. In dieser Hinsicht nimmt sich Damisch den Sprachwissenschaftler Émile Benveniste zum Paten. Sein großer Ehrgeiz ist es aber, die Psychoanalyse Jacques Lacans für seine Zwecke benutzen zu können.
Letzteres ist keine wirklich glückliche Wahl. Damisch reduziert die Darstellungsmethode der Perspektive auf den Fluchtpunkt, in dem bekanntlich alle Sehstrahlen zusammenlaufen und in dem sie den Betrachter "als Körper elidiert". Perspektive hat aber noch zwei weitere Koordinaten: Sie legt für das betrachtende Subjekt eine Höhe und einen Abstand fest, das heißt, sie adressiert den Betrachter dreifach, auch körperlich.
Als Semiologe ist Damisch an den pragmatischen Aspekten der Situierung des Kunstwerks im Raum des Rezipienten und an Letzterem in seiner Doppelrolle als impliziter und als realer Betrachter nicht wirklich interessiert. Das Hauptwerk der frühen Perspektivkunst, Masaccios Fresko der Trinität in Santa Maria Novella, behandelt Damisch nicht, aber bildet es ab, falsch allerdings, denn das untere Drittel, das bis zum Kirchenboden reicht, fehlt und mit ihm der gemalte Altar und das Memento mori des Skeletts. Dass die Perspektive reale Bedingungen respektieren und verarbeiten muss, ist Damisch nicht sehr wichtig.
Aber zurück zu den Referenzen: Wenn ich alles nur auf den Flucht- oder Ausgangspunkt festlege, kann ich schlecht die Psychoanalyse beanspruchen, die schließlich von einer Körper-Seele-Geist-Einheit ausgeht. Aber so wie Damisch auf das Verhältnis von realem Raum und dargestelltem Bildraum keinen Wert legt, so partiell führt er auch Lacans "symbolische Ordnung" und Perspektive zusammen. Die symbolische Ordnung ist das größere Äquivalent zur Grammatik und begreift diese mit ein, sie ist das Gesetz des Vaters und des Sozialen, als "Anderes" zwingt sie uns Regeln und Normen auf. Der Fluchtpunkt ist für Damisch eine Entität, die zurückschaut und mich als Betrachter konstituiert. Dort residiert das "große Andere", das Vis-à-vis des Subjekts immer schon da ist und auf uns wartet, ein bisschen so wie auf der Heide bei Buxtehude der Igel auf den Hasen.
In der Theorie macht das Sinn, was für die Franzosen bekanntlich das Entscheidende ist. Aber in der Realität, wenn wir diese nur mal kurz konsultieren dürfen, wie verhält es sich da? Schaut das Gemälde im und durch den Fluchtpunkt zurück? Damisch kommt darauf, weil für ihn das Perspektiv-Experiment Filippo Brunelleschis der alles entscheidende Gründungsakt ist. Er widmet ihm hundert Seiten. Der Architekt Brunelleschi soll auf Holz eine perspektivische Ansicht des Florentiner Baptisteriums angefertigt haben, die er im Fluchtpunkt durchlöcherte. Ein Betrachter, der von der Rückseite der Tafel durch das Loch auf einen vorgehaltenen Spiegel blickte, hätte die Macht dieses einen Punktes erfahren, "von dem sich das Auge nicht entfernen kann, ohne dass das Bild verzerrt erscheint", und er hätte von demselben Standort aus, von dem das Bild aufgenommen wurde, gesehen, wie sich die Perspektive des Bildes in der Realität fortsetzte.
Damisch ist aber ganz unzufrieden mit dem Einsatz des Spiegels als Korrektiv, für ihn ist der Zusammenfall, die "Koinzidenz" von Betrachterauge und Fluchtpunkt das Entscheidende: "Die Kraft der Perspektive . . . war derart, dass sich das Subjekt zunächst seiner selbst nur versichern kann, indem es sich auf der Rückseite der Malerei plazierte, sich hinter der Malerei auslöschte, um sie durch den von einem Loch durchbohrten Schirm des Gemäldes im Spiegel anzuvisieren." Das wäre also der reflexive Anteil des Paradigmas Perspektive, der Hand in Hand mit dem regulierenden geht. Der Nullpunkt einer Konstruktion, das Loch in der Rückseite würde zur Matrix der abendländischen Subjektivität. Höher geht's nicht.
Damit stützt er sein Hauptargument auf einen Versuch, eine Demonstration. Dort kommt der epistemologische Charakter seiner Auffassung von Perspektive voll zur Geltung. Im Grunde hätte er hier aufhören müssen, denn niemand hat je wieder ein Bild von hinten durch dessen Spiegelbild betrachtet. Damisch hält sich in der Folge fast ausschließlich an Bilder, die als durchkonstruierte Architekturdarstellungen einen wenn auch - ohne Loch und Spiegel - verminderten demonstrativen Wert besitzen. Er spricht selbst von der "relativ geringen Anzahl der Werke, die im Quattrocento streng perspektivisch konstruiert wurden", und er weiß, dass das 16., und wir können hinzufügen: alle weiteren Jahrhunderte, die "legitime Konstruktion" nicht sehr ernst nahmen.
Anders als die Imperative der symbolischen Ordnung gehört die Perspektive zu den Gesetzen, die nicht beachtet werden müssen. Problematisch ist an diesem Buch also seine vorausgesetzte Relevanz für die Kunstgeschichte. Auch im 15. Jahrhundert wurde Raum qualitativ und nicht quantitativ "eingerichtet", durch eine Interaktion von Figuren und Bildarchitekturen, wobei es tatsächlich wenig Unterschied macht, ob Letztere regelgerecht abgebildet wurden oder nicht.
Damisch leugnet nicht, dass für ihn die Perspektive eine ahistorische Größe ist, oder eine, in der erratisch Dialoge zwischen einigen Perspektivanwendungen veranstaltet werden. In Paris gab es im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert "Perspekteure", Hilfsheinze, die mit riesigen Linealen von Atelier zu Atelier gingen, um für das nächste Salonbild die Perspektivkonstruktion vorzuzeichnen. Das findet sich natürlich nicht bei Damisch. Auf seine Weise hat er ja recht: Die Perspektive ist ein Dispositiv, das, einmal erfunden, nicht mehr aus der Welt zu bringen war, eine "Idee, die nicht sterben kann" - dies gilt auf den Ebenen Geistesgeschichte, Schule, Wissenschaft. Und dann auf einmal wurde das in die Jahre gekommene Modell wirklich zum Dispositiv neuer Bildkünste, sprich: Fotografie und Film. So sehr sich der Autor auch über diese Gegenmeinung aufregt: Seine Grundfrage: "Was heißt in der Malerei denken?" kann er am Gegenstand Perspektive nicht beantworten.
WOLFGANG KEMP
Hubert Damisch: "Der Ursprung der Perspektive". Aus dem Französischen von Heinz Jatho. diaphanes Verlag, Zürich 2010. 447 S., Abb., br., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man die Erfindung der Perspektive in der Malerei tief denken kann: Hubert Damisch entdeckt das Subjekt hinter den Bildern und lässt beiseite, dass es auch ganz gut ohne exakten Fluchtpunkt ging.
Es ist einfach so, dass führende Kunsthistoriker irgendwann ihr Statement zum Thema Perspektive abgeben müssen. Die männliche Form ist bewusst gewählt: Kunsthistorikerinnen wählen dieses Fach entweder früh ab oder schmälern es als eine typisch männliche Form der Weltbeherrschung. Der Schlüsseltext dieser Branche ist der 1924/25 publizierte Aufsatz von Erwin Panofsky "Perspektive als symbolische Form": Er spaltete das Feld in zwei Lager. Auf der einen Seite agieren die Anhänger der darstellenden Geometrie, der minutiösen Nachbearbeitung perspektivischer Konstruktionen und vor allem der Mängelrügen. Gegenüber stehen die Gelehrten, die Perspektive eben als symbolische Form begreifen, als Dispositiv der Dar- und Vorstellung, als quasitranszendentale Konstruktion.
Zu letzterer Gruppe gehört der Autor des vorliegenden Buches. Er lässt kein gutes Haar an allen positivistischen und wissenschaftsgeschichtlichen Annäherungen an das Thema, wirft ihnen vor, sie würden Perspektive als realistisches, referentielles Kunstmittel verstehen - und Schlimmeres kann man heute Kollegen nicht nachsagen, das ist schon gerichtsverwertbar. Er dagegen hält Perspektive für eine Denkform, vergleichbar nur mit den epistemologischen Wenden von Descartes und Kant.
Hubert Damisch, Jahrgang 1928, Professor an der École des Hautes Études, ist einer der führenden Semiologen auf dem Gebiet der Künste. Den Plural gilt es dabei zu unterstreichen: Er hat über Fotografie und Film genauso gearbeitet wie über Malerei und Architektur. Bekannt wurde er durch das schöne Buch "Theorie der Wolken" (1972); der "Ursprung der Perspektive" liegt seit 1987 auf Französisch, seit 1994 auf Englisch und jetzt in der verlässlichen Übersetzung von Heinz Jatho auf Deutsch vor. Der Übersetzer ist mit großer Geduld den aufhaltsamen und rekurrenten Gedankengängen Damischs gefolgt. Gombrich hat einmal gesagt, Perspektive gäbe es, weil wir nicht um die Ecke schauen können. Damisch kann um die Ecke denken, er tut es unablässig, sich mit realen oder fiktiven Gegenargumenten auseinandersetzend - das ist der Stil des Pariser "Seminars", ein endloser Monolog, der sich als Denkprozess und Zwiesprache tarnt. Und doch liest man Damisch - in Dosen - nicht ungern, denn er versteht es, den Gegenstand der Perspektive zu denken: "ein(en) Gegenstand, der mehr Gedanken hervorrufen kann, als in ihm enthalten sind" (Merleau-Ponty), darunter - versteht sich - auch falsche.
"Perspektive ist wesentlich reflexiv und regulierend" - auf diesen beiden Prämissen baut Damisch seine Lesart von Perspektive auf, und für beide sucht er sich hohe Gewährsmänner außerhalb der Kunstwissenschaft. Den epistemologischen Charakter der Perspektive begreift er als eine Art Grammatik, welche die Äußerung eines Ich an ein Du organisiert. In dieser Hinsicht nimmt sich Damisch den Sprachwissenschaftler Émile Benveniste zum Paten. Sein großer Ehrgeiz ist es aber, die Psychoanalyse Jacques Lacans für seine Zwecke benutzen zu können.
Letzteres ist keine wirklich glückliche Wahl. Damisch reduziert die Darstellungsmethode der Perspektive auf den Fluchtpunkt, in dem bekanntlich alle Sehstrahlen zusammenlaufen und in dem sie den Betrachter "als Körper elidiert". Perspektive hat aber noch zwei weitere Koordinaten: Sie legt für das betrachtende Subjekt eine Höhe und einen Abstand fest, das heißt, sie adressiert den Betrachter dreifach, auch körperlich.
Als Semiologe ist Damisch an den pragmatischen Aspekten der Situierung des Kunstwerks im Raum des Rezipienten und an Letzterem in seiner Doppelrolle als impliziter und als realer Betrachter nicht wirklich interessiert. Das Hauptwerk der frühen Perspektivkunst, Masaccios Fresko der Trinität in Santa Maria Novella, behandelt Damisch nicht, aber bildet es ab, falsch allerdings, denn das untere Drittel, das bis zum Kirchenboden reicht, fehlt und mit ihm der gemalte Altar und das Memento mori des Skeletts. Dass die Perspektive reale Bedingungen respektieren und verarbeiten muss, ist Damisch nicht sehr wichtig.
Aber zurück zu den Referenzen: Wenn ich alles nur auf den Flucht- oder Ausgangspunkt festlege, kann ich schlecht die Psychoanalyse beanspruchen, die schließlich von einer Körper-Seele-Geist-Einheit ausgeht. Aber so wie Damisch auf das Verhältnis von realem Raum und dargestelltem Bildraum keinen Wert legt, so partiell führt er auch Lacans "symbolische Ordnung" und Perspektive zusammen. Die symbolische Ordnung ist das größere Äquivalent zur Grammatik und begreift diese mit ein, sie ist das Gesetz des Vaters und des Sozialen, als "Anderes" zwingt sie uns Regeln und Normen auf. Der Fluchtpunkt ist für Damisch eine Entität, die zurückschaut und mich als Betrachter konstituiert. Dort residiert das "große Andere", das Vis-à-vis des Subjekts immer schon da ist und auf uns wartet, ein bisschen so wie auf der Heide bei Buxtehude der Igel auf den Hasen.
In der Theorie macht das Sinn, was für die Franzosen bekanntlich das Entscheidende ist. Aber in der Realität, wenn wir diese nur mal kurz konsultieren dürfen, wie verhält es sich da? Schaut das Gemälde im und durch den Fluchtpunkt zurück? Damisch kommt darauf, weil für ihn das Perspektiv-Experiment Filippo Brunelleschis der alles entscheidende Gründungsakt ist. Er widmet ihm hundert Seiten. Der Architekt Brunelleschi soll auf Holz eine perspektivische Ansicht des Florentiner Baptisteriums angefertigt haben, die er im Fluchtpunkt durchlöcherte. Ein Betrachter, der von der Rückseite der Tafel durch das Loch auf einen vorgehaltenen Spiegel blickte, hätte die Macht dieses einen Punktes erfahren, "von dem sich das Auge nicht entfernen kann, ohne dass das Bild verzerrt erscheint", und er hätte von demselben Standort aus, von dem das Bild aufgenommen wurde, gesehen, wie sich die Perspektive des Bildes in der Realität fortsetzte.
Damisch ist aber ganz unzufrieden mit dem Einsatz des Spiegels als Korrektiv, für ihn ist der Zusammenfall, die "Koinzidenz" von Betrachterauge und Fluchtpunkt das Entscheidende: "Die Kraft der Perspektive . . . war derart, dass sich das Subjekt zunächst seiner selbst nur versichern kann, indem es sich auf der Rückseite der Malerei plazierte, sich hinter der Malerei auslöschte, um sie durch den von einem Loch durchbohrten Schirm des Gemäldes im Spiegel anzuvisieren." Das wäre also der reflexive Anteil des Paradigmas Perspektive, der Hand in Hand mit dem regulierenden geht. Der Nullpunkt einer Konstruktion, das Loch in der Rückseite würde zur Matrix der abendländischen Subjektivität. Höher geht's nicht.
Damit stützt er sein Hauptargument auf einen Versuch, eine Demonstration. Dort kommt der epistemologische Charakter seiner Auffassung von Perspektive voll zur Geltung. Im Grunde hätte er hier aufhören müssen, denn niemand hat je wieder ein Bild von hinten durch dessen Spiegelbild betrachtet. Damisch hält sich in der Folge fast ausschließlich an Bilder, die als durchkonstruierte Architekturdarstellungen einen wenn auch - ohne Loch und Spiegel - verminderten demonstrativen Wert besitzen. Er spricht selbst von der "relativ geringen Anzahl der Werke, die im Quattrocento streng perspektivisch konstruiert wurden", und er weiß, dass das 16., und wir können hinzufügen: alle weiteren Jahrhunderte, die "legitime Konstruktion" nicht sehr ernst nahmen.
Anders als die Imperative der symbolischen Ordnung gehört die Perspektive zu den Gesetzen, die nicht beachtet werden müssen. Problematisch ist an diesem Buch also seine vorausgesetzte Relevanz für die Kunstgeschichte. Auch im 15. Jahrhundert wurde Raum qualitativ und nicht quantitativ "eingerichtet", durch eine Interaktion von Figuren und Bildarchitekturen, wobei es tatsächlich wenig Unterschied macht, ob Letztere regelgerecht abgebildet wurden oder nicht.
Damisch leugnet nicht, dass für ihn die Perspektive eine ahistorische Größe ist, oder eine, in der erratisch Dialoge zwischen einigen Perspektivanwendungen veranstaltet werden. In Paris gab es im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert "Perspekteure", Hilfsheinze, die mit riesigen Linealen von Atelier zu Atelier gingen, um für das nächste Salonbild die Perspektivkonstruktion vorzuzeichnen. Das findet sich natürlich nicht bei Damisch. Auf seine Weise hat er ja recht: Die Perspektive ist ein Dispositiv, das, einmal erfunden, nicht mehr aus der Welt zu bringen war, eine "Idee, die nicht sterben kann" - dies gilt auf den Ebenen Geistesgeschichte, Schule, Wissenschaft. Und dann auf einmal wurde das in die Jahre gekommene Modell wirklich zum Dispositiv neuer Bildkünste, sprich: Fotografie und Film. So sehr sich der Autor auch über diese Gegenmeinung aufregt: Seine Grundfrage: "Was heißt in der Malerei denken?" kann er am Gegenstand Perspektive nicht beantworten.
WOLFGANG KEMP
Hubert Damisch: "Der Ursprung der Perspektive". Aus dem Französischen von Heinz Jatho. diaphanes Verlag, Zürich 2010. 447 S., Abb., br., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit der Kritik des Kunsthistorikers Wolfgang Kemp an Hubert Damischs Abhandlung über die Perspektive in der Malerei wird der Leser Zeuge eines Expertengesprächs von fachlichen und emotionalen Gehalt. Kemp führt uns Damisch als einen Autor vor, der als Semiologe die Perspektive als "quasitranszendentale" Denkfigur begreift und diese im vorliegenden Buch mit der Lacan'schen Vorstellung der "symbolischen Ordnung" kurzschließt. Das ist für den Rezensenten schon deshalb etwas unglücklich, weil sich Damisch auf die Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt beschränkt. Diese Festlegung aber vertrage sich schlecht mit der "Körper-Seele-Geist-Einheit", von der die Psychoanalyse ausgeht, führt Kemp aus. Außerdem habe die streng konstruierte Zentralperspektive in der Malerei ohnehin nicht die Rolle gespielt, die ihr Damisch gerne zuerkenne, und so sieht der Rezensent die Bemühungen des Autors, die Perspektive als Denkkonstruktion der Malerei zu erklären, gescheitert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das Entdecken von neuen Sichtweisen auf alte Bestände macht die hervorragend produzierte Publikation zu einer lohnenden Lektüre.« Benedikt Kraft, Deutsche Bauzeitschrift