Ist Schönheit Luxus?
Schönheit, so meinte Charles Darwin, habe in der Evolution keine Bedeutung, sei allenfalls schmückendes Beiwerk oder sogar ein Handicap im Überlebenskampf. Hier irrte Darwin. Schönheit ist ein fundamentales Lebensprinzip und hat bei allen Lebewesen klare biologische Funktionen. Dabei gilt für Tiere wie für Menschen: Wichtig sind kleine Abweichungen vom Idealbild. Sie erst machen attraktiv.
Schönheit, so meinte Charles Darwin, habe in der Evolution keine Bedeutung, sei allenfalls schmückendes Beiwerk oder sogar ein Handicap im Überlebenskampf. Hier irrte Darwin. Schönheit ist ein fundamentales Lebensprinzip und hat bei allen Lebewesen klare biologische Funktionen. Dabei gilt für Tiere wie für Menschen: Wichtig sind kleine Abweichungen vom Idealbild. Sie erst machen attraktiv.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Vom Ende der gefährlichen Schönheit
Wie kommt der Pfau zu seinen prächtigen Schwanzfedern? Der Biologe Josef Reichholf wirft einen neuen Blick auf das Konzept der sexuellen Selektion.
Von Helmut Mayer
Beim Anblick eines Pfauenschwanzes, so gestand Charles Darwin in einem kurz nach Veröffentlichung der "Origins of Species" verfassten Brief, würde ihm schlecht. Zwar befürchtete Darwin damals durchaus nicht mehr, dass seine Theorie der natürlichen Auslese über die zweckvolle Einrichtung von Organismen und Organen stolpern könnte - des Auges etwa, das ein beliebtes Beispiel für eine vermeintlich höheren Orts gestiftete Konstruktionsleistung war. Aber dafür beunruhigten ihn andere "Besonderheiten" gerade deshalb, weil sie sich offenbar nicht als Anpassungen zugunsten höherer Überlebenstauglichkeit erklären ließen.
So wie die Schmuckfedern des männlichen Pfaus, die nicht nur lang sind und farbenprächtig, sondern überdies eine äußerst kunstvoll anmutende ornamentale Zeichnung aufweisen. Gerade auf eine solche Zeichnung verwies einige Jahre später ein Kritiker Darwins: Nimmermehr sei die mit subtilen Schattierungseffekten erreichte Plastizität der Augenornamente auf den Schwanzdeckenfedern des Argusfasans durch eine zufallsgetriebene Entwicklung zu erklären. So wenig wie die schimmernden Prachtgefieder der Kolibris und alle die anderen sich aufdrängenden Beispiele einer in Formen und Farben luxurierenden Natur.
Die "Augen" des Argusfasans wusste Darwin zu entschärfen, indem er eine Möglichkeit ihrer schrittweisen Herausbildung minutiös nachzeichnete. Aber seine eigentliche Antwort auf das Problem der offenbar auf den Pfaden der natürlichen Selektion nicht erreichbaren Farben und Formen war die Idee der sexuellen Selektion, die schon früh bei ihm auftauchte und dann in "The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex" ihren großen Auftritt bekam: dass nämlich die luxuriös anmutenden Schmuckformen ein Selektionseffekt seien, der durch Wahl beim Paarungsakt zustande komme. In der Mehrzahl der Fälle - so wie beim Pfau - durch die Wahl der Weibchen, die jene Männchen bervorzugen, bei denen der arttypische Schmuck besonders überzeugend ausgeprägt ist. Womit die Weibchen über die Generationen hinweg einen Züchtungseffekt hervorbrächten, der aus den Bahnen der natürlichen Selektion, zumindest bis zu einem gewissen Grad, ausbrechen kann.
Darwin war der Ansicht, dass man die Weibchen dabei tatsächlich als ästhetisch beeindruckbar ansehen könne. Nicht so wie wir zwar, die wir viele der ins Auge gefassten Formen ebenfalls als ansprechend und schön empfinden, doch immerhin schon auf dieser Spur. Weshalb Darwin vom Geschmack der Weibchen am Schönen schrieb, von ihrer Empfänglichkeit auch für die Reize des Neuen oder der Abwechslung und damit bereits im Tierreich "Caprice" und "Mode" auf dem aufsteigenden Ast sah. Eine für Darwin bezeichnende und einnehmende Annäherung zwischen Tier und Mensch, die Marx umgehend als Rückprojektion gesellschaftlicher Verhältnisse in die Naturgeschichte entschlüsselte.
Aber nicht nur der Ideologiekritiker ging auf Distanz, auch die moderne Evolutionsbiologie folgte Darwins Interpretation durchaus nicht. An der Tatsache der sexuellen Selektion wurde zwar nicht gerüttelt, aber ihr Mechanismus wird in den modernen Deutungen eng an die "fitness" der Individuen angedockt. Weibchen lassen sich demnach von Ornamenten, Gesängen oder anderen Balzveranstaltungen nicht einfach so beeindrucken, sondern benutzen sie in der einen oder anderen Weise als Indikatoren für die körperliche Verfassung der Männchen und deren erwartbaren Beitrag zur Sicherung von überlebensfähigem Nachwuchs. Womit die auf den ersten Blick luxuriösen Verausgabungen in Formen und Verhaltensweisen wieder eingefangen sind von der grundlegenden Ökonomie der Nachwuchssicherung.
Der Biologe Josef Reichholf folgt mit seiner Interpretation der sexuellen Selektion, der ein Großteil seines neuen Buchs "Der Ursprung der Schönheit" gewidmet ist, dieser Grundtendenz. Aber wer andere Bücher dieses längst einem größeren Publikum geläufigen Autors kennt, wird sich nicht wundern, dass er dabei eigene Wege geht und einige grundlegende Auffassungen gegen den Strich bürstet.
Fragen genug sind ja zu klären. Warum zeigt die eine Art prächtige Männchen und tarnfarbene Weibchen, während die andere gleich nebenan mit einem Erscheinungsbild für beide Geschlechter durchkommt? Warum gibt es in der artspezifischen Ornamentierung im ersteren Fall nicht mehr Unterschiede, wenn sie für den Paarungserfolg ausschlaggebend sein soll? Wie soll man sich ihre Herausbildung als evolutionär erfolgreichen Pfad vorstellen (nämlich ohne auf den Darwinschen Geschmack der Weibchen an Abwechslung zurückzugreifen)? Sind sie überhaupt, wie viele Interpretationen annehmen, unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Auslese wegen ihrer Aufwendigkeit und Auffälligkeit abträglich? Und was wählen die Weibchen überhaupt?
Reichholf nähert sich seinen Antworten über die Betrachtung des fast schon emblematischen Pfaus, aber genauso von Enten, Schwänen und Gänsen, Rotwild, Elchen und Löwen, Singvögeln und Kolibris und noch einigen Tieren mehr. Sein Leitfaden dabei ist, sich den Beitrag beider Geschlechter zur Sicherung von Nachwuchs anzusehen, die jeweiligen Investitionen möglichst genau zu bilanzieren und die Wechselwirkung der sehr verschiedenen Paarungs- und Aufzuchtstrategien mit den ökologischen Randbedingungen immer im Auge zu behalten - so wie es neuere verhaltensökologische Untersuchungen vorführen und dabei eindrucksvoll zeigen, wie sehr auf Details zu achten ist, will man jenseits allgemein gehaltener Maximen zu konkreten Mechanismen der Überlebens- und Fortpflanzungsspiele vordringen.
Aus seinen Befunden zieht Reichholf den Schluss, dass mit der sogenannten Handicap-Theorie der aufwendigen Ornamente nicht durchzukommen ist. Wären sie wirklich ein Signal dafür, dass die mit ihnen geschmückten Männchen sogar diesen eigentlich nachteiligen Aufwand verkraften und also genetische Pfundskerle sind, sollten mehr Männchen als Weibchen auf der Strecke bleiben. Aber Reichholfs Bilanzierungen weisen gerade in die andere Richtung: Die Weibchen scheinen in der Regel wegen ihrer unumgehbar hohen Investitionen in den Nachwuchs viel eher gefährdet; während sich der vieldiskutierte Pfauenschwanz und andere in unseren Augen auffällig wirkende Ornamente sogar als durchaus überlebensdienlich erweisen können. Sei es, weil die Fressfeinde auf Farben anders ansprechen oder wie im Fall des Pfauen zusätzlich die Körperkontur verunklärt wird. Womit die Schmuckformen übrigens auch den leicht tragischen Nimbus verlieren, den ihnen Darwin zu verleihen wusste, als er vom großen Maß der Leiden schrieb, aus dem ihre Schönheit hervorginge.
Kein gefährlicher Luxus steckt also dahinter, so Reichholf, wohl aber die Ausscheidung von Überschüssen an Proteinen und Energie, sofern die ökologische Gesamtsituation solche überhaupt ermöglicht: Überschüsse nämlich für die Männchen im Vergleich zu den Weibchen, die ja unmittelbar mehr in den Nachwuchs investieren müssen. Das Muster, das sich für Reichholf abzeichnet, läuft darauf hinaus, dass die Männchen solchen relativen geschlechtlichen Surplus aus überlebensdienlichen Gründen - vor allem Vermeidung von zu viel Körpermasse - durch die Ausbildung ihrer Ornamente und spektakuläre Balzveranstaltungen loswerden. Wozu die Beobachtung passt, dass diese Ornamente bei den betrachteten Arten dann auftreten, wenn die Männchen im Aufzuchtgeschäft eine bescheidene oder gar keine Rolle spielen.
Damit liegt Reichholf auf der Linie, die fehlerlose Ornamentierung unter die "ehrlichen Signale" zu reihen, an denen die Weibchen die Dienlichkeit der Männchen für die Nachwuchssicherung einschätzen können. Aber er stellt dabei ihre nachdrückliche, also auch energieaufwendige Präsentation vor die Feinheiten ihrer Ausbildung, weil er Letztere eher der erfolgreichen Artabgrenzung zuordnet als in ihnen vor allem den Angriffspunkt eines von den Weibchen ausgehenden Selektionsdrucks auszumachen.
Über diese Einordnung der sexuellen Evolution werden Biologen vermutlich ausgiebig streiten können. Aber Reichholf gelingt es mit seiner Darlegung jedenfalls vorzüglich, eine Vorstellung von den intrikaten Geflechten der Wirkungszusammenhänge zu geben, mit denen man es dabei zu tun bekommt. Die vorschnelle Erwartung, Adaptationen und ökologische Nischen einfach ausmachen zu können, zerfällt da rasch. Reichholf weist insbesondere auf die Spielräume hin, die sich zwischen der Körperorganisation und dem äußeren Erscheinungsbild auftun. Wer glaubt, Letzteres als Anpassung an welchen Selektionsdruck auch immer verstehen zu müssen, könnte demnach schon in eine Falle getappt sein. Was im gegebenen Fall direkte Anpassung ist, was nicht, wie Selektionsspielräume überhaupt aussehen - fast immer sind das schwierige und nur näherungsweise aufzudröselnde Fragen.
Gilt das bereits fürs Tierreich, wird die Sache natürlich nicht leichter, wenn man den Spuren der biologischen Vorprägungen in unseren eigenen, also kulturell durchgeformten Wahrnehmungsweisen von attraktiven menschlichen Körpern und Gesichtern nachspürt. Reichholf und seine für diesen Abschnitt beigezogene Mitautorin verfahren da auch eher vorsichtig. Dass ein Urteil über Körperschönheit mit Sexualität zu tun hat und einige dabei einfließende, eher basal ausfallende Eigenschaften vermutlich mit der Vorgeschichte "ehrlicher Signale" in Sachen reproduktiver Eignung zusammenhängen, wird man nicht als besonders überraschend empfinden. Eher kommt einem dabei in den Sinn, dass auf den Begriff der Schönheit eigentlich ganz gut zu verzichten wäre, solange es um die Anziehungskraft von Körpern geht: "Attraktivität" reichte hier vollauf und ließe gleich erkennen, dass die sexuelle Konnotation selbstverständlich ist.
Interessant wäre der Hinweis der Autoren, dass es keine "absolute", also von einer weitgehend biologischen Vorgeschichte abgekoppelte Wahrnehmung des Schönen gebe, doch eigentlich erst dann, wenn er für das ästhetische Empfinden abseits der Körperwahrnehmung angemeldet wird. Also etwa für den Reiz, den das Pfauenrad auf uns, nicht auf die Henne ausübt; oder auch der Schmetterlingsflügel, wie er auf dem Umschlag des Buchs zu sehen ist. Die Hinweise auf die fraglosen Reize der Symmetrie - doch reizvoll sind ja für uns auch oft ihre Störungen - sind da viel zu blass, brauchen vor allem kaum die Vorgeschichte der sexuellen Selektion.
Aber diesen Übertritt in die ästhetische Sphäre haben die beiden Autoren im Schlussabschnitt des Buches gar nicht vor Augen. Es geht ihnen dort vielmehr darum, plausibel zu machen, warum in unserem Fall die entschiedene Arbeit an der körperlichen Attraktivität nicht zuletzt auf die weibliche Seite wandern konnte und wieso als attraktiv empfundene Proportionen - etwa des Gesichts - sich in Menschenpopulationen nicht durchsetzen, sondern stattdessen eine breite Streuung individueller Ausprägungen den Ton angibt, die doch bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Man muss da wohl keine voreiligen Einreden befürchten: Es bleibt dabei, dass sich das Begehren eher in der Abweichung festsetzt. Was vielleicht auch der beste Grund ist, ideale Mittelwertsgesichter schlicht als schön zu bezeichnen - gerade weil sie den erotischen Funken kaum springen lassen.
Die Autoren sind meist vorsichtig genug, in keine biologischen Fundamentalismen zu verfallen, wissen auch dem Wettbewerb der phantasievollen Thesen zur Genese der naturgemäß interessierenden sekundären Geschlechtsmerkmale eher auszuweichen. Trotzdem kann man ihnen die Anmerkung nicht ersparen, dass Beobachtungen zu unserer gesellschaftlichen Realität, die mit der Wendung "biologisch gesehen" eingeleitet werden, vollkommen unabhängig von ihrer inhaltlichen Tendenz immer mit einem unhaltbaren Anspruch auftreten. Nicht, weil wir die Biologie losgeworden wären - dann würde wirklich gar nichts funktionieren -, sondern weil deren Verästelungen im kulturellen Regime sich nie einfach herauspräparieren lassen.
Hervorzuheben sind an der Darstellung denn auch weniger umwerfende Einsichten in die Realität von Körperdesign, Sex und Geschlechterrollen - eher stechen einige dabei unterlaufende Blauäugigkeiten hervor. Was einnimmt, ist vielmehr die bereits auf tatsächlich biologischem Terrain vorgeführte Schärfung des Blicks für die subtilen, gar nicht leicht anzugebenden Mechanismen des evolutionären Lebensspiels. Sagen wir es mit einem leicht abgewandelten Dichterwort: Das Schöne, es ist einer schrecklichen Kompliziertheit Anfang, erst recht "biologisch betrachtet".
Josef H. Reichholf: "Der Ursprung der Schönheit". Darwins größtes Dilemma.
Verlag C. H. Beck, München 2011. 304 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie kommt der Pfau zu seinen prächtigen Schwanzfedern? Der Biologe Josef Reichholf wirft einen neuen Blick auf das Konzept der sexuellen Selektion.
Von Helmut Mayer
Beim Anblick eines Pfauenschwanzes, so gestand Charles Darwin in einem kurz nach Veröffentlichung der "Origins of Species" verfassten Brief, würde ihm schlecht. Zwar befürchtete Darwin damals durchaus nicht mehr, dass seine Theorie der natürlichen Auslese über die zweckvolle Einrichtung von Organismen und Organen stolpern könnte - des Auges etwa, das ein beliebtes Beispiel für eine vermeintlich höheren Orts gestiftete Konstruktionsleistung war. Aber dafür beunruhigten ihn andere "Besonderheiten" gerade deshalb, weil sie sich offenbar nicht als Anpassungen zugunsten höherer Überlebenstauglichkeit erklären ließen.
So wie die Schmuckfedern des männlichen Pfaus, die nicht nur lang sind und farbenprächtig, sondern überdies eine äußerst kunstvoll anmutende ornamentale Zeichnung aufweisen. Gerade auf eine solche Zeichnung verwies einige Jahre später ein Kritiker Darwins: Nimmermehr sei die mit subtilen Schattierungseffekten erreichte Plastizität der Augenornamente auf den Schwanzdeckenfedern des Argusfasans durch eine zufallsgetriebene Entwicklung zu erklären. So wenig wie die schimmernden Prachtgefieder der Kolibris und alle die anderen sich aufdrängenden Beispiele einer in Formen und Farben luxurierenden Natur.
Die "Augen" des Argusfasans wusste Darwin zu entschärfen, indem er eine Möglichkeit ihrer schrittweisen Herausbildung minutiös nachzeichnete. Aber seine eigentliche Antwort auf das Problem der offenbar auf den Pfaden der natürlichen Selektion nicht erreichbaren Farben und Formen war die Idee der sexuellen Selektion, die schon früh bei ihm auftauchte und dann in "The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex" ihren großen Auftritt bekam: dass nämlich die luxuriös anmutenden Schmuckformen ein Selektionseffekt seien, der durch Wahl beim Paarungsakt zustande komme. In der Mehrzahl der Fälle - so wie beim Pfau - durch die Wahl der Weibchen, die jene Männchen bervorzugen, bei denen der arttypische Schmuck besonders überzeugend ausgeprägt ist. Womit die Weibchen über die Generationen hinweg einen Züchtungseffekt hervorbrächten, der aus den Bahnen der natürlichen Selektion, zumindest bis zu einem gewissen Grad, ausbrechen kann.
Darwin war der Ansicht, dass man die Weibchen dabei tatsächlich als ästhetisch beeindruckbar ansehen könne. Nicht so wie wir zwar, die wir viele der ins Auge gefassten Formen ebenfalls als ansprechend und schön empfinden, doch immerhin schon auf dieser Spur. Weshalb Darwin vom Geschmack der Weibchen am Schönen schrieb, von ihrer Empfänglichkeit auch für die Reize des Neuen oder der Abwechslung und damit bereits im Tierreich "Caprice" und "Mode" auf dem aufsteigenden Ast sah. Eine für Darwin bezeichnende und einnehmende Annäherung zwischen Tier und Mensch, die Marx umgehend als Rückprojektion gesellschaftlicher Verhältnisse in die Naturgeschichte entschlüsselte.
Aber nicht nur der Ideologiekritiker ging auf Distanz, auch die moderne Evolutionsbiologie folgte Darwins Interpretation durchaus nicht. An der Tatsache der sexuellen Selektion wurde zwar nicht gerüttelt, aber ihr Mechanismus wird in den modernen Deutungen eng an die "fitness" der Individuen angedockt. Weibchen lassen sich demnach von Ornamenten, Gesängen oder anderen Balzveranstaltungen nicht einfach so beeindrucken, sondern benutzen sie in der einen oder anderen Weise als Indikatoren für die körperliche Verfassung der Männchen und deren erwartbaren Beitrag zur Sicherung von überlebensfähigem Nachwuchs. Womit die auf den ersten Blick luxuriösen Verausgabungen in Formen und Verhaltensweisen wieder eingefangen sind von der grundlegenden Ökonomie der Nachwuchssicherung.
Der Biologe Josef Reichholf folgt mit seiner Interpretation der sexuellen Selektion, der ein Großteil seines neuen Buchs "Der Ursprung der Schönheit" gewidmet ist, dieser Grundtendenz. Aber wer andere Bücher dieses längst einem größeren Publikum geläufigen Autors kennt, wird sich nicht wundern, dass er dabei eigene Wege geht und einige grundlegende Auffassungen gegen den Strich bürstet.
Fragen genug sind ja zu klären. Warum zeigt die eine Art prächtige Männchen und tarnfarbene Weibchen, während die andere gleich nebenan mit einem Erscheinungsbild für beide Geschlechter durchkommt? Warum gibt es in der artspezifischen Ornamentierung im ersteren Fall nicht mehr Unterschiede, wenn sie für den Paarungserfolg ausschlaggebend sein soll? Wie soll man sich ihre Herausbildung als evolutionär erfolgreichen Pfad vorstellen (nämlich ohne auf den Darwinschen Geschmack der Weibchen an Abwechslung zurückzugreifen)? Sind sie überhaupt, wie viele Interpretationen annehmen, unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Auslese wegen ihrer Aufwendigkeit und Auffälligkeit abträglich? Und was wählen die Weibchen überhaupt?
Reichholf nähert sich seinen Antworten über die Betrachtung des fast schon emblematischen Pfaus, aber genauso von Enten, Schwänen und Gänsen, Rotwild, Elchen und Löwen, Singvögeln und Kolibris und noch einigen Tieren mehr. Sein Leitfaden dabei ist, sich den Beitrag beider Geschlechter zur Sicherung von Nachwuchs anzusehen, die jeweiligen Investitionen möglichst genau zu bilanzieren und die Wechselwirkung der sehr verschiedenen Paarungs- und Aufzuchtstrategien mit den ökologischen Randbedingungen immer im Auge zu behalten - so wie es neuere verhaltensökologische Untersuchungen vorführen und dabei eindrucksvoll zeigen, wie sehr auf Details zu achten ist, will man jenseits allgemein gehaltener Maximen zu konkreten Mechanismen der Überlebens- und Fortpflanzungsspiele vordringen.
Aus seinen Befunden zieht Reichholf den Schluss, dass mit der sogenannten Handicap-Theorie der aufwendigen Ornamente nicht durchzukommen ist. Wären sie wirklich ein Signal dafür, dass die mit ihnen geschmückten Männchen sogar diesen eigentlich nachteiligen Aufwand verkraften und also genetische Pfundskerle sind, sollten mehr Männchen als Weibchen auf der Strecke bleiben. Aber Reichholfs Bilanzierungen weisen gerade in die andere Richtung: Die Weibchen scheinen in der Regel wegen ihrer unumgehbar hohen Investitionen in den Nachwuchs viel eher gefährdet; während sich der vieldiskutierte Pfauenschwanz und andere in unseren Augen auffällig wirkende Ornamente sogar als durchaus überlebensdienlich erweisen können. Sei es, weil die Fressfeinde auf Farben anders ansprechen oder wie im Fall des Pfauen zusätzlich die Körperkontur verunklärt wird. Womit die Schmuckformen übrigens auch den leicht tragischen Nimbus verlieren, den ihnen Darwin zu verleihen wusste, als er vom großen Maß der Leiden schrieb, aus dem ihre Schönheit hervorginge.
Kein gefährlicher Luxus steckt also dahinter, so Reichholf, wohl aber die Ausscheidung von Überschüssen an Proteinen und Energie, sofern die ökologische Gesamtsituation solche überhaupt ermöglicht: Überschüsse nämlich für die Männchen im Vergleich zu den Weibchen, die ja unmittelbar mehr in den Nachwuchs investieren müssen. Das Muster, das sich für Reichholf abzeichnet, läuft darauf hinaus, dass die Männchen solchen relativen geschlechtlichen Surplus aus überlebensdienlichen Gründen - vor allem Vermeidung von zu viel Körpermasse - durch die Ausbildung ihrer Ornamente und spektakuläre Balzveranstaltungen loswerden. Wozu die Beobachtung passt, dass diese Ornamente bei den betrachteten Arten dann auftreten, wenn die Männchen im Aufzuchtgeschäft eine bescheidene oder gar keine Rolle spielen.
Damit liegt Reichholf auf der Linie, die fehlerlose Ornamentierung unter die "ehrlichen Signale" zu reihen, an denen die Weibchen die Dienlichkeit der Männchen für die Nachwuchssicherung einschätzen können. Aber er stellt dabei ihre nachdrückliche, also auch energieaufwendige Präsentation vor die Feinheiten ihrer Ausbildung, weil er Letztere eher der erfolgreichen Artabgrenzung zuordnet als in ihnen vor allem den Angriffspunkt eines von den Weibchen ausgehenden Selektionsdrucks auszumachen.
Über diese Einordnung der sexuellen Evolution werden Biologen vermutlich ausgiebig streiten können. Aber Reichholf gelingt es mit seiner Darlegung jedenfalls vorzüglich, eine Vorstellung von den intrikaten Geflechten der Wirkungszusammenhänge zu geben, mit denen man es dabei zu tun bekommt. Die vorschnelle Erwartung, Adaptationen und ökologische Nischen einfach ausmachen zu können, zerfällt da rasch. Reichholf weist insbesondere auf die Spielräume hin, die sich zwischen der Körperorganisation und dem äußeren Erscheinungsbild auftun. Wer glaubt, Letzteres als Anpassung an welchen Selektionsdruck auch immer verstehen zu müssen, könnte demnach schon in eine Falle getappt sein. Was im gegebenen Fall direkte Anpassung ist, was nicht, wie Selektionsspielräume überhaupt aussehen - fast immer sind das schwierige und nur näherungsweise aufzudröselnde Fragen.
Gilt das bereits fürs Tierreich, wird die Sache natürlich nicht leichter, wenn man den Spuren der biologischen Vorprägungen in unseren eigenen, also kulturell durchgeformten Wahrnehmungsweisen von attraktiven menschlichen Körpern und Gesichtern nachspürt. Reichholf und seine für diesen Abschnitt beigezogene Mitautorin verfahren da auch eher vorsichtig. Dass ein Urteil über Körperschönheit mit Sexualität zu tun hat und einige dabei einfließende, eher basal ausfallende Eigenschaften vermutlich mit der Vorgeschichte "ehrlicher Signale" in Sachen reproduktiver Eignung zusammenhängen, wird man nicht als besonders überraschend empfinden. Eher kommt einem dabei in den Sinn, dass auf den Begriff der Schönheit eigentlich ganz gut zu verzichten wäre, solange es um die Anziehungskraft von Körpern geht: "Attraktivität" reichte hier vollauf und ließe gleich erkennen, dass die sexuelle Konnotation selbstverständlich ist.
Interessant wäre der Hinweis der Autoren, dass es keine "absolute", also von einer weitgehend biologischen Vorgeschichte abgekoppelte Wahrnehmung des Schönen gebe, doch eigentlich erst dann, wenn er für das ästhetische Empfinden abseits der Körperwahrnehmung angemeldet wird. Also etwa für den Reiz, den das Pfauenrad auf uns, nicht auf die Henne ausübt; oder auch der Schmetterlingsflügel, wie er auf dem Umschlag des Buchs zu sehen ist. Die Hinweise auf die fraglosen Reize der Symmetrie - doch reizvoll sind ja für uns auch oft ihre Störungen - sind da viel zu blass, brauchen vor allem kaum die Vorgeschichte der sexuellen Selektion.
Aber diesen Übertritt in die ästhetische Sphäre haben die beiden Autoren im Schlussabschnitt des Buches gar nicht vor Augen. Es geht ihnen dort vielmehr darum, plausibel zu machen, warum in unserem Fall die entschiedene Arbeit an der körperlichen Attraktivität nicht zuletzt auf die weibliche Seite wandern konnte und wieso als attraktiv empfundene Proportionen - etwa des Gesichts - sich in Menschenpopulationen nicht durchsetzen, sondern stattdessen eine breite Streuung individueller Ausprägungen den Ton angibt, die doch bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Man muss da wohl keine voreiligen Einreden befürchten: Es bleibt dabei, dass sich das Begehren eher in der Abweichung festsetzt. Was vielleicht auch der beste Grund ist, ideale Mittelwertsgesichter schlicht als schön zu bezeichnen - gerade weil sie den erotischen Funken kaum springen lassen.
Die Autoren sind meist vorsichtig genug, in keine biologischen Fundamentalismen zu verfallen, wissen auch dem Wettbewerb der phantasievollen Thesen zur Genese der naturgemäß interessierenden sekundären Geschlechtsmerkmale eher auszuweichen. Trotzdem kann man ihnen die Anmerkung nicht ersparen, dass Beobachtungen zu unserer gesellschaftlichen Realität, die mit der Wendung "biologisch gesehen" eingeleitet werden, vollkommen unabhängig von ihrer inhaltlichen Tendenz immer mit einem unhaltbaren Anspruch auftreten. Nicht, weil wir die Biologie losgeworden wären - dann würde wirklich gar nichts funktionieren -, sondern weil deren Verästelungen im kulturellen Regime sich nie einfach herauspräparieren lassen.
Hervorzuheben sind an der Darstellung denn auch weniger umwerfende Einsichten in die Realität von Körperdesign, Sex und Geschlechterrollen - eher stechen einige dabei unterlaufende Blauäugigkeiten hervor. Was einnimmt, ist vielmehr die bereits auf tatsächlich biologischem Terrain vorgeführte Schärfung des Blicks für die subtilen, gar nicht leicht anzugebenden Mechanismen des evolutionären Lebensspiels. Sagen wir es mit einem leicht abgewandelten Dichterwort: Das Schöne, es ist einer schrecklichen Kompliziertheit Anfang, erst recht "biologisch betrachtet".
Josef H. Reichholf: "Der Ursprung der Schönheit". Darwins größtes Dilemma.
Verlag C. H. Beck, München 2011. 304 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2011Der Stachel der Abweichung
Josef H. Reichholfs große Studie über den „Ursprung der Schönheit“ beschreibt die Evolution als Reich der Möglichkeiten und der produktiven Verschwendung / Von Horst Bredekamp
Die gutmeinenden Kritiken verbargen nur mühsam ihre Irritation, dahinter stand eine massive Wand der Ablehnung. Der zweite Teil der 1871 publizierten „Abstammung des Menschen“ enthielt Charles Darwins Abhandlung zur „sexuellen Auslese“, die seinen vielleicht größten Misserfolg darstellte. Darwin hatte vor dem Problem gestanden, dass er die in ihrer Variation und Formenvielfalt geradezu berstende Natur mit Hilfe der „natürlichen“ Auslese allein nicht glaubte erklären zu können. Um diesen Zwiespalt zu schließen, schuf er jene Theorie der „sexuellen“ Auslese, derzufolge das weibliche Auge als Agens der Evolution in Rechnung zu stellen sei. Diese sogenannte female choice folge keinesfalls allein jener Bindung, die durch Stärke und Überlebensgarantie entstehe; vielmehr funktioniere das weibliche Interesse wesentlich nach einem anderen Prinzip, das als Sehnsucht nach Variation zu erklären sei. Damit aber bestimmte der Naturforscher Darwin die Biologie in einer gewissen Weise als eine Art erotischer Form-, wenn nicht sogar Kunstgeschichte. Denn insofern er die Körper der Tiere als selbstproduzierte Bilder ansah, definierte er seine zweite Säule der Evolution als ein ungeheures Bildtheater, das sich aus dem Wechselspiel zwischen dem nach Variation suchenden Auge der Weibchen und der sich andienenden Mutationsbereitschaft der Männchen ergab.
Weggefährten wie Alfred R. Wallace reagierten auf Darwins Theorie mit deutlicher Ablehnung, weil für sie nicht zu akzeptieren war, dass es einen vom Anpassungsdruck an die Umwelt gelösten Variationstrieb geben sollte.
Dieses Unbehagen hat die Evolutionsbiologie niemals ganz verlassen, selbst wenn die Theorie der sexuellen Auslese immer wieder von Außenseitern aufgenommen und vom Mainstream der Evolutionsbiologie vorsichtig integriert und weiterentwickelt wurde. Es kamen kulturell bedingte Vorbehalte hinzu. Im Gegensatz zu der 1859 erschienenen Abhandlung „The Origin of species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“, in der Darwin mit seiner Lehre von der natürlichen Auslese einen Nerv der zeitgenössischen Entfesselung der kapitalistischen Lebens- und Überlebenswelt getroffen hatte, forderte sein Konzept der sexuellen Auslese ungewollt den Viktorianismus in seinem neurotischen Kern der Triebbeherrschung heraus. Hieraus resultierte eine Abwehr, die aus psychologisch uneingestandenen Quellen stammte und daher zunächst kaum zu überwinden war.
Der groß angelegte Versuch des Münchener Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf sieht von diesen Querelen der Wissenschaftsgeschichte ab, weil ihm Darwins Grundidee als selbstevident gesichert erscheint. Er fragt weniger nach deren Berechtigung als vielmehr nach der Lösung von sich hieraus ergebenden Problemen. Sein Buch führt eine beeindruckende Fülle von Erkenntnissen vor, die der Autor mit ergreifender sprachlicher Kraft als fundamentale Fragen der Evolutionsbiologie formuliert.
Die Theorie der sexuellen Auslese ist auf die Kategorie der Schönheit angewiesen. Mit George Levin und Winfried Menninghaus haben Literaturwissenschaftler die bislang umfassendsten Darstellungen dieses Begriffs im Werk von Charles Darwin vorgelegt. Reichholf würdigt diesen Zugang, verspricht aber, Darwins Problem direkt in der Natur selbst aufzuspüren. Der Autor ist sich darüber im Klaren, dass auch die Suche nach der „Sache selbst“ das Produkt einer theoretischen Entscheidung ist, und durchzieht daher seine Beispielreihen immer wieder mit Reflexionen über die Berechtigung des Vorgehens und der sich hieraus ergebenden Grundfragen.
Das Buch zeigt sich in jenen Passagen auf der Höhe seiner Ansprüche, in denen der Autor aus der Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse zur eigenen Beobachtung des Balzverhaltens eines Birkhahns oder auch der Konsistenz der Vogelfeder springt. Hier gewinnt sein Text eine Qualität, die an die funkelndsten Passagen Darwins heranreicht. Am Ende seiner „Origin of Species“, der Beschreibung eines unberührten Landfleckens, hat Darwin die Kategorie des Schönen in einer Beseeltheit eingeführt, die ihm den Status eines begnadeten Schriftstellers eingebracht hat, und auch in manchen Kapiteln der „Sexual selection“ dringt die bewundernde Begeisterung für die Geschöpfe der Natur als Kunstwerke durch.
Darwins Paradebeispielen des Pfaues und des Argusfasans widmet sich zunächst auch Reichholf im Rahmen seiner umfangreichen Erörterung der Vogelwelt. Das immer wieder anzutreffende Nicht-Erwartbare führt ihn zur Frage, ob in der Vielfalt eine Ordnung zu erkennen sei. Eingängige Antworten sind demzufolge schwierig, weil der Mensch allein schon die Farben anders wahrnimmt als die betreffenden Tiere. Zudem erschöpft sich die Rolle der Abundanz, der Vielfalt, des Überflusses, für die Entwicklung der Arten nicht nur in Formen und Farben, sondern auch im Variantenreichtum und der Individualität der Stimmen und Gesänge. Auch sie sind jenseits der Sphäre purer Notwendigkeit anzusiedeln.
Als zentrales Beispiel führt der Autor den Hirsch und das Zusammenspiel von einer eigentümlichen Geweihform und seiner betörenden Akustik an. Für die Hirschkühe sind nicht etwa, wie es zu erwarten gewesen wäre, die aggressivsten Artgenossen attraktiv. Sogenannte Mörderhirsche, die den Kontrahenten töten, werden eher verschmäht, wohingegen die Träger von Geweihen, die wie ganze Baumkronen anmuten, und dazu tief röhrende Stimmen besitzen, weitaus höhere Chance haben, von den Hirschkühen angenommen zu werden. Die Darlegung dieses den Hirschen eigenen Balzverhaltens gehört zu jenen Teilen des Buches, in denen der Autor mit Inbrunst die über unzählige Generationen sich vollziehende Prachtentfaltung verfolgt.
Biologen dürften am stärksten beeindruckt sein von Reichholfs Zurückweisung der sogenannten Handicap-Theorie, derzufolge die außergewöhnlichsten Prachtgewänder wie etwa die Pfauenfedern als Ausweis dienten, dass sich die Träger derartig luxuriöse Schwächungen im Überlebenskampf aufgrund ihrer Kraft und Gesundheit leisten konnten. Reichholf zeigt an einer Reihe von Fällen, dass die Schönheit durchaus Gesundheit signalisieren kann, die dem Weibchen als Ehrlichkeitszeichen dargeboten wird. Die Schönheit wird hier mit einem Ausdruck der Sicherheit gepaart, die anzeigt, dass der Partner kräftige Nachkommen zeugen und für den Nachwuchs sorgen könne.
Dieser maßvollen Bestätigung aber steht eine in zwei Extreme gehende Widerlegung der Handicap-Theorie gegenüber. Zunächst deutet Reichholf das, was als Handicap erscheint, als durchaus funktional, und hierin widerspricht er auch Darwin. So kann ihm zufolge gerade das massive Gefieder des Pfaues als ein Schutz wirken, weil es bei einem Angriff als Puffer fungiert und zudem blitzschnell durch Schreckmauser abgeworfen werden kann. Mit einer theatralisch inszenierten Luxusschwäche hat der Pfauenschwanz folglich nichts zu tun.
Reichholfs entscheidende Absage an die Lehre vom Handicap aber setzt mit der Überzeugung, dass die Formschönheit in einer Art Selbstlauf der Ausschüttung überschüssiger Lebensenergien entstehe, am diametral entgegengesetzten Punkt an. Als Zebrafinken in einem Versuch mit bunten Ringen an den Beinen ausgestattet wurden, kam es zu einer signifikanten Bevorzugung dieser Artgenossen, womit gezeigt werden konnte, dass die Abweichung über alle anderen Kriterien der Anziehungskraft gesiegt hatte. Hieraus wie aus anderen Beobachtungen zieht der Autor den Schluss, dass es nicht notwendigerweise äußere Bedingungen sind, die zur abweichenden Paarung und damit zum evolutionären Schub führen, sondern vielmehr die Möglichkeitsformen einer internen Entwicklung.
Damit aber ist für Reichholf die Evolution als Wechselspiel von Außenwirkung und innerer Reaktion nur unzureichend beschrieben. In der Anpassung wirke vielmehr ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, das alle Mechanik der Notwendigkeiten relativiere. Im Kern ist diese Neuformulierung der sexuellen Auslese eine Reflexion über die Freiheitsgrade der Evolution. Je komplexer die Organismen werden, umso stärker lösen sie sich von den äußeren Lebensbedingungen ab, um die Attraktion der Schönheit ihr anarchisches Spiel treiben zu lassen.
Mit diesem Schluss widmet sich der Autor gemeinsam mit Miki Sakamoto einer Bestimmung auch des menschlichen Verhaltens. Auch hier ist die Definition der Schönheit berührt. Sie lässt sich Reichholf zufolge keinesfalls auf eine messbare Symmetrie und den Eindruck von Wohlbefinden reduzieren; vielmehr muss die Spannung einer Abweichung vom erwarteten Durchschnittsmuster hinzukommen. Die überlagerten Idealbilder des als schön erachteten Menschen wirken angenehm, aber auch nichtssagend und wenig attraktiv, weil ihrem Ebenmaß der Stachel der Abweichung fehlt. Bereits für Darwin bot dieser die einzige Möglichkeit, Schönheit zu definieren. Er hat sie als Variabilität und Abweichung bestimmt: variety. In dieser Definition können auch hässlich wirkende Formelemente die Kategorie der beauty erreichen, sowie sie als Abweichung erkennbar sind. Erst dies erlaubt es, die Evolution als Suche des weiblichen Auges nach der Abweichung zu begreifen.
In diesem Zusammenhang ist bedauerlich, dass der Autor einer Reihe profunder kunst- und kulturgeschichtlicher Erörterungen dieses Problems nicht mehr hat aufnehmen können: „Endless forms“ (Cambridge und New Haven 2009), „Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen“ (Frankfurt am Main 2009) sowie „Was ist schön?“ (Dresden 2010). Im Katalog der Dresdner Ausstellung des Hygiene-Museums hat Menninghaus Darwins Faible für die Frage der Ornamentierung aus der britischen Vorliebe für das Ornament und dessen kunsttheoretischer Fassung entwickelt. Wenn Mario Praz, so könnte gefolgert werden, die englische Schauerromantik als einen solchen Revenant des verdrängten Bilderschatzes erklärt hat, so wirkt Darwins Konzept der sexuellen Auslese wie eine Verlagerung dieses Impulses in die Natur. Darwins Konzept der sexuellen Selektion kann vor diesem Hintergrund auch als natürliche Spielart der Wiederkehr der verdrängten katholischen Bilderwelt begriffen werden. In diesen Bezügen deuten sich die begrifflichen Rahmenstellungen an, unter denen Darwin seine zweite Grundidee entwickeln konnte. Dies relativiert sie nicht, sondern es definiert die Möglichkeitsform seines eigenen kulturellen Ambientes.
Begrifflich hätte es daher gutgetan, wenn der Verfasser die später im Sozialdarwinismus so verheerende Formel vom „survival of the fittest“ nicht Darwin, sondern vielmehr dem Urheber Charles Spencer zugeschrieben hätte. Er hätte hier mit einem Vorurteil aufräumen können, zumal Darwin selbst, als er das Prinzip der sexuellen Auslese ausführte, den Stoßseufzer tat: „Too much (. . . ) survival of the fittest“. Angesichts der Material- und Aspektfülle des Buches dürfte es nicht ausbleiben, dass Fachleute ihm Schwächen im Detail und Auslassungen vorwerfen werden; so ist schwer erklärlich, warum das 2006 erschienene, zweibändige Sammelwerk „Bird Coloration“ fehlt. Aber Monita dieser Art reichen nicht bis zur Substanz des Buches. Der Leser spürt, dass es in Zeiten der molekularbiologischen Großstudien an eine Forschung erinnern möchte, welche die lebendigen Wesen in ihrer natürlichen oder auch künstlich geformten Umwelt wahrzunehmen und durchaus auch zu bewundern versteht. Und darin ist es eine Art Liebeserklärung an eine Natur, die nicht allein nützlich, sondern auch verschwenderisch ist, die nicht nur den Erwartungen entspricht, sondern übertreibt, und die das Theatralische für ebenso wichtig hält wie die maschinell wirkende Mechanik der natürlichen Auslese. Im Kern ist es ein Buch über die Freiheit. Wohl selten zuvor ist die Evolution in vergleichbarer Weise nicht als Reich der harten Notwendigkeit, sondern der formabundanten Möglichkeiten beschrieben worden.
Der Autor zieht seine Schlüsse aus der unmittelbaren Anschauung der Natur, um doch zu Ergebnissen zu kommen, die in ihren Folgerungen erkennbar einen kritischen Zeitbezug besitzen. Sein Buch verteidigt das gegenwärtig so prekäre Gut des Altruismus in der Frage, warum die Hirschgeweihe sich auf eine Weise entwickelt haben, dass sie den Gegner nicht zu tief verletzen. Es erkennt zudem eine Art ausgleichender Gerechtigkeit darin, dass Männchen zwar die bessere Überlebenschance haben, die Weibchen aus diesem Grund aber das Privileg der Auswahl besitzen. Schließlich definiert er die Kategorie der Freiheit als das Produkt einer Suche nach Schönheit, die in der Natur selbst als evolutionärer Prozess abläuft.
Das Prinzip der sexuellen Auslese begünstigt Reichholf zufolge den Altruismus, die Gerechtigkeit und die Freiheit. Darwin hat die Natur bisweilen als das große „Schlachthaus“ bezeichnet, aber seine Theorie der sexuellen Auslese bot das Bild einer produktiven Verschwendung. Wer glaubt, dass Darwins zweite Theorie zu schön ist, um wahr sein zu können, wird es nach Lektüre dieses Buches schwerer haben.
JOSEF H. REICHHOLF: Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma. Verlag C. H. Beck, München 2011. 302 Seiten, 19,95 Euro.
Der Rezensent ist Kunsthistoriker an der Berliner Humboldt-Universität und Autor des Buches „Darwins Korallen“ (Wagenbach Verlag, 2005).
Im Wechselspiel der suchenden
Weibchen und der sich andienenden
Männchen entfaltet sich ein
ungeheures Bildtheater
Je komplexer die Organismen
werden, umso stärker lösen sie
sich von den äußeren
Lebensbedingungen ab
Dieses Buch ist eine
Liebeserklärung an eine Natur,
die übertreibt. Im Kern
ist es ein Buch über die Freiheit.
Ein Blauer Pfau will mit seiner aufgestellten Schleppe zur Balz verführen: Die vor Variation und Formenvielfalt geradezu berstende Natur liefert ein grandioses Bildtheater. Nur warum tut sie das? Foto: Patrick Pleul/dpa
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Josef H. Reichholfs große Studie über den „Ursprung der Schönheit“ beschreibt die Evolution als Reich der Möglichkeiten und der produktiven Verschwendung / Von Horst Bredekamp
Die gutmeinenden Kritiken verbargen nur mühsam ihre Irritation, dahinter stand eine massive Wand der Ablehnung. Der zweite Teil der 1871 publizierten „Abstammung des Menschen“ enthielt Charles Darwins Abhandlung zur „sexuellen Auslese“, die seinen vielleicht größten Misserfolg darstellte. Darwin hatte vor dem Problem gestanden, dass er die in ihrer Variation und Formenvielfalt geradezu berstende Natur mit Hilfe der „natürlichen“ Auslese allein nicht glaubte erklären zu können. Um diesen Zwiespalt zu schließen, schuf er jene Theorie der „sexuellen“ Auslese, derzufolge das weibliche Auge als Agens der Evolution in Rechnung zu stellen sei. Diese sogenannte female choice folge keinesfalls allein jener Bindung, die durch Stärke und Überlebensgarantie entstehe; vielmehr funktioniere das weibliche Interesse wesentlich nach einem anderen Prinzip, das als Sehnsucht nach Variation zu erklären sei. Damit aber bestimmte der Naturforscher Darwin die Biologie in einer gewissen Weise als eine Art erotischer Form-, wenn nicht sogar Kunstgeschichte. Denn insofern er die Körper der Tiere als selbstproduzierte Bilder ansah, definierte er seine zweite Säule der Evolution als ein ungeheures Bildtheater, das sich aus dem Wechselspiel zwischen dem nach Variation suchenden Auge der Weibchen und der sich andienenden Mutationsbereitschaft der Männchen ergab.
Weggefährten wie Alfred R. Wallace reagierten auf Darwins Theorie mit deutlicher Ablehnung, weil für sie nicht zu akzeptieren war, dass es einen vom Anpassungsdruck an die Umwelt gelösten Variationstrieb geben sollte.
Dieses Unbehagen hat die Evolutionsbiologie niemals ganz verlassen, selbst wenn die Theorie der sexuellen Auslese immer wieder von Außenseitern aufgenommen und vom Mainstream der Evolutionsbiologie vorsichtig integriert und weiterentwickelt wurde. Es kamen kulturell bedingte Vorbehalte hinzu. Im Gegensatz zu der 1859 erschienenen Abhandlung „The Origin of species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“, in der Darwin mit seiner Lehre von der natürlichen Auslese einen Nerv der zeitgenössischen Entfesselung der kapitalistischen Lebens- und Überlebenswelt getroffen hatte, forderte sein Konzept der sexuellen Auslese ungewollt den Viktorianismus in seinem neurotischen Kern der Triebbeherrschung heraus. Hieraus resultierte eine Abwehr, die aus psychologisch uneingestandenen Quellen stammte und daher zunächst kaum zu überwinden war.
Der groß angelegte Versuch des Münchener Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf sieht von diesen Querelen der Wissenschaftsgeschichte ab, weil ihm Darwins Grundidee als selbstevident gesichert erscheint. Er fragt weniger nach deren Berechtigung als vielmehr nach der Lösung von sich hieraus ergebenden Problemen. Sein Buch führt eine beeindruckende Fülle von Erkenntnissen vor, die der Autor mit ergreifender sprachlicher Kraft als fundamentale Fragen der Evolutionsbiologie formuliert.
Die Theorie der sexuellen Auslese ist auf die Kategorie der Schönheit angewiesen. Mit George Levin und Winfried Menninghaus haben Literaturwissenschaftler die bislang umfassendsten Darstellungen dieses Begriffs im Werk von Charles Darwin vorgelegt. Reichholf würdigt diesen Zugang, verspricht aber, Darwins Problem direkt in der Natur selbst aufzuspüren. Der Autor ist sich darüber im Klaren, dass auch die Suche nach der „Sache selbst“ das Produkt einer theoretischen Entscheidung ist, und durchzieht daher seine Beispielreihen immer wieder mit Reflexionen über die Berechtigung des Vorgehens und der sich hieraus ergebenden Grundfragen.
Das Buch zeigt sich in jenen Passagen auf der Höhe seiner Ansprüche, in denen der Autor aus der Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse zur eigenen Beobachtung des Balzverhaltens eines Birkhahns oder auch der Konsistenz der Vogelfeder springt. Hier gewinnt sein Text eine Qualität, die an die funkelndsten Passagen Darwins heranreicht. Am Ende seiner „Origin of Species“, der Beschreibung eines unberührten Landfleckens, hat Darwin die Kategorie des Schönen in einer Beseeltheit eingeführt, die ihm den Status eines begnadeten Schriftstellers eingebracht hat, und auch in manchen Kapiteln der „Sexual selection“ dringt die bewundernde Begeisterung für die Geschöpfe der Natur als Kunstwerke durch.
Darwins Paradebeispielen des Pfaues und des Argusfasans widmet sich zunächst auch Reichholf im Rahmen seiner umfangreichen Erörterung der Vogelwelt. Das immer wieder anzutreffende Nicht-Erwartbare führt ihn zur Frage, ob in der Vielfalt eine Ordnung zu erkennen sei. Eingängige Antworten sind demzufolge schwierig, weil der Mensch allein schon die Farben anders wahrnimmt als die betreffenden Tiere. Zudem erschöpft sich die Rolle der Abundanz, der Vielfalt, des Überflusses, für die Entwicklung der Arten nicht nur in Formen und Farben, sondern auch im Variantenreichtum und der Individualität der Stimmen und Gesänge. Auch sie sind jenseits der Sphäre purer Notwendigkeit anzusiedeln.
Als zentrales Beispiel führt der Autor den Hirsch und das Zusammenspiel von einer eigentümlichen Geweihform und seiner betörenden Akustik an. Für die Hirschkühe sind nicht etwa, wie es zu erwarten gewesen wäre, die aggressivsten Artgenossen attraktiv. Sogenannte Mörderhirsche, die den Kontrahenten töten, werden eher verschmäht, wohingegen die Träger von Geweihen, die wie ganze Baumkronen anmuten, und dazu tief röhrende Stimmen besitzen, weitaus höhere Chance haben, von den Hirschkühen angenommen zu werden. Die Darlegung dieses den Hirschen eigenen Balzverhaltens gehört zu jenen Teilen des Buches, in denen der Autor mit Inbrunst die über unzählige Generationen sich vollziehende Prachtentfaltung verfolgt.
Biologen dürften am stärksten beeindruckt sein von Reichholfs Zurückweisung der sogenannten Handicap-Theorie, derzufolge die außergewöhnlichsten Prachtgewänder wie etwa die Pfauenfedern als Ausweis dienten, dass sich die Träger derartig luxuriöse Schwächungen im Überlebenskampf aufgrund ihrer Kraft und Gesundheit leisten konnten. Reichholf zeigt an einer Reihe von Fällen, dass die Schönheit durchaus Gesundheit signalisieren kann, die dem Weibchen als Ehrlichkeitszeichen dargeboten wird. Die Schönheit wird hier mit einem Ausdruck der Sicherheit gepaart, die anzeigt, dass der Partner kräftige Nachkommen zeugen und für den Nachwuchs sorgen könne.
Dieser maßvollen Bestätigung aber steht eine in zwei Extreme gehende Widerlegung der Handicap-Theorie gegenüber. Zunächst deutet Reichholf das, was als Handicap erscheint, als durchaus funktional, und hierin widerspricht er auch Darwin. So kann ihm zufolge gerade das massive Gefieder des Pfaues als ein Schutz wirken, weil es bei einem Angriff als Puffer fungiert und zudem blitzschnell durch Schreckmauser abgeworfen werden kann. Mit einer theatralisch inszenierten Luxusschwäche hat der Pfauenschwanz folglich nichts zu tun.
Reichholfs entscheidende Absage an die Lehre vom Handicap aber setzt mit der Überzeugung, dass die Formschönheit in einer Art Selbstlauf der Ausschüttung überschüssiger Lebensenergien entstehe, am diametral entgegengesetzten Punkt an. Als Zebrafinken in einem Versuch mit bunten Ringen an den Beinen ausgestattet wurden, kam es zu einer signifikanten Bevorzugung dieser Artgenossen, womit gezeigt werden konnte, dass die Abweichung über alle anderen Kriterien der Anziehungskraft gesiegt hatte. Hieraus wie aus anderen Beobachtungen zieht der Autor den Schluss, dass es nicht notwendigerweise äußere Bedingungen sind, die zur abweichenden Paarung und damit zum evolutionären Schub führen, sondern vielmehr die Möglichkeitsformen einer internen Entwicklung.
Damit aber ist für Reichholf die Evolution als Wechselspiel von Außenwirkung und innerer Reaktion nur unzureichend beschrieben. In der Anpassung wirke vielmehr ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, das alle Mechanik der Notwendigkeiten relativiere. Im Kern ist diese Neuformulierung der sexuellen Auslese eine Reflexion über die Freiheitsgrade der Evolution. Je komplexer die Organismen werden, umso stärker lösen sie sich von den äußeren Lebensbedingungen ab, um die Attraktion der Schönheit ihr anarchisches Spiel treiben zu lassen.
Mit diesem Schluss widmet sich der Autor gemeinsam mit Miki Sakamoto einer Bestimmung auch des menschlichen Verhaltens. Auch hier ist die Definition der Schönheit berührt. Sie lässt sich Reichholf zufolge keinesfalls auf eine messbare Symmetrie und den Eindruck von Wohlbefinden reduzieren; vielmehr muss die Spannung einer Abweichung vom erwarteten Durchschnittsmuster hinzukommen. Die überlagerten Idealbilder des als schön erachteten Menschen wirken angenehm, aber auch nichtssagend und wenig attraktiv, weil ihrem Ebenmaß der Stachel der Abweichung fehlt. Bereits für Darwin bot dieser die einzige Möglichkeit, Schönheit zu definieren. Er hat sie als Variabilität und Abweichung bestimmt: variety. In dieser Definition können auch hässlich wirkende Formelemente die Kategorie der beauty erreichen, sowie sie als Abweichung erkennbar sind. Erst dies erlaubt es, die Evolution als Suche des weiblichen Auges nach der Abweichung zu begreifen.
In diesem Zusammenhang ist bedauerlich, dass der Autor einer Reihe profunder kunst- und kulturgeschichtlicher Erörterungen dieses Problems nicht mehr hat aufnehmen können: „Endless forms“ (Cambridge und New Haven 2009), „Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen“ (Frankfurt am Main 2009) sowie „Was ist schön?“ (Dresden 2010). Im Katalog der Dresdner Ausstellung des Hygiene-Museums hat Menninghaus Darwins Faible für die Frage der Ornamentierung aus der britischen Vorliebe für das Ornament und dessen kunsttheoretischer Fassung entwickelt. Wenn Mario Praz, so könnte gefolgert werden, die englische Schauerromantik als einen solchen Revenant des verdrängten Bilderschatzes erklärt hat, so wirkt Darwins Konzept der sexuellen Auslese wie eine Verlagerung dieses Impulses in die Natur. Darwins Konzept der sexuellen Selektion kann vor diesem Hintergrund auch als natürliche Spielart der Wiederkehr der verdrängten katholischen Bilderwelt begriffen werden. In diesen Bezügen deuten sich die begrifflichen Rahmenstellungen an, unter denen Darwin seine zweite Grundidee entwickeln konnte. Dies relativiert sie nicht, sondern es definiert die Möglichkeitsform seines eigenen kulturellen Ambientes.
Begrifflich hätte es daher gutgetan, wenn der Verfasser die später im Sozialdarwinismus so verheerende Formel vom „survival of the fittest“ nicht Darwin, sondern vielmehr dem Urheber Charles Spencer zugeschrieben hätte. Er hätte hier mit einem Vorurteil aufräumen können, zumal Darwin selbst, als er das Prinzip der sexuellen Auslese ausführte, den Stoßseufzer tat: „Too much (. . . ) survival of the fittest“. Angesichts der Material- und Aspektfülle des Buches dürfte es nicht ausbleiben, dass Fachleute ihm Schwächen im Detail und Auslassungen vorwerfen werden; so ist schwer erklärlich, warum das 2006 erschienene, zweibändige Sammelwerk „Bird Coloration“ fehlt. Aber Monita dieser Art reichen nicht bis zur Substanz des Buches. Der Leser spürt, dass es in Zeiten der molekularbiologischen Großstudien an eine Forschung erinnern möchte, welche die lebendigen Wesen in ihrer natürlichen oder auch künstlich geformten Umwelt wahrzunehmen und durchaus auch zu bewundern versteht. Und darin ist es eine Art Liebeserklärung an eine Natur, die nicht allein nützlich, sondern auch verschwenderisch ist, die nicht nur den Erwartungen entspricht, sondern übertreibt, und die das Theatralische für ebenso wichtig hält wie die maschinell wirkende Mechanik der natürlichen Auslese. Im Kern ist es ein Buch über die Freiheit. Wohl selten zuvor ist die Evolution in vergleichbarer Weise nicht als Reich der harten Notwendigkeit, sondern der formabundanten Möglichkeiten beschrieben worden.
Der Autor zieht seine Schlüsse aus der unmittelbaren Anschauung der Natur, um doch zu Ergebnissen zu kommen, die in ihren Folgerungen erkennbar einen kritischen Zeitbezug besitzen. Sein Buch verteidigt das gegenwärtig so prekäre Gut des Altruismus in der Frage, warum die Hirschgeweihe sich auf eine Weise entwickelt haben, dass sie den Gegner nicht zu tief verletzen. Es erkennt zudem eine Art ausgleichender Gerechtigkeit darin, dass Männchen zwar die bessere Überlebenschance haben, die Weibchen aus diesem Grund aber das Privileg der Auswahl besitzen. Schließlich definiert er die Kategorie der Freiheit als das Produkt einer Suche nach Schönheit, die in der Natur selbst als evolutionärer Prozess abläuft.
Das Prinzip der sexuellen Auslese begünstigt Reichholf zufolge den Altruismus, die Gerechtigkeit und die Freiheit. Darwin hat die Natur bisweilen als das große „Schlachthaus“ bezeichnet, aber seine Theorie der sexuellen Auslese bot das Bild einer produktiven Verschwendung. Wer glaubt, dass Darwins zweite Theorie zu schön ist, um wahr sein zu können, wird es nach Lektüre dieses Buches schwerer haben.
JOSEF H. REICHHOLF: Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma. Verlag C. H. Beck, München 2011. 302 Seiten, 19,95 Euro.
Der Rezensent ist Kunsthistoriker an der Berliner Humboldt-Universität und Autor des Buches „Darwins Korallen“ (Wagenbach Verlag, 2005).
Im Wechselspiel der suchenden
Weibchen und der sich andienenden
Männchen entfaltet sich ein
ungeheures Bildtheater
Je komplexer die Organismen
werden, umso stärker lösen sie
sich von den äußeren
Lebensbedingungen ab
Dieses Buch ist eine
Liebeserklärung an eine Natur,
die übertreibt. Im Kern
ist es ein Buch über die Freiheit.
Ein Blauer Pfau will mit seiner aufgestellten Schleppe zur Balz verführen: Die vor Variation und Formenvielfalt geradezu berstende Natur liefert ein grandioses Bildtheater. Nur warum tut sie das? Foto: Patrick Pleul/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für den Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat der Autor ein Buch über die Freiheit geschrieben. Josef H. Reichholfs Auseinandersetzung mit Darwin zeugt laut Bredekamp von einer großen Portion Liebe des Autors für die Natur, die er anhand unmittelbarer Anschauung (etwa der Form und Funktion von Hirschgeweihen oder von Vogelfedern) als nicht bloß nützlich, sondern auch verschwenderisch schön und theatralisch kennenlernt. Dass Reichholf für seine groß angelegte evolutionsbiologische Untersuchung in den Wald geht, aber auch sprachmächtig fundamentale Fragen formuliert und kritischen Zeitbezug erkennen lässt, indem er etwa den Altruismus verteidigt, freut Bredekamp sichtlich. Die ein oder andere Auslassung oder Detailschwäche findet er angesichts einer solchen Fülle nützlicher Schönheit und ihres "anarchischen Spiels" verzeihlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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