Wenn Gene festlegen, dass wir z. B. für Krebs oder Diabetes anfällig sind, lässt sich vermuten, dass sie auch unser psychisches Leben mitgestalten. Doch auf welche Weise beeinflussen sie unsere Persönlichkeit, unser Denken und Handeln? Wir sind zwar keine Sklaven unserer Gene, so Marcus, doch weil sie das Neuronenwachstum steuern, wirken sie prägend auf Geist und Psyche. Denn erst im Wechselspiel zwischen Genen und Umwelt entscheidet sich, wie der Geist sich entfaltet. Marcus klärt über gängige Missverständnisse im Hinblick auf die Gene auf und zeigt, wie sich unser Gehirn unter dem Einfluss von Erfahrungen immer wieder neu strukturiert. Anhand neuester Erkenntnisse aus Hirnforschung und Biologie entsteht ein faszinierendes Szenario, das die alte Gene-Umwelt-Debatte in völlig neuem Licht erscheinen lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2005Die Backrezepte des Geistes
Einleuchtend: Gary Marcus erklärt, wie Gene unser Denken prägen
Auf die Demütigungen, die der wissenschaftliche Fortschritt dem Menschen zufügte, als er ihn aus der Mitte des Universums riß, sein Herz einer mechanischen Pumpe gleichsetzte und seinen Körper der atomaren Beschreibung unterwarf, reagiert der Alltagsverstand mit stillem Trotz und will wenigstens sein Gehirn und seinen Geist nicht unterschiedslos der Funktionsweise der körperlichen Welt subsumiert wissen. Während es also einerseits wenig Probleme bereitet, die Genese des Körpers aus seinem Genom zu erklären, da formieren sich andererseits rasch Widerstände, wenn es darum geht, genetische Erklärungsmuster auf Gehirn und Geist zu verwenden. Jenseits von Neurowissenschaft und Molekularbiologie bleibt eine Scheu, das Gehirn in dasselbe Korsett einer genetischen Erklärung wie den Rest des Körpers zu stecken, die mit der Furcht verbunden ist, den Geist dabei einer deterministischen Deutung auszusetzen, welche den Menschen zum willenlosen Exekutoren eines genetischen Bauplans macht.
Daß es möglich ist, Geist und Gehirn in ihrer genetischen Abhängigkeit zu erklären, ohne dabei in Fatalismus zu verfallen, ist die These, die der New Yorker Psychologe Gary Marcus in seinem faktenreichen und mitreißenden Buch verficht. Marcus, ein akademischer Grenzgänger, der sich von der Psychologie über die Linguistik zur Hirnforschung vorarbeitete, um seine Herkunftsdisziplin auf ihre vernachlässigte biologische Basis zu stellen, will nicht nur darlegen, daß Geist und Gene voneinander abhängen, sondern auf molekularbiologischer Ebene "zum ersten Mal" auch den Nachweis führen, wie sie das tun. Diese eher vom Laienverstand als von biologischer Sachkenntnis bestrittene These untermauert Marcus mit einem Arsenal von Experimenten, die er unterschiedlichen Wissensgebieten wie der Ethologie, der Psychologie, vor allem den neurowissenschaftlichen Befunden der letzten Dekade entlehnt und die in ihrer Fülle keinen Zweifel an der komplexen genetischen Bedingtheit des Geistes lassen.
Marcus tritt mit dem kopernikanischen Pathos des Neuerers auf, der mit der Sonderstellung von Gehirn und Geist gegenüber den Genen aufzuräumen verspricht. Nicht nur die anfängliche Struktur des Gehirns ist ihm zufolge ein Produkt unserer genetischen Ausstattung. Auch nach der Bildung einer neuralen Grundstruktur bleiben die Gene bei der fortschreitenden Formation des Gehirns aktiv. In so gut wie jeden Prozeß, der im Leben einer Zelle von Bedeutung ist - bei Zellteilung, Zellmigration, Zelldifferenzierung und programmiertem Zelltod -, greifen Gene in einem komplexen System sich selbst regulierender Mechanismen modulierend ein. Was kein Grund zum Fatalismus ist, denn Marcus' These zufolge sind diese genetischen Prozesse nicht (wie dies häufig getan wird) mit der sturen Abarbeitung einer Blaupause zu vergleichen. Näher komme man ihrer Bedeutung, wenn man sie als eine Art "Backrezept" verstehe, das jedem einzelnen Gen ein Verhaltensmuster bereitstelle, mit dem es flexibel auf seine Umwelt reagieren könne. Anders als es weite Teile der Psychologie annehmen, gleicht der Geist daher nicht einem leeren Blatt, das Sinnesreize erst beschreiben müssen. Er ist aber auch kein unverrückbarer Mechanismus, der allen äußeren Einflüssen gegenüber unverändert bleibt.
Zwar hängt die grundlegende Struktur des jungen Gehirns nur in sehr geringem Maße von äußeren Erfahrungen ab. Die Erbanlagen sorgen jedoch nur für einen Rohentwurf, eine Art "Vorverdrahtung" des Gehirns, die von der Erfahrung überarbeitet werden kann. Das Prinzip der Plastizität erlaubt selbst dem erwachsenen Gehirn, in Reaktion auf Sinnesreize aus der Außenwelt Neuverdrahtungen vorzunehmen. Noch deutlicher hinterlassen Umwelterfahrungen in dem wesentlich flexibleren jungen Gehirn ihre synaptischen Spuren, an deren Bildung die Gene nicht unbeteiligt sind.
Der Frage, auf welche Weise die Gene in den Betrieb des Gehirns eingreifen, rückt der von den computationalen Geistestheorien der Kognitionswissenschaft geprägte Marcus mit der Begrifflichkeit der rekursiven Funktionentheorie zu Leibe und unterscheidet zwei Gen-Regionen: Während die Dann-Region eines Gens "Rezepte" für die Kodierung von Proteinen, den molekularen Arbeitsmaschinen der Zelle, enthält, entscheidet die regulatorische Wenn-Region, wann der Matrizenteil eines Gens in das entsprechende Protein übersetzt wird. Das einzelne Gen kann so nicht nur ein festes Programm abspulen, sondern über seine regulatorische Region auch auf Proteinsignale anderer Gene reagieren.
Die daraus resultierende Interaktion der Gene erklärt, wie die nur 30 000 Gene des Genoms ein komplexes Netz bilden können, das Billionen von Nervenzellen steuern kann; sie macht verständlich, weshalb die gleichermaßen durch Umwelt, genetische Programmierung und genetischen Austausch bestimmte Entwicklung des Gehirns ein so großes Maß an Flexibilität aufweist - und sie beantwortet nicht zuletzt die Frage, weshalb der Mensch trotz minimaler Abweichung seines genetischen Inventars völlig andere mentale Funktionen als etwa der ihm genetisch zu 98 Prozent gleichende Schimpanse ausbildet.
Wo sich das allen Säugetieren gemeinsame Steuerungsinstrument der Gehirnevolution, der "ontogenetische Werkzeugkasten", beim Menschen kaum von dem einfacher Tierarten unterscheidet, da erlaubt die größere Flexibilität seiner regulatorischen Genregion dem menschlichen Gehirn eine größere funktionale Ausdifferenzierung. Auch bei Lernvorgängen macht sich der Einfluß der regulatorischen Genkaskaden bemerkbar und trägt zur Bildung synaptischer Spuren bei. Erst und auch seine Gene machen den Menschen lernfähig.
Wo Marcus der Verheißung seines Titels gerecht werden und anhand des Sprachursprungs auch den Ursprung des menschlichen Geistes genetisch herleiten will, bleiben seine Ausführungen auf Andeutungen beschränkt. Die Leistung seines Buches besteht eher darin, Ergebnisse verschiedener biologischer Forschungsfelder, die offensichtlich noch nicht in benachbarte Disziplinen wie die Psychologie vorgedrungen sind, unter der These von der genetischen Bedingtheit des Gehirns zu bündeln und dabei den Blick für die komplexitätserklärende Bedeutung der regulatorischen Kaskaden zu schärfen. Daß er dabei nicht nur überzeugen, sondern auch bestens unterhalten kann, ist nicht sein geringstes Verdienst.
THOMAS THIEL
Gary Marcus: "Der Ursprung des Geistes". Wie Gene unser Denken prägen. Aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk. Walter Verlag, Düsseldorf, Zürich 2005. 308 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einleuchtend: Gary Marcus erklärt, wie Gene unser Denken prägen
Auf die Demütigungen, die der wissenschaftliche Fortschritt dem Menschen zufügte, als er ihn aus der Mitte des Universums riß, sein Herz einer mechanischen Pumpe gleichsetzte und seinen Körper der atomaren Beschreibung unterwarf, reagiert der Alltagsverstand mit stillem Trotz und will wenigstens sein Gehirn und seinen Geist nicht unterschiedslos der Funktionsweise der körperlichen Welt subsumiert wissen. Während es also einerseits wenig Probleme bereitet, die Genese des Körpers aus seinem Genom zu erklären, da formieren sich andererseits rasch Widerstände, wenn es darum geht, genetische Erklärungsmuster auf Gehirn und Geist zu verwenden. Jenseits von Neurowissenschaft und Molekularbiologie bleibt eine Scheu, das Gehirn in dasselbe Korsett einer genetischen Erklärung wie den Rest des Körpers zu stecken, die mit der Furcht verbunden ist, den Geist dabei einer deterministischen Deutung auszusetzen, welche den Menschen zum willenlosen Exekutoren eines genetischen Bauplans macht.
Daß es möglich ist, Geist und Gehirn in ihrer genetischen Abhängigkeit zu erklären, ohne dabei in Fatalismus zu verfallen, ist die These, die der New Yorker Psychologe Gary Marcus in seinem faktenreichen und mitreißenden Buch verficht. Marcus, ein akademischer Grenzgänger, der sich von der Psychologie über die Linguistik zur Hirnforschung vorarbeitete, um seine Herkunftsdisziplin auf ihre vernachlässigte biologische Basis zu stellen, will nicht nur darlegen, daß Geist und Gene voneinander abhängen, sondern auf molekularbiologischer Ebene "zum ersten Mal" auch den Nachweis führen, wie sie das tun. Diese eher vom Laienverstand als von biologischer Sachkenntnis bestrittene These untermauert Marcus mit einem Arsenal von Experimenten, die er unterschiedlichen Wissensgebieten wie der Ethologie, der Psychologie, vor allem den neurowissenschaftlichen Befunden der letzten Dekade entlehnt und die in ihrer Fülle keinen Zweifel an der komplexen genetischen Bedingtheit des Geistes lassen.
Marcus tritt mit dem kopernikanischen Pathos des Neuerers auf, der mit der Sonderstellung von Gehirn und Geist gegenüber den Genen aufzuräumen verspricht. Nicht nur die anfängliche Struktur des Gehirns ist ihm zufolge ein Produkt unserer genetischen Ausstattung. Auch nach der Bildung einer neuralen Grundstruktur bleiben die Gene bei der fortschreitenden Formation des Gehirns aktiv. In so gut wie jeden Prozeß, der im Leben einer Zelle von Bedeutung ist - bei Zellteilung, Zellmigration, Zelldifferenzierung und programmiertem Zelltod -, greifen Gene in einem komplexen System sich selbst regulierender Mechanismen modulierend ein. Was kein Grund zum Fatalismus ist, denn Marcus' These zufolge sind diese genetischen Prozesse nicht (wie dies häufig getan wird) mit der sturen Abarbeitung einer Blaupause zu vergleichen. Näher komme man ihrer Bedeutung, wenn man sie als eine Art "Backrezept" verstehe, das jedem einzelnen Gen ein Verhaltensmuster bereitstelle, mit dem es flexibel auf seine Umwelt reagieren könne. Anders als es weite Teile der Psychologie annehmen, gleicht der Geist daher nicht einem leeren Blatt, das Sinnesreize erst beschreiben müssen. Er ist aber auch kein unverrückbarer Mechanismus, der allen äußeren Einflüssen gegenüber unverändert bleibt.
Zwar hängt die grundlegende Struktur des jungen Gehirns nur in sehr geringem Maße von äußeren Erfahrungen ab. Die Erbanlagen sorgen jedoch nur für einen Rohentwurf, eine Art "Vorverdrahtung" des Gehirns, die von der Erfahrung überarbeitet werden kann. Das Prinzip der Plastizität erlaubt selbst dem erwachsenen Gehirn, in Reaktion auf Sinnesreize aus der Außenwelt Neuverdrahtungen vorzunehmen. Noch deutlicher hinterlassen Umwelterfahrungen in dem wesentlich flexibleren jungen Gehirn ihre synaptischen Spuren, an deren Bildung die Gene nicht unbeteiligt sind.
Der Frage, auf welche Weise die Gene in den Betrieb des Gehirns eingreifen, rückt der von den computationalen Geistestheorien der Kognitionswissenschaft geprägte Marcus mit der Begrifflichkeit der rekursiven Funktionentheorie zu Leibe und unterscheidet zwei Gen-Regionen: Während die Dann-Region eines Gens "Rezepte" für die Kodierung von Proteinen, den molekularen Arbeitsmaschinen der Zelle, enthält, entscheidet die regulatorische Wenn-Region, wann der Matrizenteil eines Gens in das entsprechende Protein übersetzt wird. Das einzelne Gen kann so nicht nur ein festes Programm abspulen, sondern über seine regulatorische Region auch auf Proteinsignale anderer Gene reagieren.
Die daraus resultierende Interaktion der Gene erklärt, wie die nur 30 000 Gene des Genoms ein komplexes Netz bilden können, das Billionen von Nervenzellen steuern kann; sie macht verständlich, weshalb die gleichermaßen durch Umwelt, genetische Programmierung und genetischen Austausch bestimmte Entwicklung des Gehirns ein so großes Maß an Flexibilität aufweist - und sie beantwortet nicht zuletzt die Frage, weshalb der Mensch trotz minimaler Abweichung seines genetischen Inventars völlig andere mentale Funktionen als etwa der ihm genetisch zu 98 Prozent gleichende Schimpanse ausbildet.
Wo sich das allen Säugetieren gemeinsame Steuerungsinstrument der Gehirnevolution, der "ontogenetische Werkzeugkasten", beim Menschen kaum von dem einfacher Tierarten unterscheidet, da erlaubt die größere Flexibilität seiner regulatorischen Genregion dem menschlichen Gehirn eine größere funktionale Ausdifferenzierung. Auch bei Lernvorgängen macht sich der Einfluß der regulatorischen Genkaskaden bemerkbar und trägt zur Bildung synaptischer Spuren bei. Erst und auch seine Gene machen den Menschen lernfähig.
Wo Marcus der Verheißung seines Titels gerecht werden und anhand des Sprachursprungs auch den Ursprung des menschlichen Geistes genetisch herleiten will, bleiben seine Ausführungen auf Andeutungen beschränkt. Die Leistung seines Buches besteht eher darin, Ergebnisse verschiedener biologischer Forschungsfelder, die offensichtlich noch nicht in benachbarte Disziplinen wie die Psychologie vorgedrungen sind, unter der These von der genetischen Bedingtheit des Gehirns zu bündeln und dabei den Blick für die komplexitätserklärende Bedeutung der regulatorischen Kaskaden zu schärfen. Daß er dabei nicht nur überzeugen, sondern auch bestens unterhalten kann, ist nicht sein geringstes Verdienst.
THOMAS THIEL
Gary Marcus: "Der Ursprung des Geistes". Wie Gene unser Denken prägen. Aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk. Walter Verlag, Düsseldorf, Zürich 2005. 308 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Von Wenn-Region zu Dann-Region
Wie können so wenige Gene einen komplexen Organismus beschreiben? Und wieso ist dieser trotz genetischer Programmierung so flexibel? Gary Marcus gibt auf diese Fragen eine so kenntnisreiche wie unterhaltsame Antwort
Von Christoph von der Malsburg
Erkenne Dich selbst stand über dem Appollontempel in Delphi. Diese uralte Aufforderung erhält durch jüngste Erkenntnisse der Biologie zur genetischen Steuerung der Ontogenese - des Vorgangs, der uns vom befruchteten Ei zum Menschen macht - ein neues Gesicht. Zur Einrichtung unseres individuellen und sozialen Lebens sollten wir wissen, wer wir sind, welche Möglichkeiten und Begrenzungen wir haben. Kommen wir als tabula rasa zur Welt, als plastische Knetmasse in den Händen sozialer Erziehungsprogramme, wie eine gewisse Ideologie es sehen wollte, oder ist uns der Lebensweg durch die Gene starr vorgegeben, so dass soziale Unterschiede als gottgegeben hinzunehmen wären, wie uns an einem anderen Ende des Spektrums nahe gelegt wird?
Sollten wir, sobald die Wissenschaft das möglich macht, in die Gene eingreifen? Was sind die Möglichkeiten und ethischen Grenzen solcher Eingriffe? Wie sollten die Erziehungs- und Sozialsysteme der Zukunft aussehen? Sollten Sie einfache Antworten auf diese Fragen haben, dann ist es an der Zeit, das Buch von Gray Marcus in die Hand zu nehmen: danach geht Ihnen ein Mühlrad im Kopf herum. Was immer Ihre festen Überzeugungen zu diesen Grundfragen sind, durch überzeugende Gegenargumente und Experimente werden sie in Frage gestellt. Und Marcus Buch platzt aus den Nähten vor Berichten über Experimente der molekularbiologischen, genetischen, psychologischen oder verhaltensbiologischen Art. Umfassendes Literaturwissen ist die Stärke des Buches.
Das Mantra des Buches, hundertmal wiederholt, ist die Aussage, die Gene seien keine Blaupause des Organismus, keine Konstruktionszeichnung des fertigen Gebildes, seien vielmehr ein Backrezept, ein strategischer Eventualplan.
Alle Gene, jedes einzelne für sich, sind Eventualpläne. An ihrem „unteren” Ende sind ihre Buchstabenfolgen übersetzbar in Proteine, die molekularen Arbeitspferde der Zelle, an ihrem „oberen” Ende aber stellen die Buchstaben der Gene Maschinerie dar, die entscheidet, ob und wann diese Übersetzung wirklich stattfinden soll. Marcus spricht von der Wenn-Region und der Dann-Region des Gens. Ein Gen feuert dann, wenn molekulare Schlüssel in genetische Buchstabenfolgen der Wenn-Region eingreifen. Da diese molekularen Schlüssel ihrerseits mittelbare oder unmittelbare Produkte anderer Gene sind, bildet unser gesamter Satz von 30 000 oder mehr Genen ein hochkomplexes Netz.
So wie eine Firma von interagierenden Menschen gestaltet wird, so die Ontogenese von Reaktionskaskaden der Gene. Das sicherlich packendste Resultat der Molekularbiologie der letzten beiden Jahrzehnte ist die Erkenntnis, dass das ontogenetische Steuerungsinstrument, der „ontogenetische Werkzeugkasten”, wie es genannt wird, uralt ist und uns den entferntesten Tierarten, Würmern wie Insekten, eng verwandt macht. So ist das Gen, das die Augenentstehung anstößt, pax6 genannt, bei allen Tierarten dasselbe.
Wenn sich dieses Instrumentarium im Laufe der Evolution auch differenziert und verfeinert hat, so hat man doch das Gefühl, dass verschiedene Tierarten nur verschiedene Melodien sind, die der große Pianist Evolution auf dem selben Instrument spielt. Die Hauptmasse des Genoms ist das Instrument, nicht die Melodie. Nur so erklärt sich, wie zwei Prozent genetischer Abweichungen den Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen ausmachen können. Und so lösen sich auch die beiden Paradoxe auf, die Marcus als Klammer seines Buch verwendet - wieso so wenige Gene einen so komplexen Organismus beschreiben können, und wieso dieser trotz genetischer Programmierung so flexibel ist.
Marcus wagt den Vergleich zwischen Ingenieur und genetischem Apparat und bezeichnet letzteren als weniger durchdacht als menschliche Technik. Ich fürchte, diese Bemerkung spiegelt nur mangelndes Verständnis wider für die kreative Tiefe des Instruments, von dem hier die Rede ist. Der Mensch ist in seinem Verhalten sicher das flexibelste aller Tiere. Grundlage für diese Flexibilität ist Lernen. Lernen ist aber nur möglich durch genetisch angelegte themenspezifische Mechanismen, wie Marcus am Beispiel von Tieren deutlich macht. Umwelt und Anlage greifen hier wie bei aller genetischen Steuerung ineinander ein. Daher hat die alte Streitfrage - angeboren oder erlernt, Nativismus oder Anti-Nativismus - keine einfache Antwort.
Sicher spielt beim Menschen die Sprache eine wichtige Rolle bei der Erweiterung des Lernrahmens. Der längste Einzelabschnitt des Buches widmet sich Spekulationen über den evolutiven Ursprung der Sprache, und hier ist eigentlich der einzige Punkt, wo Markus dem Titel des Buches, „Der Ursprung des Geistes”, Gerechtigkeit antut. Im übrigen macht er sich dagegen eher zum Advokaten einer „kopernikanischen Wende”, nach der das Gehirn des Menschen seiner genetischen Steuerung nach ein Organ ist wie andere mehr, und benennt zwar das Rätsel, wie ein Körperorgan zur Grundlage des Geistes werden kann, trägt dann aber wenig zu seiner Lösung bei.
Das Buch ist außerordentlich lesbar, unterhaltsam und sehr profitabel für alle Leser, die sich für die angedeuteten Fragestellungen interessieren, und auch der Spezialist wird sicher in dem reichen Anschauungsmaterial gelegentlich Neues und Interessantes finden. Die Aufgabe, das genetische Instrument zu verstehen, das die Evolution sich geschaffen hat und auf dem sie spielt wartet noch auf ihren Kopernikus, Kepler und Newton. Marcus liefert das heute verfügbare Material für das Nachdenken über die Frage, aber er ist hier nur Rapporteur, wenn auch ein eminent kenntnisreicher und unterhaltsamer.
Das Thema ist gewiss wichtiger für unser Leben als der Lauf der Sterne. Bevor wir uns ins nächste ideologische Abenteuer, das nächste soziale Experiment stürzen, sollten wir uns das Motto des Apollontemples zu Herzen nehmen und das Wesen der Organisationsvorgänge verstehen, auf denen unser Sein basiert. Hoffen wir, dass unser Newton schon geboren ist, und machen wir uns in der Zwischenzeit mit dem Material vertraut, das die Wissenschaft uns vorbereitet hat. Marcus Buch ist eine gute Gelegenheit dafür.
Gary Marcus
Der Ursprung des Geistes. Wie Gene unser Denken prägen
Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich 2005. 309 Seiten, 34,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Wie können so wenige Gene einen komplexen Organismus beschreiben? Und wieso ist dieser trotz genetischer Programmierung so flexibel? Gary Marcus gibt auf diese Fragen eine so kenntnisreiche wie unterhaltsame Antwort
Von Christoph von der Malsburg
Erkenne Dich selbst stand über dem Appollontempel in Delphi. Diese uralte Aufforderung erhält durch jüngste Erkenntnisse der Biologie zur genetischen Steuerung der Ontogenese - des Vorgangs, der uns vom befruchteten Ei zum Menschen macht - ein neues Gesicht. Zur Einrichtung unseres individuellen und sozialen Lebens sollten wir wissen, wer wir sind, welche Möglichkeiten und Begrenzungen wir haben. Kommen wir als tabula rasa zur Welt, als plastische Knetmasse in den Händen sozialer Erziehungsprogramme, wie eine gewisse Ideologie es sehen wollte, oder ist uns der Lebensweg durch die Gene starr vorgegeben, so dass soziale Unterschiede als gottgegeben hinzunehmen wären, wie uns an einem anderen Ende des Spektrums nahe gelegt wird?
Sollten wir, sobald die Wissenschaft das möglich macht, in die Gene eingreifen? Was sind die Möglichkeiten und ethischen Grenzen solcher Eingriffe? Wie sollten die Erziehungs- und Sozialsysteme der Zukunft aussehen? Sollten Sie einfache Antworten auf diese Fragen haben, dann ist es an der Zeit, das Buch von Gray Marcus in die Hand zu nehmen: danach geht Ihnen ein Mühlrad im Kopf herum. Was immer Ihre festen Überzeugungen zu diesen Grundfragen sind, durch überzeugende Gegenargumente und Experimente werden sie in Frage gestellt. Und Marcus Buch platzt aus den Nähten vor Berichten über Experimente der molekularbiologischen, genetischen, psychologischen oder verhaltensbiologischen Art. Umfassendes Literaturwissen ist die Stärke des Buches.
Das Mantra des Buches, hundertmal wiederholt, ist die Aussage, die Gene seien keine Blaupause des Organismus, keine Konstruktionszeichnung des fertigen Gebildes, seien vielmehr ein Backrezept, ein strategischer Eventualplan.
Alle Gene, jedes einzelne für sich, sind Eventualpläne. An ihrem „unteren” Ende sind ihre Buchstabenfolgen übersetzbar in Proteine, die molekularen Arbeitspferde der Zelle, an ihrem „oberen” Ende aber stellen die Buchstaben der Gene Maschinerie dar, die entscheidet, ob und wann diese Übersetzung wirklich stattfinden soll. Marcus spricht von der Wenn-Region und der Dann-Region des Gens. Ein Gen feuert dann, wenn molekulare Schlüssel in genetische Buchstabenfolgen der Wenn-Region eingreifen. Da diese molekularen Schlüssel ihrerseits mittelbare oder unmittelbare Produkte anderer Gene sind, bildet unser gesamter Satz von 30 000 oder mehr Genen ein hochkomplexes Netz.
So wie eine Firma von interagierenden Menschen gestaltet wird, so die Ontogenese von Reaktionskaskaden der Gene. Das sicherlich packendste Resultat der Molekularbiologie der letzten beiden Jahrzehnte ist die Erkenntnis, dass das ontogenetische Steuerungsinstrument, der „ontogenetische Werkzeugkasten”, wie es genannt wird, uralt ist und uns den entferntesten Tierarten, Würmern wie Insekten, eng verwandt macht. So ist das Gen, das die Augenentstehung anstößt, pax6 genannt, bei allen Tierarten dasselbe.
Wenn sich dieses Instrumentarium im Laufe der Evolution auch differenziert und verfeinert hat, so hat man doch das Gefühl, dass verschiedene Tierarten nur verschiedene Melodien sind, die der große Pianist Evolution auf dem selben Instrument spielt. Die Hauptmasse des Genoms ist das Instrument, nicht die Melodie. Nur so erklärt sich, wie zwei Prozent genetischer Abweichungen den Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen ausmachen können. Und so lösen sich auch die beiden Paradoxe auf, die Marcus als Klammer seines Buch verwendet - wieso so wenige Gene einen so komplexen Organismus beschreiben können, und wieso dieser trotz genetischer Programmierung so flexibel ist.
Marcus wagt den Vergleich zwischen Ingenieur und genetischem Apparat und bezeichnet letzteren als weniger durchdacht als menschliche Technik. Ich fürchte, diese Bemerkung spiegelt nur mangelndes Verständnis wider für die kreative Tiefe des Instruments, von dem hier die Rede ist. Der Mensch ist in seinem Verhalten sicher das flexibelste aller Tiere. Grundlage für diese Flexibilität ist Lernen. Lernen ist aber nur möglich durch genetisch angelegte themenspezifische Mechanismen, wie Marcus am Beispiel von Tieren deutlich macht. Umwelt und Anlage greifen hier wie bei aller genetischen Steuerung ineinander ein. Daher hat die alte Streitfrage - angeboren oder erlernt, Nativismus oder Anti-Nativismus - keine einfache Antwort.
Sicher spielt beim Menschen die Sprache eine wichtige Rolle bei der Erweiterung des Lernrahmens. Der längste Einzelabschnitt des Buches widmet sich Spekulationen über den evolutiven Ursprung der Sprache, und hier ist eigentlich der einzige Punkt, wo Markus dem Titel des Buches, „Der Ursprung des Geistes”, Gerechtigkeit antut. Im übrigen macht er sich dagegen eher zum Advokaten einer „kopernikanischen Wende”, nach der das Gehirn des Menschen seiner genetischen Steuerung nach ein Organ ist wie andere mehr, und benennt zwar das Rätsel, wie ein Körperorgan zur Grundlage des Geistes werden kann, trägt dann aber wenig zu seiner Lösung bei.
Das Buch ist außerordentlich lesbar, unterhaltsam und sehr profitabel für alle Leser, die sich für die angedeuteten Fragestellungen interessieren, und auch der Spezialist wird sicher in dem reichen Anschauungsmaterial gelegentlich Neues und Interessantes finden. Die Aufgabe, das genetische Instrument zu verstehen, das die Evolution sich geschaffen hat und auf dem sie spielt wartet noch auf ihren Kopernikus, Kepler und Newton. Marcus liefert das heute verfügbare Material für das Nachdenken über die Frage, aber er ist hier nur Rapporteur, wenn auch ein eminent kenntnisreicher und unterhaltsamer.
Das Thema ist gewiss wichtiger für unser Leben als der Lauf der Sterne. Bevor wir uns ins nächste ideologische Abenteuer, das nächste soziale Experiment stürzen, sollten wir uns das Motto des Apollontemples zu Herzen nehmen und das Wesen der Organisationsvorgänge verstehen, auf denen unser Sein basiert. Hoffen wir, dass unser Newton schon geboren ist, und machen wir uns in der Zwischenzeit mit dem Material vertraut, das die Wissenschaft uns vorbereitet hat. Marcus Buch ist eine gute Gelegenheit dafür.
Gary Marcus
Der Ursprung des Geistes. Wie Gene unser Denken prägen
Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich 2005. 309 Seiten, 34,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auch der Verfasser von "Der Ursprung des Geistes" hat keine rechte Antwort darauf, "wie Gene unser Denken prägen" (so der Untertitel des Buches). Noch warte die Menschheit auf ihren Kopernikus der Genetik, der mit seinem großen Universalschlüssel die Zauberreiche der Erklärung aufsperrt, stellt Rezensent Christoph von der Malsburg fest. Trotzdem preist er Gary Marcus für seine Studie. Denn Marcus stellt nicht nur all jene Informationen und erstaunlichen Tatsachen zusammen, die auch der künftige Gen-Kopernikus parat haben muss, um seine Arbeit zu tun, nein, er regt an, wirkt also durch seine Schrift ausgesprochen produktiv, lobt Malsburg. Wirklich beflügeln diese Ausführungen zur Struktur des Genoms den Rezensenten zu einem Lobpreis der Evolution, die er mit einem "großen Pianisten" vergleicht, für den "verschiedene Tierarten nur verschiedene Melodien sind". Offenbar also führt der Weg zur prästabilierten Harmonie über dieses Buch, und das ist keine kleine Empfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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