Thomas Brechenmacher erzählt die Geschichte der schwierigen, ja tragischen Beziehung zwischen Vatikan und Juden von der Einrichtung des römischen Ghettos im 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die lebhaft diskutierten Fragen nach dem Antisemitismus einiger Päpste und nach dem "Schweigen" Pius' XII. zum Holocaust erscheinen in dieser zeitlich weit zurückreichenden Perspektive, die bisher immer ausgeblendet wurde, aber auch durch zahlreiche Quellenfunde in den Vatikanischen Geheimarchiven in neuem Licht.
Das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden war über Jahrhunderte theologisch genau geregelt. Die Päpste erfüllten gegenüber Juden und Christen eine doppelte Schutzverpflichtung: Sie hatten einerseits die Christen vor "verderblichem Einfluß" der Juden, andererseits die Juden vor Übergriffen durch die Christen zu schützen. Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese "doppelte Schutzherrschaft" jedoch immer einseitiger zuungunsten der Juden gewichtet, je mehr sich die katholische Kirche durch Reformation, Aufklärung und Moderne in die Defensive gedrängt sah. Der dogmatische Anspruch, die Juden zu beschützen, und das tatsächliche, gegen die Juden gerichtete Handeln klafften immer weiter auseinander. Die Kirche wurde schließlich anfällig für den Antisemitismus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem nationalsozialistischen Judenmord fand sie auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einem neuen Verhältnis zu den Juden und zum Staat Israel.
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Das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden war über Jahrhunderte theologisch genau geregelt. Die Päpste erfüllten gegenüber Juden und Christen eine doppelte Schutzverpflichtung: Sie hatten einerseits die Christen vor "verderblichem Einfluß" der Juden, andererseits die Juden vor Übergriffen durch die Christen zu schützen. Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese "doppelte Schutzherrschaft" jedoch immer einseitiger zuungunsten der Juden gewichtet, je mehr sich die katholische Kirche durch Reformation, Aufklärung und Moderne in die Defensive gedrängt sah. Der dogmatische Anspruch, die Juden zu beschützen, und das tatsächliche, gegen die Juden gerichtete Handeln klafften immer weiter auseinander. Die Kirche wurde schließlich anfällig für den Antisemitismus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem nationalsozialistischen Judenmord fand sie auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einem neuen Verhältnis zu den Juden und zum Staat Israel.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Reinhard nimmt sich viel Raum, seine eigenen, vorsichtigen Überlegungen zum Thema "Der Vatikan und die Juden" auszubreiten, bevor er zu einem nicht ganz eindeutigen Urteil über Thomas Brechenmachers Studie gelangt. Eine "sorgfältige Langzeitanalyse" nennt er das Werk, "wissenschaftlich sauber dargelegt". Begeistert klingt es nicht. Leise Kritik übt Reinhard an der Brechenmacherischen Formel "doppelte Schutzherrschaft", mit der der Autor das Verhältnis der Päpste zu den Juden zu fassen versucht; gemeint ist, dass ebensowohl die Juden vor den Christen wie die Christen vor den Juden geschützt werden sollten. Reinhard wendet ein, dass die Profiteure im christlich-jüdischen Verhältnis doch wohl eindeutig die Christen waren. Insofern empfindet er die Ahnung von Gleichberechtigtheit, die in dem Terminus "doppelte Schutzherrschaft" liegt, "irreführend". Auch in anderen Punkten ist der Rezensent mit der Deutung seines Autors nicht ganz einverstanden. Aber das scheint dann wieder eher auf das Konto der professionellen Deformation zu gehen, wenn es später, als es um die Zeit des Nationalsozialismus geht, ganz deutlich heißt: "Brechenmacher weiß zu allem eine Fülle spannender Details aus den Quellen zu berichten."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2005Schwankende Zweideutigkeit
Thomas Brechenmachers Studie über den Vatikan und die Juden
Dieses Buch ist eine sorgfältige Langzeitanalyse der Entwicklung des päpstlichen Verhältnisses zu den Juden, die in der Spätantike ansetzt, rasch zur frühen Neuzeit übergeht und nach ausführlicher Schilderung des Lebens im damaligen römischen Ghetto den Zeitraum vom ausgehenden achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart besonders gründlich behandelt. Der Autor Thomas Brechenmacher kann sich dabei teilweise auf seinen gelehrten Wälzer "Das Ende der doppelten Schutzherrschaft" von 2004 stützen. Mehrjährige Forschungen in neu zugänglich gemachten vatikanischen Archivalien haben ihn zu allerhand genaueren Einzelerkenntnissen geführt, zusätzlich zur Verarbeitung der Literatur-Fluten, die inzwischen zum Thema Päpste und Juden existiert. Obwohl seine Sympathie neben den Juden durchaus den immer wieder anzutreffenden halbwegs judenfreundlichen Protagonisten der katholischen Kirche gehört, handelt es sich aber keineswegs um Apologetik. Dazu ist diese wissenschaftlich sauber dargelegte Geschichte im Ganzen viel zu unerfreulich.
Zu Recht geht Brechenmacher von der Tatsache aus, daß die Päpste über tausend Jahre jüdische Untertanen in ihrem Kirchenstaat und vor allem in ihrer Hauptstadt Rom hatten. Ihr dadurch nachhaltig geprägtes Verhältnis zu den Juden charakterisiert er mit einer von ihm erfundenen Formel als doppelte Schutzherrschaft. Denn die Päpste haben im Gegensatz zu den meisten Fürsten des Spätmittelalters und der Frühneuzeit ihre jüdischen Untertanen zwar immer wieder gedemütigt und kujoniert, aber nie wirklich verfolgt und vertrieben. Sie betrachteten es vielmehr als ihre Aufgabe, nicht nur die Christen durch Kontaktverbote vor dem angeblich schädlichen Einfluß der Juden zu schützen, sondern auch die Juden vor Verfolgung und Mißhandlung durch die Christen. Denn selbst als Volk von verworfenen Gottesmördern - sein Blut komme über uns und unsere Kinder (Matthäus 27, 25) - blieben sie als notwendiges Kontrastprogramm unverzichtbarer Bestandteil der Heilsgeschichte. Außerdem scheint bisweilen schon damals die Alternative des Paulus auf, die zur heute maßgebenden Vorstellungen von älteren und jüngeren Brüdern im Heil führen sollte: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamme Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat (Römer 11, 1-2). Geistlich sind wir Semiten, sollte Pius XI. 1938 sagen, Ich bin es, Josef, Euer Bruder Johannes XXIII. 1960.
Mir scheint allerdings manches an der Behandlung der Vormoderne und am Konzept der doppelten Schutzherrschaft nicht ganz überzeugend zu sein. Erstens wurde das überwiegend feindselige Verhältnis zwischen Christen und Juden lange vor Beginn der päpstlichen Judenherrschaft im Kirchenstaat geprägt; davon ist nicht die Rede. Zweitens erweckt der Begriff doppelte Schutzherrschaft den unzutreffenden Eindruck von Gleichgewichtigkeit und könnte insofern als verdeckt apologetisch kritisiert werden. Denn faktisch suchte sie zwar die Ausschreitungen des christlichen Pöbels zu bändigen, lief aber sonst nur selten auf Einschränkungen für die Christen hinaus, wie etwa im Falle der jüdischen Mieter des römischen Ghettos, denen das erbliche Wohnrecht mit einer 1604 bis 1870 unveränderten Miete garantiert wurde.
Die Juden hingegen besaßen zwar das Bürgerrecht, durften aber keine Ämter bekleiden, mußten ein Kennzeichen tragen, seit 1555 im Ghetto wohnen, sich regelmäßig Bekehrungspredigten anhören und waren noch allerhand anderen Auflagen unterworfen. Außerdem hängt die schon von früheren Forschern festgestellte schwankende Zweideutigkeit der päpstlichen Judenpolitik nicht nur mit der Ambivalenz ihrer theologischen Grundlagen zusammen. Brechenmacher stellt selbst den notorischen Widerspruch zwischen rigiden Normen und toleranter Praxis fest, der viele vormoderne Regimes kennzeichnet. Insofern ließ es sich ungeachtet gräßlicher Gesetze auch als Jude im Kirchenstaat ganz ordentlich leben. Denn in Rom wurde die Verbindung von unerbittlicher Konsequenz im Grundsätzlichen und weitreichender Großzügigkeit in der Lebenspraxis zum dauerhaften System entwickelt, nicht nur in der Judenpolitik. Wer die Prinzipien nicht in Frage stellt, kann tun und lassen, was er will.
Drittens hat Brechenmacher sicherlich recht, wenn er das zum Nachteil der Juden zunehmende Ungleichgewicht der doppelten Schutzherrschaft im letzten Jahrhundert des Kirchenstaates, von dem er dank seines großen Buches detailliert berichten kann, auf die Hilflosigkeit der Päpste gegenüber der modernen Welt zurückführt, auf die sie nur mit verzweifelter Defensive zu reagieren wußten. Er hätte sogar noch deutlicher betonen können, daß der emanzipierte und im Rahmen der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft überaus erfolgreiche Jude sich in diesem Rahmen ganz besonders zum Feindbild eignete. An Quellenbelegen dafür fehlt es bei ihm nicht. Hingegen halte ich die analoge Deutung der vorübergehenden Verschärfung der päpstlichen Judenpolitik unter dem Reformpapsttum der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts als Beginn dieser Defensive gegen die damals in Gestalt der Reformation zuerst auftretende Moderne für unbewiesen. So modern war die Reformation nicht, und der päpstliche Triumphalismus war alles andere als defensiv, sondern erreichte sogar einen neuen Höhepunkt. Weit eher dürfte es sich um eine Offensive gehandelt haben, vielleicht angeregt durch die Judenfeindschaft der katholischen Vormacht Spanien.
Die zweite Hälfte des Buches ist dem unsäglich komplizierten und langwierigen Prozeß der Ablösung der traditionellen kirchlichen Judenfeindschaft durch eine Theologie gewidmet, die mit dem vierten Kapitel des Konzilsdekrets "Nostra Aetate" von 1965 jede Form von Antisemitismus verwirft und eine brüderliche Kommunikation mit den Juden zum Programm erhebt. Die Auseinandersetzung mit dem Rassenantisemitismus des zwanzigsten Jahrhunderts und die Erfahrung der Schoa haben diese Entwicklung entscheidend beschleunigt. Keineswegs zufällig geht sie mit einer generellen Wende der Päpste im Verhältnis zur Moderne einher. Rom ringt sich auch zur Bejahung der Menschenrechte und der Demokratie durch, die es im neunzehnten Jahrhundert noch verworfen hatte.
In diesem Prozeß wirkte sich als drittes römisches Strukturprinzip die übliche vatikanische Diskretion vorteilhaft aus. Päpste legen sich nicht gerne fest und lassen sich schon gar nicht zu extremen Stellungnahmen bewegen. In ihrem Umkreis fehlte es aber an solchen nicht. Die traditionelle, theologisch begründete Judenfeindschaft wurde auch in kurialen Kreisen von der Vorstellung der Bedrohung durch eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle jüdische Gefahr abgelöst, von der sich unschwer Brücken zum Rassenantisemitismus schlagen ließen. Bis zuletzt gab es auch unter den Kardinälen entschiedenen Widerstand gegen die theologische Wende. Bei den Päpsten selbst hingegen mögen zwar bis zu Pius XII. mehr oder weniger deutlich Restbestände der traditionellen christlichen Vorbehalte gegen die Juden anzutreffen sein, den massiven Antisemitismus und vor allem seine rassistische Begründung haben sie stets abgelehnt, Pius XI. sogar mit für einen Papst ungewöhnlicher Schärfe.
Weiter kann laut Brechenmacher nicht davon die Rede sein, daß der Vatikan jemals erwogen habe, den Faschismus und Nationalsozialismus gegen die größere Gefahr des "jüdischen" Bolschewismus zu benutzen, und sei es nur als kleineres Übel. Die ausführlich dargestellten Erfahrungen Rattis in Polen und Pacellis in München haben sich anders, als man bisweilen lesen kann, nicht in derartigen politischen Optionen niedergeschlagen. Das blieb deutschen und anderen Katholiken überlassen. Schließlich ist offensichtlich auch das Problem des "Schweigens" Pius' XII. heute ausdiskutiert. Wenn dieser Papst sich auf deutliche, aber behutsame Verurteilungen beschränkte und darauf verzichtete, den Massenmord massiv anzuprangern, dann entsprach das nicht nur römischer Tradition und seinem persönlichen diskreten politischen Stil, sondern ergab sich fast zwingend aus der politischen Lage. Der Vatikan war vom faschistischen Italien abhängig, später von der deutschen Besatzung bedroht. Die Folgen einer offensiven päpstlichen Stellungnahme für die katholische Kirche in Italien und vor allem in Deutschland waren inzwischen absehbar. An deutlichen Warnungen unterderhand fehlte es nicht. Dabei ging es nicht nur um legitime Interessen des kirchlichen Apparats, sondern auch um das Schicksal von unzähligen Priestern und Gläubigen, an denen die Nationalsozialisten bei Fehlverhalten ihrer Oberen wohl kalkuliert ihr Mütchen zu kühlen pflegten. Und selbst wenn dem Papst das Schicksal der Juden wichtiger gewesen wäre als die Verantwortung für seine Kirche, so mußte er nach den Erfahrungen mit dem Protest der holländischen Kirchen gegen die Judendeportationen 1942 wissen, daß solche Schritte kontraproduktiv waren. Immerhin haben die von ihm forcierten diskreten Aktivitäten zur Rettung von etwa 100 000 Juden beigetragen, darunter mindestens 4000 von den 8000 jüdischen Einwohnern Roms.
Nach dem Krieg zeichneten sich in den dreizehn verbleibenden Jahren seines Pontifikats trotz seines Konservatismus die Anfänge jener Wende im katholisch-jüdischen Verhältnis ab, die dann unter Johannes XXIII. und Paul VI. zu der 1965 verabschiedeten Konzilsentscheidung führte. Dazu kamen als päpstliche Demonstrationen die Israel-Reisen Pauls VI. 1964 und Johannes Pauls II. 2000, der Besuch des letzteren in der römischen Synagoge 1986, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel 1993 und das päpstliche Schuldbekenntnis im Heiligen Jahr 2000. Brechenmacher weiß zu allem eine Fülle spannender Details aus den Quellen zu berichten. Vor allem die Entstehung des Konzilsdekrets entwickelte sich zu einem veritablen Polit-Krimi mit weltweiten Intrigen der verschiedensten Art. Ich nenne nur die Drohungen des ägyptischen Präsidenten Nasser gegen die Katholiken seines Landes. Hauptlobby waren die amerikanischen Bischöfe, die deutschen hielten sich vorsichtshalber zurück, intervenierten aber beim Papst erfolgreich für den deutschen Kurienkardinal Bea, als man diesem mit Geschäftsordnungstricks die Zuständigkeit für das Dekret entziehen wollte, das er und seine Mitarbeiter entworfen und jahrelang durch alle Fährnisse gesteuert hatten. Freilich, das Ganze blieb trotz allem eine innerkirchliche Entwicklung. Zu einem ernsthaften Dialog aber gehören zwei.
WOLFGANG REINHARD
Thomas Brechenmacher: "Der Vatikan und die Juden". Geschichte einer unheiligen Beziehung. C. H. Beck Verlag, München 2005. 326 S., 9 Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Brechenmachers Studie über den Vatikan und die Juden
Dieses Buch ist eine sorgfältige Langzeitanalyse der Entwicklung des päpstlichen Verhältnisses zu den Juden, die in der Spätantike ansetzt, rasch zur frühen Neuzeit übergeht und nach ausführlicher Schilderung des Lebens im damaligen römischen Ghetto den Zeitraum vom ausgehenden achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart besonders gründlich behandelt. Der Autor Thomas Brechenmacher kann sich dabei teilweise auf seinen gelehrten Wälzer "Das Ende der doppelten Schutzherrschaft" von 2004 stützen. Mehrjährige Forschungen in neu zugänglich gemachten vatikanischen Archivalien haben ihn zu allerhand genaueren Einzelerkenntnissen geführt, zusätzlich zur Verarbeitung der Literatur-Fluten, die inzwischen zum Thema Päpste und Juden existiert. Obwohl seine Sympathie neben den Juden durchaus den immer wieder anzutreffenden halbwegs judenfreundlichen Protagonisten der katholischen Kirche gehört, handelt es sich aber keineswegs um Apologetik. Dazu ist diese wissenschaftlich sauber dargelegte Geschichte im Ganzen viel zu unerfreulich.
Zu Recht geht Brechenmacher von der Tatsache aus, daß die Päpste über tausend Jahre jüdische Untertanen in ihrem Kirchenstaat und vor allem in ihrer Hauptstadt Rom hatten. Ihr dadurch nachhaltig geprägtes Verhältnis zu den Juden charakterisiert er mit einer von ihm erfundenen Formel als doppelte Schutzherrschaft. Denn die Päpste haben im Gegensatz zu den meisten Fürsten des Spätmittelalters und der Frühneuzeit ihre jüdischen Untertanen zwar immer wieder gedemütigt und kujoniert, aber nie wirklich verfolgt und vertrieben. Sie betrachteten es vielmehr als ihre Aufgabe, nicht nur die Christen durch Kontaktverbote vor dem angeblich schädlichen Einfluß der Juden zu schützen, sondern auch die Juden vor Verfolgung und Mißhandlung durch die Christen. Denn selbst als Volk von verworfenen Gottesmördern - sein Blut komme über uns und unsere Kinder (Matthäus 27, 25) - blieben sie als notwendiges Kontrastprogramm unverzichtbarer Bestandteil der Heilsgeschichte. Außerdem scheint bisweilen schon damals die Alternative des Paulus auf, die zur heute maßgebenden Vorstellungen von älteren und jüngeren Brüdern im Heil führen sollte: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamme Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat (Römer 11, 1-2). Geistlich sind wir Semiten, sollte Pius XI. 1938 sagen, Ich bin es, Josef, Euer Bruder Johannes XXIII. 1960.
Mir scheint allerdings manches an der Behandlung der Vormoderne und am Konzept der doppelten Schutzherrschaft nicht ganz überzeugend zu sein. Erstens wurde das überwiegend feindselige Verhältnis zwischen Christen und Juden lange vor Beginn der päpstlichen Judenherrschaft im Kirchenstaat geprägt; davon ist nicht die Rede. Zweitens erweckt der Begriff doppelte Schutzherrschaft den unzutreffenden Eindruck von Gleichgewichtigkeit und könnte insofern als verdeckt apologetisch kritisiert werden. Denn faktisch suchte sie zwar die Ausschreitungen des christlichen Pöbels zu bändigen, lief aber sonst nur selten auf Einschränkungen für die Christen hinaus, wie etwa im Falle der jüdischen Mieter des römischen Ghettos, denen das erbliche Wohnrecht mit einer 1604 bis 1870 unveränderten Miete garantiert wurde.
Die Juden hingegen besaßen zwar das Bürgerrecht, durften aber keine Ämter bekleiden, mußten ein Kennzeichen tragen, seit 1555 im Ghetto wohnen, sich regelmäßig Bekehrungspredigten anhören und waren noch allerhand anderen Auflagen unterworfen. Außerdem hängt die schon von früheren Forschern festgestellte schwankende Zweideutigkeit der päpstlichen Judenpolitik nicht nur mit der Ambivalenz ihrer theologischen Grundlagen zusammen. Brechenmacher stellt selbst den notorischen Widerspruch zwischen rigiden Normen und toleranter Praxis fest, der viele vormoderne Regimes kennzeichnet. Insofern ließ es sich ungeachtet gräßlicher Gesetze auch als Jude im Kirchenstaat ganz ordentlich leben. Denn in Rom wurde die Verbindung von unerbittlicher Konsequenz im Grundsätzlichen und weitreichender Großzügigkeit in der Lebenspraxis zum dauerhaften System entwickelt, nicht nur in der Judenpolitik. Wer die Prinzipien nicht in Frage stellt, kann tun und lassen, was er will.
Drittens hat Brechenmacher sicherlich recht, wenn er das zum Nachteil der Juden zunehmende Ungleichgewicht der doppelten Schutzherrschaft im letzten Jahrhundert des Kirchenstaates, von dem er dank seines großen Buches detailliert berichten kann, auf die Hilflosigkeit der Päpste gegenüber der modernen Welt zurückführt, auf die sie nur mit verzweifelter Defensive zu reagieren wußten. Er hätte sogar noch deutlicher betonen können, daß der emanzipierte und im Rahmen der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft überaus erfolgreiche Jude sich in diesem Rahmen ganz besonders zum Feindbild eignete. An Quellenbelegen dafür fehlt es bei ihm nicht. Hingegen halte ich die analoge Deutung der vorübergehenden Verschärfung der päpstlichen Judenpolitik unter dem Reformpapsttum der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts als Beginn dieser Defensive gegen die damals in Gestalt der Reformation zuerst auftretende Moderne für unbewiesen. So modern war die Reformation nicht, und der päpstliche Triumphalismus war alles andere als defensiv, sondern erreichte sogar einen neuen Höhepunkt. Weit eher dürfte es sich um eine Offensive gehandelt haben, vielleicht angeregt durch die Judenfeindschaft der katholischen Vormacht Spanien.
Die zweite Hälfte des Buches ist dem unsäglich komplizierten und langwierigen Prozeß der Ablösung der traditionellen kirchlichen Judenfeindschaft durch eine Theologie gewidmet, die mit dem vierten Kapitel des Konzilsdekrets "Nostra Aetate" von 1965 jede Form von Antisemitismus verwirft und eine brüderliche Kommunikation mit den Juden zum Programm erhebt. Die Auseinandersetzung mit dem Rassenantisemitismus des zwanzigsten Jahrhunderts und die Erfahrung der Schoa haben diese Entwicklung entscheidend beschleunigt. Keineswegs zufällig geht sie mit einer generellen Wende der Päpste im Verhältnis zur Moderne einher. Rom ringt sich auch zur Bejahung der Menschenrechte und der Demokratie durch, die es im neunzehnten Jahrhundert noch verworfen hatte.
In diesem Prozeß wirkte sich als drittes römisches Strukturprinzip die übliche vatikanische Diskretion vorteilhaft aus. Päpste legen sich nicht gerne fest und lassen sich schon gar nicht zu extremen Stellungnahmen bewegen. In ihrem Umkreis fehlte es aber an solchen nicht. Die traditionelle, theologisch begründete Judenfeindschaft wurde auch in kurialen Kreisen von der Vorstellung der Bedrohung durch eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle jüdische Gefahr abgelöst, von der sich unschwer Brücken zum Rassenantisemitismus schlagen ließen. Bis zuletzt gab es auch unter den Kardinälen entschiedenen Widerstand gegen die theologische Wende. Bei den Päpsten selbst hingegen mögen zwar bis zu Pius XII. mehr oder weniger deutlich Restbestände der traditionellen christlichen Vorbehalte gegen die Juden anzutreffen sein, den massiven Antisemitismus und vor allem seine rassistische Begründung haben sie stets abgelehnt, Pius XI. sogar mit für einen Papst ungewöhnlicher Schärfe.
Weiter kann laut Brechenmacher nicht davon die Rede sein, daß der Vatikan jemals erwogen habe, den Faschismus und Nationalsozialismus gegen die größere Gefahr des "jüdischen" Bolschewismus zu benutzen, und sei es nur als kleineres Übel. Die ausführlich dargestellten Erfahrungen Rattis in Polen und Pacellis in München haben sich anders, als man bisweilen lesen kann, nicht in derartigen politischen Optionen niedergeschlagen. Das blieb deutschen und anderen Katholiken überlassen. Schließlich ist offensichtlich auch das Problem des "Schweigens" Pius' XII. heute ausdiskutiert. Wenn dieser Papst sich auf deutliche, aber behutsame Verurteilungen beschränkte und darauf verzichtete, den Massenmord massiv anzuprangern, dann entsprach das nicht nur römischer Tradition und seinem persönlichen diskreten politischen Stil, sondern ergab sich fast zwingend aus der politischen Lage. Der Vatikan war vom faschistischen Italien abhängig, später von der deutschen Besatzung bedroht. Die Folgen einer offensiven päpstlichen Stellungnahme für die katholische Kirche in Italien und vor allem in Deutschland waren inzwischen absehbar. An deutlichen Warnungen unterderhand fehlte es nicht. Dabei ging es nicht nur um legitime Interessen des kirchlichen Apparats, sondern auch um das Schicksal von unzähligen Priestern und Gläubigen, an denen die Nationalsozialisten bei Fehlverhalten ihrer Oberen wohl kalkuliert ihr Mütchen zu kühlen pflegten. Und selbst wenn dem Papst das Schicksal der Juden wichtiger gewesen wäre als die Verantwortung für seine Kirche, so mußte er nach den Erfahrungen mit dem Protest der holländischen Kirchen gegen die Judendeportationen 1942 wissen, daß solche Schritte kontraproduktiv waren. Immerhin haben die von ihm forcierten diskreten Aktivitäten zur Rettung von etwa 100 000 Juden beigetragen, darunter mindestens 4000 von den 8000 jüdischen Einwohnern Roms.
Nach dem Krieg zeichneten sich in den dreizehn verbleibenden Jahren seines Pontifikats trotz seines Konservatismus die Anfänge jener Wende im katholisch-jüdischen Verhältnis ab, die dann unter Johannes XXIII. und Paul VI. zu der 1965 verabschiedeten Konzilsentscheidung führte. Dazu kamen als päpstliche Demonstrationen die Israel-Reisen Pauls VI. 1964 und Johannes Pauls II. 2000, der Besuch des letzteren in der römischen Synagoge 1986, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel 1993 und das päpstliche Schuldbekenntnis im Heiligen Jahr 2000. Brechenmacher weiß zu allem eine Fülle spannender Details aus den Quellen zu berichten. Vor allem die Entstehung des Konzilsdekrets entwickelte sich zu einem veritablen Polit-Krimi mit weltweiten Intrigen der verschiedensten Art. Ich nenne nur die Drohungen des ägyptischen Präsidenten Nasser gegen die Katholiken seines Landes. Hauptlobby waren die amerikanischen Bischöfe, die deutschen hielten sich vorsichtshalber zurück, intervenierten aber beim Papst erfolgreich für den deutschen Kurienkardinal Bea, als man diesem mit Geschäftsordnungstricks die Zuständigkeit für das Dekret entziehen wollte, das er und seine Mitarbeiter entworfen und jahrelang durch alle Fährnisse gesteuert hatten. Freilich, das Ganze blieb trotz allem eine innerkirchliche Entwicklung. Zu einem ernsthaften Dialog aber gehören zwei.
WOLFGANG REINHARD
Thomas Brechenmacher: "Der Vatikan und die Juden". Geschichte einer unheiligen Beziehung. C. H. Beck Verlag, München 2005. 326 S., 9 Abb., geb., 24,90 [Euro].
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