Ein »verbannter Unsterblicher« wurde Li Bai (701-762) schon zu Lebzeiten genannt: In der offiziellen chinesischen Literatur kaum gewürdigt, erlangten seine Gedichte, die von daoistischem Gedankengut geprägt sind und sich durch Leidenschaft und Lebenslust auszeichnen, bereits in der gesamten Tang-Dynastie über die Rezitationen von Hofunterhaltern, Tavernensängern, Soldaten und Schriftstellern großen Ruhm und landesweite Verbreitung. Noch heute werden seine von tiefer Sehnsucht nach einer höheren, vollkommeneren Welt geprägten Verse chinesischen Schulkindern beigebracht und bei Festen als Trinksprüche aufgesagt; längst sind sie untrennbarer Teil der chinesischen Sprache. Doch wer war dieser Jahrtausenddichter? Mit seinem Gespür eines meisterhaften Romanciers gelingt es Ha Jin, aus den uns überlieferten historischen und literarischen Quellen die Lebensgeschichte des großen Dichters als ein Porträt seiner Zeit zu erzählen. Er folgt Li Bai von seiner Kindheit an der westlichen Grenze bis hin zu seinen Wanderungen als junger Mann, die von Strebsamkeit, aber auch von fröhlicher Unbekümmertheit und lustvollen Ausschweifungen geprägt waren. Er folgt dem Dichter durch seine späten Jahre, in denen er in eine umwälzende militärische Rebellion verwickelt wurde, die den Lauf der chinesischen Geschichte veränderte - und erzählt von den mysteriösen und von Legenden umrankten Umständen seines Todes.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Alice Grünfelder liest die erste Biografie des chinesischen "Jahrhundertdichters" Li Bau von Ha Jin mit Interesse. Den schwankenden Lebensweg des 701 geborenen Dichters zwischen Sendungsbewusstsein und einer durch Alkohol befeuerten Resignation stellt der Autor laut Rezensentin zwar umfassend, aber linear und recht konventionell dar. Für Grünfelder nicht unbedingt der richtige Weg angesichts eines im Schwanken sehr redundanten Lebens ohne Erlösung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2023Er wollte den Mond umarmen
Ein Taoist unter den Folksängern:
Der Schriftsteller Ha Jin hat eine einfühlende
Biographie des chinesischen Dichters Li Bai geschrieben, der unstet lebte, Legenden bildete und dabei ein großes Werk schuf.
Häufig fallen in diesem Buch des amerikanischen Book-Award-Gewinners Ha Jin über den legendären chinesischen Dichter Li Bai die Wendungen "noch heute" und "immer noch". Noch heute unternehmen Chinesen Pilgerreisen auf den Spuren Li Bais, "auch heute noch" ist das Grab seiner Schwester gut gepflegt. "Bis heute" hat sich eine Kalligraphie aus seiner Feder, die sich einige Jahre lang im Besitz Mao Tse-tungs befand, erhalten. "Auch heute noch" werden Li Bais Gedichte in der Schule auswendig gelernt und in feuchtfröhlichen Runden oder zur Beschwörung der Freundschaft zitiert.
Dieses vitale Gedenken ist umso erstaunlicher, als es sich bei Li Bai, der auch als Li Po oder Li Bo bekannt ist, nicht etwa um einen Dichter des achtzehnten oder eines späteren Jahrhunderts handelt - in Deutschland wird ein ähnlicher Kult sonst nur um Goethe betrieben -, sondern um einen aus dem achten Jahrhundert. Während zu Zeiten Karls des Großen die deutsche Literatur noch in den Anfängen steckte - es existierten gerade mal ein paar überlieferte Gebrauchstexte -, war zur selben Zeit in China bei den Regierenden und hohen Beamten eine profunde literarische Bildung bereits selbstverständlich. Schon damals wandelte man auf den Spuren noch früherer Dichter wie Tao Yuanming, am Kaiserhof gab es den Posten des "Harmonischen Regulators", dessen Aufgabe es war, die Verfeinerung des Versbaus zu befördern, erstrebenswert war der Titel eines "Sorglosen Gelehrten", der mit freiem Weinkonsum und Geldgeschenken auf Reisen einherging. Die chinesischen Buchhandlungen der Zeit hatten zwar nur wenige Regalmeter, doch konnte man in der damaligen chinesischen Hauptstadt Chang'an problemlos die neueste Lyrik kaufen.
So viele anschauliche Details Ha Jin über die zeitlichen Hintergründe des "verbannten Unsterblichen" Li Bai zusammentragen kann, so unsicher ist die Quellenlage zu dem Dichter selbst. Es gibt nur wenige und meist sehr subjektive zeitgenössische Zeugnisse über Li Bai' sodass man sagen kann: Eigentlich wird in Ha Jins Lebensbeschreibung eher eine Legende nacherzählt, zu der Li Bais Dichtung selbst maßgeblich beigetragen hat. Dieses Umstands bewusst, hat Ha Jin ein betont einfühlendes Porträt geschrieben, in dem Wendungen fallen wie "Tatsächlich rannen Tränen über seine Wangen, während Bai diese Zeilen schrieb" und der Gipfel der Objektivität in dem Satz erreicht wird: "Alle Li-Bai-Biografen sind sich darin einig, dass er im Spätsommer 742 in der Gegend um den Berg Tai unterwegs war."
Li Bais Äußeres soll sich durch eine eindrucksvolle Statur, einen wilden Blick und eine ausgeprägte Nase ausgezeichnet haben. Er sei ein "starker Mann mit geradem Rücken" gewesen, schreibt der Dichterkollege Gao Shi, unbekümmert und selbstsicher. Geschickt im Schwertkampf war er auch, insgesamt der Figur des mit seinem Langschwert herumfuchtelnden, etwas prahlerischen, aber sehr sympathischen siebten Samurais aus Kurosawas Filmklassiker nicht ganz unähnlich.
Der Dichter selbst hingegen beschrieb sich als "Schildkrötenangler im Ozean" und verglich sich gerne mit dem "große(n) Vogel Rokh", worin sich sein taoistisches Naturverständnis ebenso spiegelte wie ein Grundzug seiner Ästhetik, der zufolge die Natur im Grunde schon die Dichtung in sich trägt und sich demjenigen offenbart, dem die passenden Verse zufliegen. Li Bai sagte einmal treffend über sich selbst: "Er fläzt sich, die Laute im Arm, in den Wolken, schlürft Nektar und schluckt Elixiere für ein langes Leben." Wobei Li Bais taoistisches Denken, seine Bereitschaft, die Natur nach ihrem Willen wirken zu lassen, in seinen Gedichten gerade wieder sehr zeitgemäß wirkt.
Als "Meister der Gelage" war Li Bai, das gilt als absolut gesichert, oft schon mittags betrunken, wobei ihn dieser Zustand in eine poetische Stimmung versetzt und keinesfalls vom Dichten abgehalten haben soll. Zeitgenossen staunten darüber, dass er in fast jeder Lebenssituation aus dem Stegreif zum Teil vollendete Verse hervorzubringen schien.
Li Bai, möglicherweise ein Halbchinese, wuchs als Kaufmannssohn in der Provinz auf. Wegen seines Nachnamens Li betrachtete er sich als entferntes Mitglied der Kaiserlichen Familie in der Tang-Dynastie. Er soll zwei Frauen und zwei eheliche Kinder gehabt haben. Dass er nicht viel von sich als Ehemann und Familienvater hielt, erhellt aus den selbstironischen Versen des Gedichts "Für meine Frau": "Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr / bin ich betrunken und schlapp wie Matsch. / Wie schrecklich für dich, dass du Bais Frau wurdest. / Es ist, als hätte man einen Idioten zum Mann". Etwa tausend Gedichte und Essays sind von ihm überliefert, wobei davon ausgegangen wird, dass nur ein Zehntel seiner Schriften erhalten ist.
Zeitlebens war Li Bai zwischen zwei Sphären hin- und hergerissen - der Welt der Politik und dem taoistischen Rückzug in die Natur, wobei seine Dichtung die Eintrittskarte für beide darstellte. Die meiste Zeit seines Lebens befand er sich auf der Suche nach Anstellung auf Wanderschaft, wobei er große Teile Chinas durchquerte - auf der Website edwardpainter.com/li-bai lässt sich seine erstaunliche Mobilität nachvollziehen. Doch kehrte er, enttäuscht von den Intrigen bei Hofe oder weil er sich wieder einmal in irgendeiner Präfektur mit Spottversen und Totalabstürzen so sehr danebenbenommen hatte, dass er für seine Förderer zur unberechenbaren Größe wurde, immer wieder unverrichteter Dinge nach Hause zurück.
Stellte er sich in seinen politisch ambitionierten Phasen - Li Bai sah sich durchaus als großen Strategen - die Frage: "Wie konnte ich so lange in der Einöde leben?", lautete der innere Monolog nach oft nur kurzen Aufenthalten in den Metropolen: "Wie konnte ich mich mit gesenktem Blick vor den Reichen und Mächtigen beugen?" Dann zog er sich wieder auf abgelegene Berge zurück, besuchte bewunderte Mönche, Dichter und Denker, mit denen er Gelage abhielt.
Sein Plan wäre es gewesen, sich zuerst als "großer Staatsmann" zu beweisen, um auf dem Höhepunkt seines Erfolgs zum "legendären Eremit" zu werden. Doch aus dieser Dramaturgie wurde nichts. Zunehmend machte sich Ernüchterung bei Li Bai breit, in späten Jahren folgte dann sein regelrechter Niedergang. Als durch die Rebellion An Lushas die Spaltung des Reichs drohte, schätzte Li Bai die Lage komplett falsch ein, stellte sich auf die Seite der Verschwörer, landete im Gefängnis und wurde wegen seiner politischen Instinktlosigkeit zu einer untragbaren Person. Nach Hause zurückgekehrt, wollte er noch als Sechzigjähriger, im Frühjahr 761, in den Soldatendienst eintreten. Geschwächt vom Alkohol und alchemistischen Wunderpillen, starb er jedoch schon wenig später. Mit einem Boot unterwegs auf einem Fluss, soll er in betrunkenem Zustand versucht haben, den Mond auf dem Wasserspiegel zu umarmen. Es passt zu Li Bais unberechenbarem Leben oder wenigstens zu seiner Legende, dass die Ernennung zum Berater des Kaisers erst ein Jahr nach seinem Dahinscheiden eintraf - der Hof hatte davon offenbar nichts mitbekommen.
Sein Werk blieb von Li Bais unstetem Leben völlig unangefochten. Schon früh machten sich Bewunderer Gedanken über seine eigentümliche Dichtkunst. Auffällig an Li Bais Versen, die in Ha Jins Buch ausgiebig zitiert werden - zu Übertragungsfragen gibt es ein eigenes Schlusskapitel der Übersetzerin Susanne Hornfeck -, ist dabei zunächst ihr synästhetischer Grundton: Was für eine Vielzahl von Assoziationen allein durch Verse wie "frischer Kiefernduft reinigt seine Robe" hervorgerufen werden. Man riecht und schmeckt die Verse Li Bais geradezu, bevor sie eine ganz eigentümliche, noch tiefer gehende Gesamtstimmung erzeugen.
Im Gegensatz zu den oft fast buchhalterisch klingenden Titeln seiner Gedichte finden sich auffällig viele Bewegungen des Übergangs darin: ein Fließen, Dehnen, Fliegen oder Schweben. Oft kommen Wolken vor, manchmal werden gegensätzliche Sphären auch durch Sprünge in Zeit und Raum verbunden, mustergültig in dem Gedicht "Am Morgen Baidi verlassend": "Am Morgen verlasse ich Baidi inmitten farbiger Wolken, / die tausend Li nach Jiangling legen wir in einem Tag zurück. / Die Schreie der Gibbons beiderseits des Ufers sind / noch nicht verhallt, / da hat mein kleines Boot die zehntausend Berge längst passiert."
Mutwillig und so gar nicht auf Harmonie bedacht wirkt hingegen Li Bais Vorliebe für Übertreibungen - so wenn er mit den 300 Schalen Wein prahlt, die er an einem Abend geleert, den zwei Tigern, die er mit einem einzigen Pfeil erlegt, oder den Dutzenden Gegnern, die er mit seinem Schwert nacheinander "niedergemäht" haben will. Interessant ist in diesem Zusammenhang Ha Jins Hinweis, dass es sich dabei zum Teil um zeittypische Übertreibungs-Topoi handelt und dass eine Neigung zu unrealistischen Vergleichen in der chinesischen Sprache schon angelegt sei. Hier sorgt der zeitliche und räumliche Abstand westlicher Leser - zu seinen Bewunderern zählten Ezra Pound, Klabund und Günter Eich - möglicherweise für einen zusätzlichen Poetisierungsschub.
Die beste Erklärung für Li Bais Wortwahl aber stammt von ihm selbst. In seinem Essay "Die große Jagd" schreibt er: "Je prächtiger die Worte, desto weiter reicht ihre Bedeutung. Wie sonst könnten sie den Himmel und die Götter rühren?" Allzu große Worte hingegen zerstören den poetischen Gesamteindruck, was Li Bai in seiner Dichtung fast nie zu unterlaufen scheint. Die Maßhaltung, die ihm in seinen Versen gelang, glückte ihm im Leben nicht. Das freilich macht den Vielbewunderten zutiefst menschlich und ermöglicht eine lebendige Teilhabe an seinem Leben und Werk bis heute. UWE EBBINGHAUS
Ha Jin: "Der verbannte Unsterbliche". Das Leben des Tang-Dichters Li Bai.
Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck.
Matthes & Seitz, Berlin 2023. 303 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Taoist unter den Folksängern:
Der Schriftsteller Ha Jin hat eine einfühlende
Biographie des chinesischen Dichters Li Bai geschrieben, der unstet lebte, Legenden bildete und dabei ein großes Werk schuf.
Häufig fallen in diesem Buch des amerikanischen Book-Award-Gewinners Ha Jin über den legendären chinesischen Dichter Li Bai die Wendungen "noch heute" und "immer noch". Noch heute unternehmen Chinesen Pilgerreisen auf den Spuren Li Bais, "auch heute noch" ist das Grab seiner Schwester gut gepflegt. "Bis heute" hat sich eine Kalligraphie aus seiner Feder, die sich einige Jahre lang im Besitz Mao Tse-tungs befand, erhalten. "Auch heute noch" werden Li Bais Gedichte in der Schule auswendig gelernt und in feuchtfröhlichen Runden oder zur Beschwörung der Freundschaft zitiert.
Dieses vitale Gedenken ist umso erstaunlicher, als es sich bei Li Bai, der auch als Li Po oder Li Bo bekannt ist, nicht etwa um einen Dichter des achtzehnten oder eines späteren Jahrhunderts handelt - in Deutschland wird ein ähnlicher Kult sonst nur um Goethe betrieben -, sondern um einen aus dem achten Jahrhundert. Während zu Zeiten Karls des Großen die deutsche Literatur noch in den Anfängen steckte - es existierten gerade mal ein paar überlieferte Gebrauchstexte -, war zur selben Zeit in China bei den Regierenden und hohen Beamten eine profunde literarische Bildung bereits selbstverständlich. Schon damals wandelte man auf den Spuren noch früherer Dichter wie Tao Yuanming, am Kaiserhof gab es den Posten des "Harmonischen Regulators", dessen Aufgabe es war, die Verfeinerung des Versbaus zu befördern, erstrebenswert war der Titel eines "Sorglosen Gelehrten", der mit freiem Weinkonsum und Geldgeschenken auf Reisen einherging. Die chinesischen Buchhandlungen der Zeit hatten zwar nur wenige Regalmeter, doch konnte man in der damaligen chinesischen Hauptstadt Chang'an problemlos die neueste Lyrik kaufen.
So viele anschauliche Details Ha Jin über die zeitlichen Hintergründe des "verbannten Unsterblichen" Li Bai zusammentragen kann, so unsicher ist die Quellenlage zu dem Dichter selbst. Es gibt nur wenige und meist sehr subjektive zeitgenössische Zeugnisse über Li Bai' sodass man sagen kann: Eigentlich wird in Ha Jins Lebensbeschreibung eher eine Legende nacherzählt, zu der Li Bais Dichtung selbst maßgeblich beigetragen hat. Dieses Umstands bewusst, hat Ha Jin ein betont einfühlendes Porträt geschrieben, in dem Wendungen fallen wie "Tatsächlich rannen Tränen über seine Wangen, während Bai diese Zeilen schrieb" und der Gipfel der Objektivität in dem Satz erreicht wird: "Alle Li-Bai-Biografen sind sich darin einig, dass er im Spätsommer 742 in der Gegend um den Berg Tai unterwegs war."
Li Bais Äußeres soll sich durch eine eindrucksvolle Statur, einen wilden Blick und eine ausgeprägte Nase ausgezeichnet haben. Er sei ein "starker Mann mit geradem Rücken" gewesen, schreibt der Dichterkollege Gao Shi, unbekümmert und selbstsicher. Geschickt im Schwertkampf war er auch, insgesamt der Figur des mit seinem Langschwert herumfuchtelnden, etwas prahlerischen, aber sehr sympathischen siebten Samurais aus Kurosawas Filmklassiker nicht ganz unähnlich.
Der Dichter selbst hingegen beschrieb sich als "Schildkrötenangler im Ozean" und verglich sich gerne mit dem "große(n) Vogel Rokh", worin sich sein taoistisches Naturverständnis ebenso spiegelte wie ein Grundzug seiner Ästhetik, der zufolge die Natur im Grunde schon die Dichtung in sich trägt und sich demjenigen offenbart, dem die passenden Verse zufliegen. Li Bai sagte einmal treffend über sich selbst: "Er fläzt sich, die Laute im Arm, in den Wolken, schlürft Nektar und schluckt Elixiere für ein langes Leben." Wobei Li Bais taoistisches Denken, seine Bereitschaft, die Natur nach ihrem Willen wirken zu lassen, in seinen Gedichten gerade wieder sehr zeitgemäß wirkt.
Als "Meister der Gelage" war Li Bai, das gilt als absolut gesichert, oft schon mittags betrunken, wobei ihn dieser Zustand in eine poetische Stimmung versetzt und keinesfalls vom Dichten abgehalten haben soll. Zeitgenossen staunten darüber, dass er in fast jeder Lebenssituation aus dem Stegreif zum Teil vollendete Verse hervorzubringen schien.
Li Bai, möglicherweise ein Halbchinese, wuchs als Kaufmannssohn in der Provinz auf. Wegen seines Nachnamens Li betrachtete er sich als entferntes Mitglied der Kaiserlichen Familie in der Tang-Dynastie. Er soll zwei Frauen und zwei eheliche Kinder gehabt haben. Dass er nicht viel von sich als Ehemann und Familienvater hielt, erhellt aus den selbstironischen Versen des Gedichts "Für meine Frau": "Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr / bin ich betrunken und schlapp wie Matsch. / Wie schrecklich für dich, dass du Bais Frau wurdest. / Es ist, als hätte man einen Idioten zum Mann". Etwa tausend Gedichte und Essays sind von ihm überliefert, wobei davon ausgegangen wird, dass nur ein Zehntel seiner Schriften erhalten ist.
Zeitlebens war Li Bai zwischen zwei Sphären hin- und hergerissen - der Welt der Politik und dem taoistischen Rückzug in die Natur, wobei seine Dichtung die Eintrittskarte für beide darstellte. Die meiste Zeit seines Lebens befand er sich auf der Suche nach Anstellung auf Wanderschaft, wobei er große Teile Chinas durchquerte - auf der Website edwardpainter.com/li-bai lässt sich seine erstaunliche Mobilität nachvollziehen. Doch kehrte er, enttäuscht von den Intrigen bei Hofe oder weil er sich wieder einmal in irgendeiner Präfektur mit Spottversen und Totalabstürzen so sehr danebenbenommen hatte, dass er für seine Förderer zur unberechenbaren Größe wurde, immer wieder unverrichteter Dinge nach Hause zurück.
Stellte er sich in seinen politisch ambitionierten Phasen - Li Bai sah sich durchaus als großen Strategen - die Frage: "Wie konnte ich so lange in der Einöde leben?", lautete der innere Monolog nach oft nur kurzen Aufenthalten in den Metropolen: "Wie konnte ich mich mit gesenktem Blick vor den Reichen und Mächtigen beugen?" Dann zog er sich wieder auf abgelegene Berge zurück, besuchte bewunderte Mönche, Dichter und Denker, mit denen er Gelage abhielt.
Sein Plan wäre es gewesen, sich zuerst als "großer Staatsmann" zu beweisen, um auf dem Höhepunkt seines Erfolgs zum "legendären Eremit" zu werden. Doch aus dieser Dramaturgie wurde nichts. Zunehmend machte sich Ernüchterung bei Li Bai breit, in späten Jahren folgte dann sein regelrechter Niedergang. Als durch die Rebellion An Lushas die Spaltung des Reichs drohte, schätzte Li Bai die Lage komplett falsch ein, stellte sich auf die Seite der Verschwörer, landete im Gefängnis und wurde wegen seiner politischen Instinktlosigkeit zu einer untragbaren Person. Nach Hause zurückgekehrt, wollte er noch als Sechzigjähriger, im Frühjahr 761, in den Soldatendienst eintreten. Geschwächt vom Alkohol und alchemistischen Wunderpillen, starb er jedoch schon wenig später. Mit einem Boot unterwegs auf einem Fluss, soll er in betrunkenem Zustand versucht haben, den Mond auf dem Wasserspiegel zu umarmen. Es passt zu Li Bais unberechenbarem Leben oder wenigstens zu seiner Legende, dass die Ernennung zum Berater des Kaisers erst ein Jahr nach seinem Dahinscheiden eintraf - der Hof hatte davon offenbar nichts mitbekommen.
Sein Werk blieb von Li Bais unstetem Leben völlig unangefochten. Schon früh machten sich Bewunderer Gedanken über seine eigentümliche Dichtkunst. Auffällig an Li Bais Versen, die in Ha Jins Buch ausgiebig zitiert werden - zu Übertragungsfragen gibt es ein eigenes Schlusskapitel der Übersetzerin Susanne Hornfeck -, ist dabei zunächst ihr synästhetischer Grundton: Was für eine Vielzahl von Assoziationen allein durch Verse wie "frischer Kiefernduft reinigt seine Robe" hervorgerufen werden. Man riecht und schmeckt die Verse Li Bais geradezu, bevor sie eine ganz eigentümliche, noch tiefer gehende Gesamtstimmung erzeugen.
Im Gegensatz zu den oft fast buchhalterisch klingenden Titeln seiner Gedichte finden sich auffällig viele Bewegungen des Übergangs darin: ein Fließen, Dehnen, Fliegen oder Schweben. Oft kommen Wolken vor, manchmal werden gegensätzliche Sphären auch durch Sprünge in Zeit und Raum verbunden, mustergültig in dem Gedicht "Am Morgen Baidi verlassend": "Am Morgen verlasse ich Baidi inmitten farbiger Wolken, / die tausend Li nach Jiangling legen wir in einem Tag zurück. / Die Schreie der Gibbons beiderseits des Ufers sind / noch nicht verhallt, / da hat mein kleines Boot die zehntausend Berge längst passiert."
Mutwillig und so gar nicht auf Harmonie bedacht wirkt hingegen Li Bais Vorliebe für Übertreibungen - so wenn er mit den 300 Schalen Wein prahlt, die er an einem Abend geleert, den zwei Tigern, die er mit einem einzigen Pfeil erlegt, oder den Dutzenden Gegnern, die er mit seinem Schwert nacheinander "niedergemäht" haben will. Interessant ist in diesem Zusammenhang Ha Jins Hinweis, dass es sich dabei zum Teil um zeittypische Übertreibungs-Topoi handelt und dass eine Neigung zu unrealistischen Vergleichen in der chinesischen Sprache schon angelegt sei. Hier sorgt der zeitliche und räumliche Abstand westlicher Leser - zu seinen Bewunderern zählten Ezra Pound, Klabund und Günter Eich - möglicherweise für einen zusätzlichen Poetisierungsschub.
Die beste Erklärung für Li Bais Wortwahl aber stammt von ihm selbst. In seinem Essay "Die große Jagd" schreibt er: "Je prächtiger die Worte, desto weiter reicht ihre Bedeutung. Wie sonst könnten sie den Himmel und die Götter rühren?" Allzu große Worte hingegen zerstören den poetischen Gesamteindruck, was Li Bai in seiner Dichtung fast nie zu unterlaufen scheint. Die Maßhaltung, die ihm in seinen Versen gelang, glückte ihm im Leben nicht. Das freilich macht den Vielbewunderten zutiefst menschlich und ermöglicht eine lebendige Teilhabe an seinem Leben und Werk bis heute. UWE EBBINGHAUS
Ha Jin: "Der verbannte Unsterbliche". Das Leben des Tang-Dichters Li Bai.
Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck.
Matthes & Seitz, Berlin 2023. 303 S., geb., 26,- Euro.
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