Zum WerkDie Covid-19-Pandemie bedroht weltweit Leben und Gesundheit vieler Menschen, die Zahl der Todesopfer ist hoch. Um die medizinische Versorgung sicherzustellen, ist das öffentliche Leben in Deutschland radikal eingeschränkt worden. Massive Grundrechtseingriffe und eine wirtschaftliche Rezession sind die Folge. Das Buch bietet eine kompakte Analyse aller wesentlichen verfassungs-, verwaltungs-, europa- und internationalrechtlichen Aspekte des staatlichen Handelns in der Corona-Krise:Erleben wir einen Ausnahmezustand? Wie weit lassen sich Eingriffe in Freiheit und Gleichheit rechtfertigen? Verschiebt sich die Macht zwischen Parlament und Exekutive? Versagt der Föderalismus? Bewährt sich der Sozialstaat? Ist Solidarität jenseits des Nationalstaats eine Illusion? In der Corona-Krise werden die Konturen eines Pandemie-Krisenrechts erkennbar, das zur Normalität des Verfassungsstaats gehört.Vorteile auf einen Blickfundierte Analyse der Grundrechtseingriffe durch staatliche Maßnahmen, die in der Corona-Krise getroffen werdenVeranschaulichung der Herausforderungen der Staatsstrukturprinzipien der Demokratie, des Rechts-, Bundes- und Sozialstaats in der Krisenbewältigungdieses Buch zeigt verfassungskonforme Wege aus der Krise und erforderliche Reformen aufZielgruppeFür mit dem Verfassungsrecht befasste Juristen, Historiker, Politologen und allen an verfassungsrechtlichen Themen Interessierten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Keine Panik
Erstes juristisches Fazit der Corona-Krise
Während die zur Bewältigung der Corona-Krise angeordneten Maßnahmen das öffentliche Leben im März und April weitgehend zum Erliegen brachten, hatten sie auf die Rechtswissenschaft genau den gegenteiligen Effekt: In nie zuvor erlebter Schlagzahl erschienen Analysen zu den, wie stets betont wurde, "massivsten Eingriffen in Freiheitsrechte der deutschen Nachkriegsgeschichte". Das erste vorläufige Fazit in Buchlänge haben nun die beiden Rechtslehrer Jens Kersten und Stephan Rixen gezogen. Es lässt sich grob in drei Drittel unterteilen: ein einleitendes zur Verortung von Begrifflichkeiten wie "Ausnahmezustand" oder "Notstandsverfassung" und zur Entscheidungsfindung bei unsicherer Sachlage, ein bürgerbezogenes, das Ausmaß und Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe behandelt, und ein staatsbezogenes, das um Fragen der Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung kreist. Dem "Essay", wie die Autoren ihr Werk nennen, vorangestellt ist eine süffisante Kritik des in Teilen der Staatsrechtslehre vorherrschenden Alarmismus, der hinter jedem Eingriff in ein Grundrecht dessen Abschaffung wittert und Deutschland auf dem Weg in den "faschistoid-hysterischen Hygienestaat" wähnt. Der Verzicht auf solche Dramatisierungen bedeutet freilich nicht, dass die Autoren in der Krise einem politischen Laissez-Faire das Wort reden. Im Gegenteil dürfte der Maßstab, den sie anlegen, vielen Bürgern noch streng erscheinen - etwa wenn Maßnahmen zur Steigerung der Impfbereitschaft in die Nähe staatlichen Zwangs gerückt werden, oder wenn das Verbot, bei Triage-Entscheidungen das Alter der Patienten zu berücksichtigen, als nicht einmal erklärungsbedürftig präsentiert wird.
Man muss nicht mit jeder dieser Wertungen übereinstimmen, um das Buch mit Genuss zu lesen. Lehrreich sind etwa die Erläuterungen juristischer und staatskundlicher Strukturprinzipien, die die Komplexität hinter scheinbar trivialen Begriffen wie "Verhältnismäßigkeit", "Föderalismus" oder "Gewaltenteilung" entfalten und somit auch zum Verständnis vermeintlicher Ungerechtigkeiten der Corona-Strategie (wie unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern) beitragen dürften. Das geschieht auf einem Niveau, bei dem Jurastudenten noch eine Menge lernen werden, das aber auch für juristisch unbeschlagene Menschen bei aufmerksamer Lektüre nachvollziehbar bleibt. Dazu passt auch der Duktus, der anspruchsvoll, aber nur in Ausnahmefällen ("Infrastrukturexistentialismus") abgehoben ausfällt.
Bedauerlicherweise verfallen die Autoren in einem anderen Punkt dann aber doch dem Hang, "Exerzitien juristischen Scharfsinns" gewissermaßen als Selbstzweck zu betreiben. So kreist der Abschnitt über Grundrechtseingriffe um drei Themen, die bislang keinerlei praktische Relevanz haben und womöglich nie haben werden (Triage, Impfpflicht, Immunitätsausweis), und um ein viertes, das bald gelockert wurde und praktisch oft nicht durchgesetzt wird (Einschränkungen des Demonstrationsrechts). Die in der Lebenswelt der meisten Menschen weitaus bedeutsameren Schul- und Kitaschließungen, die Einschränkungen für Gewerbetreibende und die staatlichen Fördermaßnahmen zum Ausgleich dieser Nachteile werden zwar erwähnt, aber kaum näher untersucht, obwohl sich (verfassungs-)rechtliche Fragestellungen etwa nach dem staatlichen Bildungsauftrag, der Familienförderung oder der gleichheitswahrenden Hilfsgewährung auch hier stellen.
Das in einem Zitat des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio präsentierte Fazit, wonach die liberale Demokratie sich in der Corona-Krise alles in allem "überraschend gut" geschlagen hätte, wird man spätestens nach der Lektüre schwerlich bestreiten können. Hinter diesem erfreulichen Befund lauert freilich die bange Frage, ob die Krisenfestigkeit unseres politischen Systems damit wirklich dauerhaft unter Beweis gestellt ist. Wie liberale Rechtsordnungen sich für nie ganz auszuschließende schlimmere Szenarien wappnen könnten, wäre eine juristische Betrachtung wert - aber das bleibt einem anderen Buch vorbehalten.
CONSTANTIN VAN LIJNDEN.
Jens Kersten/Stephan Rixen. Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise.
Verlag C.H. Beck, München 2020, 181 S. 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstes juristisches Fazit der Corona-Krise
Während die zur Bewältigung der Corona-Krise angeordneten Maßnahmen das öffentliche Leben im März und April weitgehend zum Erliegen brachten, hatten sie auf die Rechtswissenschaft genau den gegenteiligen Effekt: In nie zuvor erlebter Schlagzahl erschienen Analysen zu den, wie stets betont wurde, "massivsten Eingriffen in Freiheitsrechte der deutschen Nachkriegsgeschichte". Das erste vorläufige Fazit in Buchlänge haben nun die beiden Rechtslehrer Jens Kersten und Stephan Rixen gezogen. Es lässt sich grob in drei Drittel unterteilen: ein einleitendes zur Verortung von Begrifflichkeiten wie "Ausnahmezustand" oder "Notstandsverfassung" und zur Entscheidungsfindung bei unsicherer Sachlage, ein bürgerbezogenes, das Ausmaß und Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe behandelt, und ein staatsbezogenes, das um Fragen der Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung kreist. Dem "Essay", wie die Autoren ihr Werk nennen, vorangestellt ist eine süffisante Kritik des in Teilen der Staatsrechtslehre vorherrschenden Alarmismus, der hinter jedem Eingriff in ein Grundrecht dessen Abschaffung wittert und Deutschland auf dem Weg in den "faschistoid-hysterischen Hygienestaat" wähnt. Der Verzicht auf solche Dramatisierungen bedeutet freilich nicht, dass die Autoren in der Krise einem politischen Laissez-Faire das Wort reden. Im Gegenteil dürfte der Maßstab, den sie anlegen, vielen Bürgern noch streng erscheinen - etwa wenn Maßnahmen zur Steigerung der Impfbereitschaft in die Nähe staatlichen Zwangs gerückt werden, oder wenn das Verbot, bei Triage-Entscheidungen das Alter der Patienten zu berücksichtigen, als nicht einmal erklärungsbedürftig präsentiert wird.
Man muss nicht mit jeder dieser Wertungen übereinstimmen, um das Buch mit Genuss zu lesen. Lehrreich sind etwa die Erläuterungen juristischer und staatskundlicher Strukturprinzipien, die die Komplexität hinter scheinbar trivialen Begriffen wie "Verhältnismäßigkeit", "Föderalismus" oder "Gewaltenteilung" entfalten und somit auch zum Verständnis vermeintlicher Ungerechtigkeiten der Corona-Strategie (wie unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern) beitragen dürften. Das geschieht auf einem Niveau, bei dem Jurastudenten noch eine Menge lernen werden, das aber auch für juristisch unbeschlagene Menschen bei aufmerksamer Lektüre nachvollziehbar bleibt. Dazu passt auch der Duktus, der anspruchsvoll, aber nur in Ausnahmefällen ("Infrastrukturexistentialismus") abgehoben ausfällt.
Bedauerlicherweise verfallen die Autoren in einem anderen Punkt dann aber doch dem Hang, "Exerzitien juristischen Scharfsinns" gewissermaßen als Selbstzweck zu betreiben. So kreist der Abschnitt über Grundrechtseingriffe um drei Themen, die bislang keinerlei praktische Relevanz haben und womöglich nie haben werden (Triage, Impfpflicht, Immunitätsausweis), und um ein viertes, das bald gelockert wurde und praktisch oft nicht durchgesetzt wird (Einschränkungen des Demonstrationsrechts). Die in der Lebenswelt der meisten Menschen weitaus bedeutsameren Schul- und Kitaschließungen, die Einschränkungen für Gewerbetreibende und die staatlichen Fördermaßnahmen zum Ausgleich dieser Nachteile werden zwar erwähnt, aber kaum näher untersucht, obwohl sich (verfassungs-)rechtliche Fragestellungen etwa nach dem staatlichen Bildungsauftrag, der Familienförderung oder der gleichheitswahrenden Hilfsgewährung auch hier stellen.
Das in einem Zitat des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio präsentierte Fazit, wonach die liberale Demokratie sich in der Corona-Krise alles in allem "überraschend gut" geschlagen hätte, wird man spätestens nach der Lektüre schwerlich bestreiten können. Hinter diesem erfreulichen Befund lauert freilich die bange Frage, ob die Krisenfestigkeit unseres politischen Systems damit wirklich dauerhaft unter Beweis gestellt ist. Wie liberale Rechtsordnungen sich für nie ganz auszuschließende schlimmere Szenarien wappnen könnten, wäre eine juristische Betrachtung wert - aber das bleibt einem anderen Buch vorbehalten.
CONSTANTIN VAN LIJNDEN.
Jens Kersten/Stephan Rixen. Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise.
Verlag C.H. Beck, München 2020, 181 S. 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Constantin van Lijnden ist hoch erfreut, bei den Rechtslehrern Jens Kersten und Stephan Rixen belegt zu finden, dass die liberale Demokratie sich in der Krise gut geschlagen hat. Dass die Autoren in ihrem Fazit der Krise Themen wie Ausnahmezustand, Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung angehen und dabei gegen den die Grundrechte in Gefahr sehenden Alarmismus anschreiben, verleitet sie dem Rezensent zufolge aber nicht dazu, dem Staat alles durchgehen zu lassen. Genussreich lesen sich für den Rezensenten auch weniger die Wertungen im Buch als etwa die Erläuterungen "juristischer Strukturprinzipien". Hier erreichen die Autoren seiner Meinung nach ein hohes Niveau, ohne den Laien zu überfordern. "Juristische Exerzitien" leisten sie sich beim Thema Triage, räumt der Rezensent ein. Und was Kitaschließungen angeht, hätte er gern Gehaltvolleres gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH