1941: Die deutsche Wehrmacht überfällt die Sowjetunion. In der Ukraine gehen die deutschen Besatzer systematisch gegen die jüdische Bevölkerung vor. Zu Hunderttausenden werden jüdische Frauen, Männer und Kinder zusammengetrieben, zumeist abseits der Städte erschossen und in Massengräbern verscharrt.
Patrick Desbois hat die Spuren dieses vielfach verdrängten Kapitels des Holocaust gesucht. Dabei ist er auf Zeugen des nationalsozialistischen Völkermords gestoßen, die von der Forschung bisher kaum beachtet wurden: Menschen, die die Erschießungen vor über sechzig Jahren gesehen und gehört haben oder sogar gezwungen wurden, den Mördern zur Hand zu gehen.
Desbois hat es sich zur Aufgabe gemacht, die noch lebenden Zeugen zu finden und mit kriminalistischer Akribie die Spuren des Genozids zu dokumentieren. Zusammen mit einer Übersetzerin, einem Historiker, einem Fotografen und einem Ballistik - experten ist er dafür von Dorf zu Dorf gefahren. Mit ihrer Hilfe hat er bislang Hunderte vonTatorten und vergessenen Massengräbern ausfindig gemacht und ist Frauen und Männern begegnet, die nach Jahrzehnten des Schweigens zum ersten Mal über ihre schmerzhaften Erinnerungen sprechen.
Der vergessene Holocaust ist nicht nur ein bedeutender Beitrag zur zeitgeschichtlichen Forschung. Es ist auch ein erschütterndes Monument der Erinnerung an die 1,5 Millionen ukrainischen Juden, die abseits der Vernichtungslager ermordet wurden und denen bis heute eine würdige Grabstätte verwehrt geblieben ist.
Patrick Desbois hat die Spuren dieses vielfach verdrängten Kapitels des Holocaust gesucht. Dabei ist er auf Zeugen des nationalsozialistischen Völkermords gestoßen, die von der Forschung bisher kaum beachtet wurden: Menschen, die die Erschießungen vor über sechzig Jahren gesehen und gehört haben oder sogar gezwungen wurden, den Mördern zur Hand zu gehen.
Desbois hat es sich zur Aufgabe gemacht, die noch lebenden Zeugen zu finden und mit kriminalistischer Akribie die Spuren des Genozids zu dokumentieren. Zusammen mit einer Übersetzerin, einem Historiker, einem Fotografen und einem Ballistik - experten ist er dafür von Dorf zu Dorf gefahren. Mit ihrer Hilfe hat er bislang Hunderte vonTatorten und vergessenen Massengräbern ausfindig gemacht und ist Frauen und Männern begegnet, die nach Jahrzehnten des Schweigens zum ersten Mal über ihre schmerzhaften Erinnerungen sprechen.
Der vergessene Holocaust ist nicht nur ein bedeutender Beitrag zur zeitgeschichtlichen Forschung. Es ist auch ein erschütterndes Monument der Erinnerung an die 1,5 Millionen ukrainischen Juden, die abseits der Vernichtungslager ermordet wurden und denen bis heute eine würdige Grabstätte verwehrt geblieben ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.02.2009Die Erde hat sich noch tagelang bewegt
Ein französischer Priester erforscht den vergessenen Holocaust in der Ukraine
Tausende von Briefen hat Patrick Debois in den vergangenen Jahren bekommen, und die meisten enthalten die immer wieder gestellte, flehentlich formulierte Frage: „Bitte, sagen Sie mir, was mit meiner Familie geschehen ist. Wir haben seit 1941 keine Nachrichten mehr.”
Debois hat viele solcher Nachrichten; er sammelt seit neun Jahren die Namen und Todesstätten von Juden, die in der Ukraine von den Nazis und ihren Helfern ermordet wurden, sammelt Erinnerungen und Relikte, sucht Zeugen und findet Gräber und dadurch auch die konkrete Geschichte von Opfern, die bis vor kurzem keine eigene Geschichte und keinen Namen mehr hatten. Die von den beiden schönen Mädchen zum Beispiel, die als letzte ihrer Familie noch lebten und von einem NS-Soldaten aus einiger Entfernung von einem Baum herab vor ihrem Haus erschossen wurden; so hat es eine Nachbarin nun, nach all den Jahren, berichtet. Und soviel hat Debois den Familienmitgliedern mitgeteilt, die nach Nachrichten über die beiden Mädchen gefragt hatten. Nicht mitgeteilt hat er ihnen, dass die Leichen später fortgeschleift, missbraucht und misshandelt wurden. „Ich kann oft nicht die ganze Wahrheit sagen, ohne Zynismus und Horror in die Welt zu setzen”, sagt Debois, der doch seit Jahren unvorstellbar Grausames hört und aufzeichnet.
„Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden” heißt das dieser Tage erschienene Buch (Berlin Verlag, 352 Seiten, 22,90 Euro), das am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde – und so heißt auch das Lebensprojekt, mit dem Pater Debois, ein französischer Priester, die kollektive Verdrängung bekämpft. Das Buch ist das publizistische Ergebnis der Arbeit einer kleinen Gruppe von Historikern, Dolmetschern, Ballistikern, Kameraleuten, Fahrern, Fotografen und Bodyguards rund um Debois und den Verein „Yahad in unum” (hebräisch und lateinisch für gemeinsam), die sich zum Ziel gesetzt hat, vergessene Massengräber zu finden und Hunderttausenden ermordeter Menschen ihre Würde zurückzugeben. Debois hat Teile der Ukraine bereist, aber mittlerweile auch seine Arbeit in Weißrussland begonnen; Ossetien, wo Debois ebenfalls Massengräber vermutet, steht noch aus. „Dieses ist ein Kurzzeit-Projekt”, sagt er. „Wir haben nur noch ein paar Jahre, dann sind die letzten Zeugen tot; dabei haben viele darauf gewartet, reden zu können. Warum kommen Sie so spät, werde ich oft gefragt.”
Die Organisation mit Sitz in Paris, initiiert unter anderem vom verstorbenen Pariser Kardinal Aaron Jean Marie Lustiger, unterstützt vom Jüdischen Weltkongress, lebt vom Engagement des 53-jährigen Priesters, den der deutsche Holocaust-Forscher Arno Lustiger einen „Archäologen des Bösen” nennt. „Warum besuche ich jedes ukrainische Dorf, jedes Haus, fahre kreuz und quer auf den Landstraßen, um auch noch den kleinsten Weiler zu finden, wo ein Jude ermordet wurde? Weil sich die Völkermorde vermehren, fortpflanzen”, schreibt der Priester – und erzählt, dass er oft keine Luft mehr bekomme bei den Befragungen, dass es schwer sei, keine Reaktion zu zeigen, wenn ihm etwa eine alte ukrainische Bäuerin erzähle, wie eine Gruppe Juden unter dem Marktplatz in ein Loch gesperrt wurde, wie Erde darauf geschüttet wurde und man die Menschen dem Erstickungstod überließ. Wann die Erdhöhle denn geöffnet worden sei, habe er gefragt. „1954”, sei die Antwort gewesen. Solange habe sich niemand für die Nachbarn von einst interessiert.
1,5 Millionen Juden sind in der Ukraine ermordet worden, nicht wie anderswo in Vernichtungslagern mit ihren Stacheldrähten, Gaskammern und Öfen, sondern durch Erschießungskommandos, oft Tausende Juden pro Tag an vielen Orten gleichzeitig, oft im Wald, bisweilen aber auch mitten im Dorf, fast immer unter den Augen einiger, oft aller Anwohner. Viele von ihnen haben die Nachrichten, auf die Überlebende in aller Welt warten, in ihrem Herzen verschlossen, haben niemals über jene Zeit gesprochen, als die Deutschen ins Dorf, in die Stadt kamen, meist am Morgen oder am Vortag der Morde, haben nie erzählt, wie die SS-Männer den Erschießungsort auswählten, von zwangsrequirierten Dorfbewohnern oder den Opfern selbst Gruben ausheben ließen. Dann mit Lastwägen voller Menschen wiederkehrten, die sie direkt über den Gruben erschossen – oder aber wie sie die in Todesangst erstarrten Juden des Dorfes direkt und unter den Augen ihrer Nachbarn über die Hauptstraße zum Hinrichtungsort führten, wo diese sich hinter schnell errichteten Zäunen, bisweilen aber auch im Offenen und unter den Augen neugieriger Zuschauer entkleiden mussten und dann in Gruppen hingerichtet wurden.
Die Zeugen von einst, alte Leute heute allesamt, hatten niemandem davon berichtet, wie die Nazis während der Erschießungen regelrechte Gelage feierten und sich, besoffen und vollgefressen, beim Töten abwechselten. Und wie sie, die Ukrainer, noch Kinder damals, die Opfer bis zur Erschießung bewachen, wie sie Leichen in den Gruben festtreten mussten, damit mehr Körper hineinpassen, wie sie Goldzähne herausbrechen mussten und Kalk über den Gräbern ausschütteten, um das Blut zu bedecken, wie sie die Möbel und die Kleider der Toten zusammenzutragen und für den Abtransport herzurichten hatten.
Und die wenigsten haben je erzählt, was sich Debois und seinen Mitarbeitern als immer wiederkehrendes Motiv eingebrannt hat: dass sich die Gräber noch nach Tagen bewegten, immer noch hoben und senkten, dass die Äcker stöhnten und bisweilen eine Hand aus der Erde nach oben ins Leere griff, weil die Menschen, die darin lagen, nicht alle tot waren. „Die Erde hat sich noch tagelang bewegt”, diesen Satz hat Patrick Debois Dutzende Male gehört. Er wisse, sagt er, dass die Opfer „in der Erde weinen. Ein Krieg ist erst zu Ende, wenn das letzte Opfer beerdigt ist. ”
887 Zeitzeugen hat Debois auf seinen Reisen durch die Ukraine befragt und ihre Aussagen dokumentiert – nach einem in Jahren erprobten Prozedere: Vor dem Besuch eines Dorfs wird in Archiven in Deutschland, den USA, Russland und der Ukraine recherchiert, wo die Morde stattgefunden haben könnten. Aufschlussreich sind dabei besonders die Dokumente der sowjetischen Historikerkommission von 1944, die bereits damals den Holocaust in Befragungen nachvollzog. Dann werden Zeitzeugen in den Dörfern ausfindig gemacht und interviewt. Geschlossene Fragen, stundenlang: Wurden die Opfer alle an einem Tag hergebracht? Um wie viel Uhr war das? Kamen sie zu Fuß? Von wo haben Sie die Erschießungen beobachtet? Wurden die Juden einzeln getötet? Kam es vor, dass Leute, wenn sie erschossen wurden, nicht in die Grube fielen? Ist jemand weggelaufen? Was geschah mit ihm? Dann lässt er sich zu den Massengräbern führen, oftmals auf der Suche nach Gold geschändet, oft aber auch vergessen. Selten ist ein Gedenkstein errichtet.
Bis 1941 lebten etwa 530 000 Juden im polnischen Galizien, der heutigen Westukraine, und 1,6 Millionen in der Ostukraine. Die Einsatzkommandos 4a, 4b, 5, 6, 10a, 10b, 11a, 11b und 12 der Einsatzgruppen C und D ermordeten, unterstützt von Ordnungs- und Sicherheitspolizei und Freiwilligen der ukrainischen Hilfspolizei, aber auch von Wehrmacht und Geheimer Feldpolizei, fast alle diese Menschen – in „Handarbeit”, wie Arno Lustiger sarkastisch anmerkt. Patrick Debois setzt ihnen mit seiner Arbeit und seinem eindrucksvollen Buch ein Denkmal. CATHRIN KAHLWEIT
Patrick Debois Foto: Berlin Verlag
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ein französischer Priester erforscht den vergessenen Holocaust in der Ukraine
Tausende von Briefen hat Patrick Debois in den vergangenen Jahren bekommen, und die meisten enthalten die immer wieder gestellte, flehentlich formulierte Frage: „Bitte, sagen Sie mir, was mit meiner Familie geschehen ist. Wir haben seit 1941 keine Nachrichten mehr.”
Debois hat viele solcher Nachrichten; er sammelt seit neun Jahren die Namen und Todesstätten von Juden, die in der Ukraine von den Nazis und ihren Helfern ermordet wurden, sammelt Erinnerungen und Relikte, sucht Zeugen und findet Gräber und dadurch auch die konkrete Geschichte von Opfern, die bis vor kurzem keine eigene Geschichte und keinen Namen mehr hatten. Die von den beiden schönen Mädchen zum Beispiel, die als letzte ihrer Familie noch lebten und von einem NS-Soldaten aus einiger Entfernung von einem Baum herab vor ihrem Haus erschossen wurden; so hat es eine Nachbarin nun, nach all den Jahren, berichtet. Und soviel hat Debois den Familienmitgliedern mitgeteilt, die nach Nachrichten über die beiden Mädchen gefragt hatten. Nicht mitgeteilt hat er ihnen, dass die Leichen später fortgeschleift, missbraucht und misshandelt wurden. „Ich kann oft nicht die ganze Wahrheit sagen, ohne Zynismus und Horror in die Welt zu setzen”, sagt Debois, der doch seit Jahren unvorstellbar Grausames hört und aufzeichnet.
„Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden” heißt das dieser Tage erschienene Buch (Berlin Verlag, 352 Seiten, 22,90 Euro), das am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde – und so heißt auch das Lebensprojekt, mit dem Pater Debois, ein französischer Priester, die kollektive Verdrängung bekämpft. Das Buch ist das publizistische Ergebnis der Arbeit einer kleinen Gruppe von Historikern, Dolmetschern, Ballistikern, Kameraleuten, Fahrern, Fotografen und Bodyguards rund um Debois und den Verein „Yahad in unum” (hebräisch und lateinisch für gemeinsam), die sich zum Ziel gesetzt hat, vergessene Massengräber zu finden und Hunderttausenden ermordeter Menschen ihre Würde zurückzugeben. Debois hat Teile der Ukraine bereist, aber mittlerweile auch seine Arbeit in Weißrussland begonnen; Ossetien, wo Debois ebenfalls Massengräber vermutet, steht noch aus. „Dieses ist ein Kurzzeit-Projekt”, sagt er. „Wir haben nur noch ein paar Jahre, dann sind die letzten Zeugen tot; dabei haben viele darauf gewartet, reden zu können. Warum kommen Sie so spät, werde ich oft gefragt.”
Die Organisation mit Sitz in Paris, initiiert unter anderem vom verstorbenen Pariser Kardinal Aaron Jean Marie Lustiger, unterstützt vom Jüdischen Weltkongress, lebt vom Engagement des 53-jährigen Priesters, den der deutsche Holocaust-Forscher Arno Lustiger einen „Archäologen des Bösen” nennt. „Warum besuche ich jedes ukrainische Dorf, jedes Haus, fahre kreuz und quer auf den Landstraßen, um auch noch den kleinsten Weiler zu finden, wo ein Jude ermordet wurde? Weil sich die Völkermorde vermehren, fortpflanzen”, schreibt der Priester – und erzählt, dass er oft keine Luft mehr bekomme bei den Befragungen, dass es schwer sei, keine Reaktion zu zeigen, wenn ihm etwa eine alte ukrainische Bäuerin erzähle, wie eine Gruppe Juden unter dem Marktplatz in ein Loch gesperrt wurde, wie Erde darauf geschüttet wurde und man die Menschen dem Erstickungstod überließ. Wann die Erdhöhle denn geöffnet worden sei, habe er gefragt. „1954”, sei die Antwort gewesen. Solange habe sich niemand für die Nachbarn von einst interessiert.
1,5 Millionen Juden sind in der Ukraine ermordet worden, nicht wie anderswo in Vernichtungslagern mit ihren Stacheldrähten, Gaskammern und Öfen, sondern durch Erschießungskommandos, oft Tausende Juden pro Tag an vielen Orten gleichzeitig, oft im Wald, bisweilen aber auch mitten im Dorf, fast immer unter den Augen einiger, oft aller Anwohner. Viele von ihnen haben die Nachrichten, auf die Überlebende in aller Welt warten, in ihrem Herzen verschlossen, haben niemals über jene Zeit gesprochen, als die Deutschen ins Dorf, in die Stadt kamen, meist am Morgen oder am Vortag der Morde, haben nie erzählt, wie die SS-Männer den Erschießungsort auswählten, von zwangsrequirierten Dorfbewohnern oder den Opfern selbst Gruben ausheben ließen. Dann mit Lastwägen voller Menschen wiederkehrten, die sie direkt über den Gruben erschossen – oder aber wie sie die in Todesangst erstarrten Juden des Dorfes direkt und unter den Augen ihrer Nachbarn über die Hauptstraße zum Hinrichtungsort führten, wo diese sich hinter schnell errichteten Zäunen, bisweilen aber auch im Offenen und unter den Augen neugieriger Zuschauer entkleiden mussten und dann in Gruppen hingerichtet wurden.
Die Zeugen von einst, alte Leute heute allesamt, hatten niemandem davon berichtet, wie die Nazis während der Erschießungen regelrechte Gelage feierten und sich, besoffen und vollgefressen, beim Töten abwechselten. Und wie sie, die Ukrainer, noch Kinder damals, die Opfer bis zur Erschießung bewachen, wie sie Leichen in den Gruben festtreten mussten, damit mehr Körper hineinpassen, wie sie Goldzähne herausbrechen mussten und Kalk über den Gräbern ausschütteten, um das Blut zu bedecken, wie sie die Möbel und die Kleider der Toten zusammenzutragen und für den Abtransport herzurichten hatten.
Und die wenigsten haben je erzählt, was sich Debois und seinen Mitarbeitern als immer wiederkehrendes Motiv eingebrannt hat: dass sich die Gräber noch nach Tagen bewegten, immer noch hoben und senkten, dass die Äcker stöhnten und bisweilen eine Hand aus der Erde nach oben ins Leere griff, weil die Menschen, die darin lagen, nicht alle tot waren. „Die Erde hat sich noch tagelang bewegt”, diesen Satz hat Patrick Debois Dutzende Male gehört. Er wisse, sagt er, dass die Opfer „in der Erde weinen. Ein Krieg ist erst zu Ende, wenn das letzte Opfer beerdigt ist. ”
887 Zeitzeugen hat Debois auf seinen Reisen durch die Ukraine befragt und ihre Aussagen dokumentiert – nach einem in Jahren erprobten Prozedere: Vor dem Besuch eines Dorfs wird in Archiven in Deutschland, den USA, Russland und der Ukraine recherchiert, wo die Morde stattgefunden haben könnten. Aufschlussreich sind dabei besonders die Dokumente der sowjetischen Historikerkommission von 1944, die bereits damals den Holocaust in Befragungen nachvollzog. Dann werden Zeitzeugen in den Dörfern ausfindig gemacht und interviewt. Geschlossene Fragen, stundenlang: Wurden die Opfer alle an einem Tag hergebracht? Um wie viel Uhr war das? Kamen sie zu Fuß? Von wo haben Sie die Erschießungen beobachtet? Wurden die Juden einzeln getötet? Kam es vor, dass Leute, wenn sie erschossen wurden, nicht in die Grube fielen? Ist jemand weggelaufen? Was geschah mit ihm? Dann lässt er sich zu den Massengräbern führen, oftmals auf der Suche nach Gold geschändet, oft aber auch vergessen. Selten ist ein Gedenkstein errichtet.
Bis 1941 lebten etwa 530 000 Juden im polnischen Galizien, der heutigen Westukraine, und 1,6 Millionen in der Ostukraine. Die Einsatzkommandos 4a, 4b, 5, 6, 10a, 10b, 11a, 11b und 12 der Einsatzgruppen C und D ermordeten, unterstützt von Ordnungs- und Sicherheitspolizei und Freiwilligen der ukrainischen Hilfspolizei, aber auch von Wehrmacht und Geheimer Feldpolizei, fast alle diese Menschen – in „Handarbeit”, wie Arno Lustiger sarkastisch anmerkt. Patrick Debois setzt ihnen mit seiner Arbeit und seinem eindrucksvollen Buch ein Denkmal. CATHRIN KAHLWEIT
Patrick Debois Foto: Berlin Verlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2009Auf Spurensuche
Befragungen über den Mord an den Juden in der Ukraine
Die Rede vom industriellen, fabrikmäßigen Mord an den europäischen Juden verdeckt die Tatsache, dass Hunderttausende jüdischer Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten durch Erschießen, Erschlagen und andere bestialische Methoden getötet worden sind. Die Nationalsozialisten versuchten, alle Spuren zu verwischen, und nach dem Krieg zeichnete kaum jemand Berichte über das Morden auf. Seit einigen Jahren jedoch durchbricht ein französischer katholischer Priester, Patrick Desbois, diese Wand des Vergessens, reist durch die ukrainische Provinz, befragt mit seinem Team die alten Dorfbewohner. Während die offiziellen Stellen immer wieder behaupten, dass von den Lagern, Gettos, Synagogen, Massengräbern nichts mehr zu sehen sei, erzählen die Alten, die damals Kinder waren, heute von den Erschießungen der Juden. Mit bewundernswerter Energie forscht Desbois nach, recherchiert - und entdeckt die Spuren des einstigen jüdischen Lebens wie dessen Vernichtung.
Patrick Desbois, dessen Großvater als Widerständler in ein ukrainisches Lager deportiert wurde und dort den Massenmord hatte ansehen müssen, hat sich über die eigene Familiengeschichte vom Schicksal der ukrainischen Juden anrühren lassen und bewegt nun selbst sehr viel. Sein Buch schildert die Forschungsarbeit in der Ukraine, es stellt das Team vor: die Dolmetscherin, den Ballistiker, den Fotografen, den Archivforscher, die Protokollanten, es dokumentiert Interviews mit Dorfbewohnern, die über die Erschießungen berichten, zeigt Bilder von den Mordstätten heute. Desbois verhehlt nicht sein Entsetzen, das ihn packt, wenn er zum Beispiel erfährt, dass Juden mitten im Dorf erschossen wurden, weil die Deutschen die Wälder wegen der Partisanen fürchteten. Oder wenn von den Dorfbewohnern die Rede ist, die den Mördern halfen, die Gruben auszuheben, die Leichen mit Sand oder Kalk zu bedecken und die übrig gebliebene Kleidung zu sortieren, nicht zuletzt von jenen Ukrainern, die zu den Erschießungsstätten liefen, weil sie hofften, dort noch Geld, Schmuck, Wertsachen der Ermordeten zu finden, oder die Möbel und Habseligkeiten der Opfer versteigerten. Es ist ein persönliches Buch, mutig, ungewöhnlich und aufschlussreich, weil es zeigt, wie jenseits akademischer Bahnen mit viel Engagement nicht nur der Toten erinnert, sondern auch unser Wissen über die Schoa wesentlich erweitert wird. Denn davon, was diese ukrainischen Zeugen zu berichten haben, ist in deutschen Akten nichts zu lesen.
MICHAEL WILDT
Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche. Berlin Verlag, Berlin 2009. 352 S., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Befragungen über den Mord an den Juden in der Ukraine
Die Rede vom industriellen, fabrikmäßigen Mord an den europäischen Juden verdeckt die Tatsache, dass Hunderttausende jüdischer Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten durch Erschießen, Erschlagen und andere bestialische Methoden getötet worden sind. Die Nationalsozialisten versuchten, alle Spuren zu verwischen, und nach dem Krieg zeichnete kaum jemand Berichte über das Morden auf. Seit einigen Jahren jedoch durchbricht ein französischer katholischer Priester, Patrick Desbois, diese Wand des Vergessens, reist durch die ukrainische Provinz, befragt mit seinem Team die alten Dorfbewohner. Während die offiziellen Stellen immer wieder behaupten, dass von den Lagern, Gettos, Synagogen, Massengräbern nichts mehr zu sehen sei, erzählen die Alten, die damals Kinder waren, heute von den Erschießungen der Juden. Mit bewundernswerter Energie forscht Desbois nach, recherchiert - und entdeckt die Spuren des einstigen jüdischen Lebens wie dessen Vernichtung.
Patrick Desbois, dessen Großvater als Widerständler in ein ukrainisches Lager deportiert wurde und dort den Massenmord hatte ansehen müssen, hat sich über die eigene Familiengeschichte vom Schicksal der ukrainischen Juden anrühren lassen und bewegt nun selbst sehr viel. Sein Buch schildert die Forschungsarbeit in der Ukraine, es stellt das Team vor: die Dolmetscherin, den Ballistiker, den Fotografen, den Archivforscher, die Protokollanten, es dokumentiert Interviews mit Dorfbewohnern, die über die Erschießungen berichten, zeigt Bilder von den Mordstätten heute. Desbois verhehlt nicht sein Entsetzen, das ihn packt, wenn er zum Beispiel erfährt, dass Juden mitten im Dorf erschossen wurden, weil die Deutschen die Wälder wegen der Partisanen fürchteten. Oder wenn von den Dorfbewohnern die Rede ist, die den Mördern halfen, die Gruben auszuheben, die Leichen mit Sand oder Kalk zu bedecken und die übrig gebliebene Kleidung zu sortieren, nicht zuletzt von jenen Ukrainern, die zu den Erschießungsstätten liefen, weil sie hofften, dort noch Geld, Schmuck, Wertsachen der Ermordeten zu finden, oder die Möbel und Habseligkeiten der Opfer versteigerten. Es ist ein persönliches Buch, mutig, ungewöhnlich und aufschlussreich, weil es zeigt, wie jenseits akademischer Bahnen mit viel Engagement nicht nur der Toten erinnert, sondern auch unser Wissen über die Schoa wesentlich erweitert wird. Denn davon, was diese ukrainischen Zeugen zu berichten haben, ist in deutschen Akten nichts zu lesen.
MICHAEL WILDT
Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche. Berlin Verlag, Berlin 2009. 352 S., 22,90 [Euro].
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