"Die übliche Geschichte der Großen Depression kennen wir bereits. In den 1920er-Jahren erlebte Amerika einen Zeitraum falschen Wachstums und schlechter Moral. [...] Der Börsenkrach war das ehrliche Eingeständnis des Zusammenbruchs des Kapitalismus - und die Ursache der Depression. [...] Mit dem Crash ging ein Gefühl einher, dass die Wirtschaftslage von 1930 oder 1931 ohne umfangreiche Interventionen durch Washington nicht wieder aufleben konnte. Hoover, so sagte man, verschlimmerte die Situation durch seine unerbittliche Weigerung, die Kontrolle zu übernehmen, durch sein lächerliches Bekenntnis zu etwas, was er standhaften Individualismus nannte. Roosevelt jedoch verbesserte die Situation, als er das Ruder übernahm. Sein New Deal inspirierte und überschwemmte das Land. Auf diese Weise widerstand das Land einer Revolution, wie sie Europa erfasste und zu Boden warf. Ohne den New Deal wären wir alle verloren gewesen."
Die Behauptung, dass die Demokratie ohne den New Deal in den USA gescheitert wäre, hielt sich sieben Jahrzehnte lang. Ebenso wie der New-Deal-Mythos, dass die ungehemmte Entfaltung des Kapitalismus, die letztendlich für die Krise verantwortlich gemacht wurde, nur durch das Eingreifen des Staates zu verhindern gewesen wäre. Der vergessene Mann zeigt nun, dass es sich lohnt in die Depression, die eine ganze Nation zu Boden warf, zurückzublicken, um mit diesem Glauben an den New Deal und die Politik Hoovers und Roosevelts aufzuräumen - um endlich ihre verlorene Geschichte aufzuspüren.
Ungefähr ein halbes Jahrhundert vor der Großen Depression hielt William Graham Sumner, ein Philosoph an der Universität von Yale, eine Vorlesung gegen die Progressiven seiner Zeit und zur Verteidigung des klassischen Liberalismus. Aus der Vorlesung wurde letztlich ein Essay mit dem Titel "The Forgotten Man", das die Tatsache, dass Durchschnittsbürger oftmals für zweifelhafte Sozialprogramme aufkommen müssen, so erklärte: "Sobald A etwas bemerkt, das ihm falsch erscheint und unter dem X zu leiden hat, spricht A darüber mit B und die beiden formulieren einen Gesetzesentwurf, um X zu helfen. Ihr Gesetz versucht festzulegen, was A, B und C für X tun sollen."
Aber was ist mit C? Es war mit Sicherheit nichts falsch daran, dass A und B X helfen wollten. Was falsch daran war, war das Gesetz und dass C an diese "gute" Sache gesetzlich gebunden wird. C war der vergessene Mensch, der Mensch der bezahlen musste, "der Mensch, an den niemand denkt".
1932 münzte Roosevelt diesen Begriff für seine Zwecke um. Wenn er gewählt würde, versprach Roosevelt, würde er im Namen "des vergessenen Menschen am Boden der Wirtschaftspyramide" handeln. Während C der vergessene Mann Sumners war, machte der New Deal X zum vergessenen Menschen - den armen Menschen, den alten Menschen, den Arbeiter oder andere Empfänger von Hilfsleistungen der Regierung.
Amity Shlaes widmet dieser folgenschweren Missinterpretation ein ganzes Buch, das uns die andere Wirklichkeit der Weltwirtschaftskrise unbarmherzig vor Augen führt. Ihre Geschichte behandelt das Leben von A, dem Progressiven aus den 1920er- und 1930er-Jahren, dessen gute Absichten das Land inspirierten. Noch mehr aber ist es die Geschichte von C, an den nicht gedacht wurde. Er war der Mensch in der Zeit der Depression, der nicht Teil irgendeiner politischen Zielgruppe war und deshalb die negativen Seiten dieser Zeit zu spüren bekam. Er war der Mensch, der die großen Projekte bezahlen musste, der Scheinarbeit anstatt echter Arbeit bekam. Er war der Mensch, der vergeblich auf das wirtschaftliche Wachstum wartete.
Anhand einer Vielzahl spannender Geschichten dieser heute vergessenen Menschen entwirft die Autorin ein detailliertes Bild jener Zeit, das sich aufgrund der aktuellen Ereignisse in Wirtschaft und Politik beinahe wie eine Warnung liest.
Die Behauptung, dass die Demokratie ohne den New Deal in den USA gescheitert wäre, hielt sich sieben Jahrzehnte lang. Ebenso wie der New-Deal-Mythos, dass die ungehemmte Entfaltung des Kapitalismus, die letztendlich für die Krise verantwortlich gemacht wurde, nur durch das Eingreifen des Staates zu verhindern gewesen wäre. Der vergessene Mann zeigt nun, dass es sich lohnt in die Depression, die eine ganze Nation zu Boden warf, zurückzublicken, um mit diesem Glauben an den New Deal und die Politik Hoovers und Roosevelts aufzuräumen - um endlich ihre verlorene Geschichte aufzuspüren.
Ungefähr ein halbes Jahrhundert vor der Großen Depression hielt William Graham Sumner, ein Philosoph an der Universität von Yale, eine Vorlesung gegen die Progressiven seiner Zeit und zur Verteidigung des klassischen Liberalismus. Aus der Vorlesung wurde letztlich ein Essay mit dem Titel "The Forgotten Man", das die Tatsache, dass Durchschnittsbürger oftmals für zweifelhafte Sozialprogramme aufkommen müssen, so erklärte: "Sobald A etwas bemerkt, das ihm falsch erscheint und unter dem X zu leiden hat, spricht A darüber mit B und die beiden formulieren einen Gesetzesentwurf, um X zu helfen. Ihr Gesetz versucht festzulegen, was A, B und C für X tun sollen."
Aber was ist mit C? Es war mit Sicherheit nichts falsch daran, dass A und B X helfen wollten. Was falsch daran war, war das Gesetz und dass C an diese "gute" Sache gesetzlich gebunden wird. C war der vergessene Mensch, der Mensch der bezahlen musste, "der Mensch, an den niemand denkt".
1932 münzte Roosevelt diesen Begriff für seine Zwecke um. Wenn er gewählt würde, versprach Roosevelt, würde er im Namen "des vergessenen Menschen am Boden der Wirtschaftspyramide" handeln. Während C der vergessene Mann Sumners war, machte der New Deal X zum vergessenen Menschen - den armen Menschen, den alten Menschen, den Arbeiter oder andere Empfänger von Hilfsleistungen der Regierung.
Amity Shlaes widmet dieser folgenschweren Missinterpretation ein ganzes Buch, das uns die andere Wirklichkeit der Weltwirtschaftskrise unbarmherzig vor Augen führt. Ihre Geschichte behandelt das Leben von A, dem Progressiven aus den 1920er- und 1930er-Jahren, dessen gute Absichten das Land inspirierten. Noch mehr aber ist es die Geschichte von C, an den nicht gedacht wurde. Er war der Mensch in der Zeit der Depression, der nicht Teil irgendeiner politischen Zielgruppe war und deshalb die negativen Seiten dieser Zeit zu spüren bekam. Er war der Mensch, der die großen Projekte bezahlen musste, der Scheinarbeit anstatt echter Arbeit bekam. Er war der Mensch, der vergeblich auf das wirtschaftliche Wachstum wartete.
Anhand einer Vielzahl spannender Geschichten dieser heute vergessenen Menschen entwirft die Autorin ein detailliertes Bild jener Zeit, das sich aufgrund der aktuellen Ereignisse in Wirtschaft und Politik beinahe wie eine Warnung liest.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.2011Der Weg zur
großen Depression
Dies ist kein Buch für eilige Leser. Man muss Geduld mitbringen und darf sich nicht daran stören, dass kaum eine handelnde Person eingeführt wird, ohne dass man in Nebensätzen zum Beispiel über deren Herkunft, Beruf oder private und geschäftliche Beziehungen informiert wird. Hier führt die Vorliebe für fast romanhafte Schilderungen die Autorin, die als Kolumnistin auch für Bloomberg, die Financial Times und das Wall Street Journal arbeitet, eher auf Abwege. Worum geht es in dem Buch?
Amity Shlaes möchte mit der verbreiteten Ansicht aufräumen, dass die amerikanische Demokratie und Wirtschaftsordnung ohne den „New Deal“, also die staatlichen Eingriffe der Roosevelt-Regierung in den Jahren 1933 bis 1939, zum Scheitern verurteilt gewesen wären. Um ihre kritische Sicht auf die gewaltigen staatlichen Rettungsprogramme begründen zu können, entfaltet Shlaes ein beeindruckendes fakten- und personenreiches Panorama, das sich von 1927 bis ins Jahr 1940 erstreckt.
Es handelt von vermeintlichen Helden, den Politikern, und Schurken, den Finanzjongleuren der Wall Street und des Großkapitals. Und es handelt von den wahren Helden: eben dem „vergessenen Mann“, dem Durchschnittsbürger, dem auch hierzulande sprichwörtlich gewordenen braven Steuerzahler, der jeden Morgen klaglos zur Arbeit geht und für womöglich fragwürdige Sozialprogramme aufkommen muss. In einer auf wichtige Wegmarken konzentrierten, dichten Chronologie zeichnet Shlaes die Kämpfe der Zeit nach. Der Blick „von oben“ und der „von unten“ wechseln sich ab.
Als Ursachen der Depression nennt Shlaes den Börseneinbruch, den auch durch eine verfehlte Zollpolitik zurückgehenden internationalen Handel und die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der „Umstellung von der landwirtschaftlichen auf die industrielle Produktion“. Als größte Probleme identifiziert sie die Interventionen des Staates und das „fehlende Vertrauen in den Markt“. Auch Roosevelts Vorgänger-Regierung Hoover hatte sich seit Ende der 1920er Jahre kräftig ins Wirtschaftsgeschehen eingemischt. Was die Privatwirtschaft zur wirtschaftlichen Gesundung hätte beitragen können, sei unterdrückt worden. Staatliche Interventionen, so ihre zentrale These, hätten dafür gesorgt, dass „aus einer Depression die große Depression wurde“. Insbesondere die Erwerbslosenzahlen scheinen der Autorin recht zu geben. Die Arbeitslosenquote stieg von 3,3 Prozent im Jahr 1927 auf fast 23 Prozent im Oktober 1933 und sank erst im Dezember 1936 auf immerhin noch 15,3 Prozent, um in den folgenden Jahren etwa auf diesem Niveau zu bleiben. Allerdings weiß niemand, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn die Regierung nicht eingegriffen hätte.
Die Originalausgabe ist bereits 2007 erschienen. Der Erfolg des Buches in den USA ist sicherlich zum großen Teil damit zu erklären, dass es vor dem Hintergrund der in jenem Jahr einsetzenden Finanzkrise denjenigen „Munition“ lieferte, die staatliche Eingriffe ablehnten und den „Selbstheilungskräften“ des Marktes vertrauten. Betrachtungen der Autorin über Ähnlichkeiten zwischen New Deal, Faschismus und Kommunismus liefern zusätzliche Argumente. Dass das Buch als Warnung vor staatlichen Rettungsversuchen herhalten muss, ist bedauerlich. So gerät in den Hintergrund, dass es dank der anschaulichen Schilderung der Schicksale und Entscheidungen „großer“ und „vergessener Männer“ – und auch einiger Frauen – tatsächlich neue und mitunter provozierende Einblicke in die Geschichte der Weltwirtschaftskrise zu bieten hat.
Werner Bührer
Amity Shlaes: Der vergessene Mann. Eine neue Sicht auf Roosevelt, den New Deal und den Staat
als Retter. Aus dem Englischen von Carsten Roth. Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2010. 448 Seiten. 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
großen Depression
Dies ist kein Buch für eilige Leser. Man muss Geduld mitbringen und darf sich nicht daran stören, dass kaum eine handelnde Person eingeführt wird, ohne dass man in Nebensätzen zum Beispiel über deren Herkunft, Beruf oder private und geschäftliche Beziehungen informiert wird. Hier führt die Vorliebe für fast romanhafte Schilderungen die Autorin, die als Kolumnistin auch für Bloomberg, die Financial Times und das Wall Street Journal arbeitet, eher auf Abwege. Worum geht es in dem Buch?
Amity Shlaes möchte mit der verbreiteten Ansicht aufräumen, dass die amerikanische Demokratie und Wirtschaftsordnung ohne den „New Deal“, also die staatlichen Eingriffe der Roosevelt-Regierung in den Jahren 1933 bis 1939, zum Scheitern verurteilt gewesen wären. Um ihre kritische Sicht auf die gewaltigen staatlichen Rettungsprogramme begründen zu können, entfaltet Shlaes ein beeindruckendes fakten- und personenreiches Panorama, das sich von 1927 bis ins Jahr 1940 erstreckt.
Es handelt von vermeintlichen Helden, den Politikern, und Schurken, den Finanzjongleuren der Wall Street und des Großkapitals. Und es handelt von den wahren Helden: eben dem „vergessenen Mann“, dem Durchschnittsbürger, dem auch hierzulande sprichwörtlich gewordenen braven Steuerzahler, der jeden Morgen klaglos zur Arbeit geht und für womöglich fragwürdige Sozialprogramme aufkommen muss. In einer auf wichtige Wegmarken konzentrierten, dichten Chronologie zeichnet Shlaes die Kämpfe der Zeit nach. Der Blick „von oben“ und der „von unten“ wechseln sich ab.
Als Ursachen der Depression nennt Shlaes den Börseneinbruch, den auch durch eine verfehlte Zollpolitik zurückgehenden internationalen Handel und die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der „Umstellung von der landwirtschaftlichen auf die industrielle Produktion“. Als größte Probleme identifiziert sie die Interventionen des Staates und das „fehlende Vertrauen in den Markt“. Auch Roosevelts Vorgänger-Regierung Hoover hatte sich seit Ende der 1920er Jahre kräftig ins Wirtschaftsgeschehen eingemischt. Was die Privatwirtschaft zur wirtschaftlichen Gesundung hätte beitragen können, sei unterdrückt worden. Staatliche Interventionen, so ihre zentrale These, hätten dafür gesorgt, dass „aus einer Depression die große Depression wurde“. Insbesondere die Erwerbslosenzahlen scheinen der Autorin recht zu geben. Die Arbeitslosenquote stieg von 3,3 Prozent im Jahr 1927 auf fast 23 Prozent im Oktober 1933 und sank erst im Dezember 1936 auf immerhin noch 15,3 Prozent, um in den folgenden Jahren etwa auf diesem Niveau zu bleiben. Allerdings weiß niemand, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn die Regierung nicht eingegriffen hätte.
Die Originalausgabe ist bereits 2007 erschienen. Der Erfolg des Buches in den USA ist sicherlich zum großen Teil damit zu erklären, dass es vor dem Hintergrund der in jenem Jahr einsetzenden Finanzkrise denjenigen „Munition“ lieferte, die staatliche Eingriffe ablehnten und den „Selbstheilungskräften“ des Marktes vertrauten. Betrachtungen der Autorin über Ähnlichkeiten zwischen New Deal, Faschismus und Kommunismus liefern zusätzliche Argumente. Dass das Buch als Warnung vor staatlichen Rettungsversuchen herhalten muss, ist bedauerlich. So gerät in den Hintergrund, dass es dank der anschaulichen Schilderung der Schicksale und Entscheidungen „großer“ und „vergessener Männer“ – und auch einiger Frauen – tatsächlich neue und mitunter provozierende Einblicke in die Geschichte der Weltwirtschaftskrise zu bieten hat.
Werner Bührer
Amity Shlaes: Der vergessene Mann. Eine neue Sicht auf Roosevelt, den New Deal und den Staat
als Retter. Aus dem Englischen von Carsten Roth. Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2010. 448 Seiten. 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein Buch, das "dank der anschaulichen Schilderung der Schicksale und Entscheidungen 'großer' und 'vergessener Männer' - und auch einiger Frauen - tatsächlich neue und mitunter provozierende Einblicke in die Geschichte der Weltwirtschaftskrise zu bieten hat." -- Süddeutsche Zeitung, 19./20. Februar 2011
"Ihre These: Nicht die schlechte Konjunkturpolitik allein habe zum Desaster geführt, sondern vor allem eine falsche Ordnungspolitik, die zu sehr auf Staatseingriffe setzte, anstatt die Marktkräfte wirken zu lassen - eine Erklärung, die gerade in Deutschland, dem Geburtsland des Ordoliberalismus, auf viel Gegenliebe stoßen dürfte." -- Handelsblatt, 11. März 2011
"Wer sich (...) einen ungewöhnlichen Blick auf die 30er verschaffen und verstehen möchte, wie damals hinter den Kulissen Politik gemacht wurde, wird bei Shlaes fündig." -- Welt am Sonntag, 27. März 2011
"Ihre These: Nicht die schlechte Konjunkturpolitik allein habe zum Desaster geführt, sondern vor allem eine falsche Ordnungspolitik, die zu sehr auf Staatseingriffe setzte, anstatt die Marktkräfte wirken zu lassen - eine Erklärung, die gerade in Deutschland, dem Geburtsland des Ordoliberalismus, auf viel Gegenliebe stoßen dürfte." -- Handelsblatt, 11. März 2011
"Wer sich (...) einen ungewöhnlichen Blick auf die 30er verschaffen und verstehen möchte, wie damals hinter den Kulissen Politik gemacht wurde, wird bei Shlaes fündig." -- Welt am Sonntag, 27. März 2011