Bayerischer Buchpreis 2019 für "Der vergessliche Riese".
Eine Familie erlebt einen Rollentausch: Der Vater, zweifach verwitwet, ist wieder Kind geworden. Er braucht Betreuung und wird sein Haus verlassen müssen, denn er vergisst, was gerade eben noch gewesen ist. Immer wieder erzählt er seine Liebesgeschichten, und manchmal phantasiert er.
Nach dem Bestseller "Leben", ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, schafft David Wagner etwas, das sehr kostbar ist: Er zeigt einen Menschen, der - obwohl er nur noch in der Gegenwart lebt und allmählich verschwindet - unverwechselbar bleibt mit all seinen liebenswerten Eigenheiten und den Erinnerungen, die er noch hat. Die Zärtlichkeit, die der Erzähler ihm bei seinen Besuchen und auf zahlreichen Autofahrten zu Orten der Vergangenheit entgegenbringt - "hier haben wir gewohnt, Papa, hier hast du gearbeitet, hier bist du aufgewachsen" -, berührt tief, auch die Geduld, der Humor, das Ausbleiben von Hadern und Wut. Ganz leise, fast unmerklich, schreitet die Demenz voran, doch sie verläuft hier ohne Schrecken. Der alte Galan, den seine Brüder wie früher Valentino nennen, ist glücklich, obwohl er weiß, was mit ihm ist.
Ein großes Thema unserer Zeit, das immer mehr Menschen betrifft. Und eine unvergessliche Erzählung.
Eine Familie erlebt einen Rollentausch: Der Vater, zweifach verwitwet, ist wieder Kind geworden. Er braucht Betreuung und wird sein Haus verlassen müssen, denn er vergisst, was gerade eben noch gewesen ist. Immer wieder erzählt er seine Liebesgeschichten, und manchmal phantasiert er.
Nach dem Bestseller "Leben", ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, schafft David Wagner etwas, das sehr kostbar ist: Er zeigt einen Menschen, der - obwohl er nur noch in der Gegenwart lebt und allmählich verschwindet - unverwechselbar bleibt mit all seinen liebenswerten Eigenheiten und den Erinnerungen, die er noch hat. Die Zärtlichkeit, die der Erzähler ihm bei seinen Besuchen und auf zahlreichen Autofahrten zu Orten der Vergangenheit entgegenbringt - "hier haben wir gewohnt, Papa, hier hast du gearbeitet, hier bist du aufgewachsen" -, berührt tief, auch die Geduld, der Humor, das Ausbleiben von Hadern und Wut. Ganz leise, fast unmerklich, schreitet die Demenz voran, doch sie verläuft hier ohne Schrecken. Der alte Galan, den seine Brüder wie früher Valentino nennen, ist glücklich, obwohl er weiß, was mit ihm ist.
Ein großes Thema unserer Zeit, das immer mehr Menschen betrifft. Und eine unvergessliche Erzählung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2019Wenn jeder Tag und jede Stunde neu ist
Der bedürftige Riese: David Wagner schreibt in seinem Vaterbuch virtuos und tapfer gegen das große Vergessen an.
Er nennt ihn Freund. "Woher kommst du, Freund?", sagt er, "Was machst du hier, Freund?" oder "Du hast dich auch nie sehen lassen, Freund". So geht es ein ums andere Mal, in mitunter enervierender Endlosschleife. Die Anrede lässt zwar auf Vertrautheit schließen, auf große Nähe, und das trifft auf die Beziehung der beiden zweifellos zu, nur ist die Formel hier vor allem ein Mittel der Verhüllung, denn es gilt etwas zu verbergen: Der Angesprochene ist nämlich kein Freund, sondern der eigene Sohn. Und der Vater spricht ihn so an, weil er anders nicht kann. Er hat seinen Namen vergessen, den Namen, den er einst mit so viel Bedacht ausgewählt hat.
David Wagner erzählt in seinem Buch "Der vergessliche Riese" über die fortschreitende Demenz seines Vaters. Als er wieder einmal in der Seniorenresidenz am Rhein mit Drachenfelsblick eintrifft, findet er im Appartement des Vaters einen Zettel vor: "David (Sohn) kommt morgen, 24.12. Gegen Mittag". Erst ist es nur der Name, der dem Vergessen anheimfällt, irgendwann ist es der Mensch selbst, den der Kranke nicht mehr erkennt. Die Welt um ihn herum wird ihm zum Rätsel, sie entschwindet im diffusen Nebel, und was folgt, ist große Verunsicherung, denn auf nichts ist mehr Verlass, sondern jede Begegnung wird vielmehr zur Fremdheitserfahrung, jede noch so banale Alltagshandlung zum unergründlichen Ereignis.
So weit ist die Demenz von Wagners Vater noch nicht vorangeschritten, doch seine drei Kinder wissen, was ihnen bevorsteht und dass es sich nicht aufhalten lässt. Dass der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller David Wagner sich jetzt mit dieser familiären Erfahrung schriftlich auseinandergesetzt hat, ist kein Wunder. Denn es ist nicht nur eine existentielle Erfahrung für die Angehörigen, sondern in unserer alternden Gesellschaft auch eine paradigmatische Krankheit und vielfach beschrieben; ob als Roman in Jonathan Franzens "Korrekturen" oder als persönliche Auseinandersetzungen wie bei Tilman Jens oder Arno Geiger.
Auffällig an allen diesen Büchern ist, dass sie fast immer aus der Vater-Sohn-Perspektive entwickelt sind. Womöglich ist es für Söhne noch einmal von anderer Relevanz als für Töchter, wenn der Vater, die dominante Figur, sich zusehends zum hilflosen, kindlich-schwachen Mann zurückverwandelt. Wagners Vaterstudie macht dies an einer Szene besonders deutlich, die beschreibt, wie der Sohn die Hand des Vaters nimmt und feststellt, dass sie sich "wieder wie eine Kinderhand anfühlt, "dabei war sie mal die größte Hand der Welt".
Über den erzählten Zeitraum von etwa drei Jahren fährt Wagner regelmäßig nach Nordrhein-Westfalen. Davor hatten die beiden sich über zwei Jahrzehnte hinweg kaum gesehen, jeder war mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Mit seiner zweiten Frau Claire hatte der Vater eine Beratungsfirma, die das Paar um die halbe Welt führte, während sein Sohn sich in den Neunzigern in Berlin niederließ, Schriftsteller wurde, eine Tochter bekam. Erst nach Claires Tod findet er seine Rolle als Sohn im Gefüge der Herkunftsfamilie wieder, die er fast vergessen hatte.
Das Buch kommt ohne Genrebezeichnung aus, es ist also anzunehmen, dass es sich um keinen fiktiven Stoff handelt. Ein Sachbuch aber hat Wagner auch nicht verfasst, denn wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen fehlen. Wagner beschreibt vielmehr, was er sieht, wie er fühlt und woran er denkt, und vor allem lässt er sein Personal ausführlich zu Wort kommen. Mehr als die Hälfte des Textes ist in wörtlicher Rede verfasst, was dem Geschilderten große Unmittelbarkeit verleiht, sowohl in der Komik wie auch der Drastik. Triftig ist das Buch nicht zuletzt deshalb, weil David Wagner sich in der Kunst des Weglassens übt. Die mitunter kuriosen Situationen beutet er nicht für die nächste Demenz-Pointe aus, sondern schildert lakonisch, nahezu zurückhaltend. Aber auch das große Drama will er nicht beschwören. Der Autor, dessen Debüt "Meine nachtblaue Hose" bis heute gültig ist und der vor gravierenden Stoffen nicht zurückscheut, so auch in "Leben", dem Buch über seine lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung, für das er mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde, kreiert in seiner Prosa einen ganz eigenen Ton, die mit zum Besten gehört, was es hierzulande derzeit zu lesen gibt.
Das Gespräch zwischen Vater und Sohn, zu dem sich gelegentlich die Schwestern Hanna und Miriam gesellen, gerät stellenweise zu einer Erzählung aus der alten Bundesrepublik: Ihre Repräsentanten werden noch einmal aufgerufen, das einstige Bundeskanzleramt mit der ikonischen Henry-Moore-Skulptur, die jeden Abend in den Nachrichten zu sehen war, ebenso wie die RAF und immer wieder der ikonische Kühlturm des Atomkraftwerks von Mülheim-Kärlich, der unlängst abgerissen wurde, im Roman aber noch steht. Der Rhein als mythisches Gewässer wird zum Urgrund allen Seins dieser Familie jedenfalls. So tragen die Schwestern des Vaters die Namen der Flusstöchter Wellgunde, Floßhilde und Woglinde.
Sie bekamen diese Namen nicht nur wegen der Begeisterung der Familie für den Komponisten gleichen Namens, Richard Wagner. Die Großeltern des Erzählers waren außerdem überzeugte Nationalsozialisten, der Großvater musste ob seiner Hitler-Treue nach dem Krieg ins Gefängnis und verdingte sich später, als Vater von neun Kindern, als Handelsvertreter ausgerechnet von Kinderwagen. David Wagners Vater und dessen erste, früh verstorbene Frau gaben daraufhin ihren Kindern jüdische Namen, als Geste der Wiedergutmachung wollten sie dies verstanden wissen. Erst später erkannten sie den in Wahrheit übergriffigen Charakter dieser Geste, in der sich eben auch der Wunsch nach Rollentausch verbarg, "Opfer, nicht Täter" sein zu wollen.
Jedes Mal, wenn der Erzähler neuerlich zu Besuch ist, kommt es zu anderen Irritationen und Fehlleistungen. Mal zieht der Vater während der Autofahrt die Handbremse, mal irrt er im Bademantel auf die Straße. Polnische Betreuerinnen ziehen in seiner Villa ein und aus, und irgendwann beschließen die Kinder, ihn in die Altersresidenz mit Drachenfelsblick zu übersiedeln. Dies verschweigen sie ihm bis zum allerletzten Moment, weil sie nicht wissen, wie sie es ihm beibringen können, und aus lauter schlechtem Gewissen. Dem Vater fällt der Abschied überraschend leicht. "Im Grunde ist alles im Leben nur geliehen, Freund", sagt er seinem Sohn auf den Kopf zu: "Selbst die Dinge, von denen du dir einbildest, sie gehören dir, sind nur geliehen. Du verlierst alles wieder. Autos. Häuser, Ehefrauen." Die Zeit und wie sie vergeht ist das Leitmotiv dieser Erzählung. Wie sie erst die Dinge verleiht, um sie dann erbarmungslos zurückzuholen.
So wird "Der vergessliche Riese" zur eindringlichen Studie, die an der Nahtstelle zwischen Erinnern und Vergessen operiert. Mit leisem, wehmütigem Humor wird vom Werden und Vergehen erzählt. Die Krankheit wird nicht als unbezwingbarer Schrecken dämonisiert. Das Buch handelt vielmehr vom leisen, langsamen Abschied eines Sohnes von seinem Vater und der plötzlichen Erkenntnis, jetzt selbst der Mann mit den großen Händen zu sein.
SANDRA KEGEL
David Wagner: "Der vergessliche Riese".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 270 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der bedürftige Riese: David Wagner schreibt in seinem Vaterbuch virtuos und tapfer gegen das große Vergessen an.
Er nennt ihn Freund. "Woher kommst du, Freund?", sagt er, "Was machst du hier, Freund?" oder "Du hast dich auch nie sehen lassen, Freund". So geht es ein ums andere Mal, in mitunter enervierender Endlosschleife. Die Anrede lässt zwar auf Vertrautheit schließen, auf große Nähe, und das trifft auf die Beziehung der beiden zweifellos zu, nur ist die Formel hier vor allem ein Mittel der Verhüllung, denn es gilt etwas zu verbergen: Der Angesprochene ist nämlich kein Freund, sondern der eigene Sohn. Und der Vater spricht ihn so an, weil er anders nicht kann. Er hat seinen Namen vergessen, den Namen, den er einst mit so viel Bedacht ausgewählt hat.
David Wagner erzählt in seinem Buch "Der vergessliche Riese" über die fortschreitende Demenz seines Vaters. Als er wieder einmal in der Seniorenresidenz am Rhein mit Drachenfelsblick eintrifft, findet er im Appartement des Vaters einen Zettel vor: "David (Sohn) kommt morgen, 24.12. Gegen Mittag". Erst ist es nur der Name, der dem Vergessen anheimfällt, irgendwann ist es der Mensch selbst, den der Kranke nicht mehr erkennt. Die Welt um ihn herum wird ihm zum Rätsel, sie entschwindet im diffusen Nebel, und was folgt, ist große Verunsicherung, denn auf nichts ist mehr Verlass, sondern jede Begegnung wird vielmehr zur Fremdheitserfahrung, jede noch so banale Alltagshandlung zum unergründlichen Ereignis.
So weit ist die Demenz von Wagners Vater noch nicht vorangeschritten, doch seine drei Kinder wissen, was ihnen bevorsteht und dass es sich nicht aufhalten lässt. Dass der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller David Wagner sich jetzt mit dieser familiären Erfahrung schriftlich auseinandergesetzt hat, ist kein Wunder. Denn es ist nicht nur eine existentielle Erfahrung für die Angehörigen, sondern in unserer alternden Gesellschaft auch eine paradigmatische Krankheit und vielfach beschrieben; ob als Roman in Jonathan Franzens "Korrekturen" oder als persönliche Auseinandersetzungen wie bei Tilman Jens oder Arno Geiger.
Auffällig an allen diesen Büchern ist, dass sie fast immer aus der Vater-Sohn-Perspektive entwickelt sind. Womöglich ist es für Söhne noch einmal von anderer Relevanz als für Töchter, wenn der Vater, die dominante Figur, sich zusehends zum hilflosen, kindlich-schwachen Mann zurückverwandelt. Wagners Vaterstudie macht dies an einer Szene besonders deutlich, die beschreibt, wie der Sohn die Hand des Vaters nimmt und feststellt, dass sie sich "wieder wie eine Kinderhand anfühlt, "dabei war sie mal die größte Hand der Welt".
Über den erzählten Zeitraum von etwa drei Jahren fährt Wagner regelmäßig nach Nordrhein-Westfalen. Davor hatten die beiden sich über zwei Jahrzehnte hinweg kaum gesehen, jeder war mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Mit seiner zweiten Frau Claire hatte der Vater eine Beratungsfirma, die das Paar um die halbe Welt führte, während sein Sohn sich in den Neunzigern in Berlin niederließ, Schriftsteller wurde, eine Tochter bekam. Erst nach Claires Tod findet er seine Rolle als Sohn im Gefüge der Herkunftsfamilie wieder, die er fast vergessen hatte.
Das Buch kommt ohne Genrebezeichnung aus, es ist also anzunehmen, dass es sich um keinen fiktiven Stoff handelt. Ein Sachbuch aber hat Wagner auch nicht verfasst, denn wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen fehlen. Wagner beschreibt vielmehr, was er sieht, wie er fühlt und woran er denkt, und vor allem lässt er sein Personal ausführlich zu Wort kommen. Mehr als die Hälfte des Textes ist in wörtlicher Rede verfasst, was dem Geschilderten große Unmittelbarkeit verleiht, sowohl in der Komik wie auch der Drastik. Triftig ist das Buch nicht zuletzt deshalb, weil David Wagner sich in der Kunst des Weglassens übt. Die mitunter kuriosen Situationen beutet er nicht für die nächste Demenz-Pointe aus, sondern schildert lakonisch, nahezu zurückhaltend. Aber auch das große Drama will er nicht beschwören. Der Autor, dessen Debüt "Meine nachtblaue Hose" bis heute gültig ist und der vor gravierenden Stoffen nicht zurückscheut, so auch in "Leben", dem Buch über seine lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung, für das er mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde, kreiert in seiner Prosa einen ganz eigenen Ton, die mit zum Besten gehört, was es hierzulande derzeit zu lesen gibt.
Das Gespräch zwischen Vater und Sohn, zu dem sich gelegentlich die Schwestern Hanna und Miriam gesellen, gerät stellenweise zu einer Erzählung aus der alten Bundesrepublik: Ihre Repräsentanten werden noch einmal aufgerufen, das einstige Bundeskanzleramt mit der ikonischen Henry-Moore-Skulptur, die jeden Abend in den Nachrichten zu sehen war, ebenso wie die RAF und immer wieder der ikonische Kühlturm des Atomkraftwerks von Mülheim-Kärlich, der unlängst abgerissen wurde, im Roman aber noch steht. Der Rhein als mythisches Gewässer wird zum Urgrund allen Seins dieser Familie jedenfalls. So tragen die Schwestern des Vaters die Namen der Flusstöchter Wellgunde, Floßhilde und Woglinde.
Sie bekamen diese Namen nicht nur wegen der Begeisterung der Familie für den Komponisten gleichen Namens, Richard Wagner. Die Großeltern des Erzählers waren außerdem überzeugte Nationalsozialisten, der Großvater musste ob seiner Hitler-Treue nach dem Krieg ins Gefängnis und verdingte sich später, als Vater von neun Kindern, als Handelsvertreter ausgerechnet von Kinderwagen. David Wagners Vater und dessen erste, früh verstorbene Frau gaben daraufhin ihren Kindern jüdische Namen, als Geste der Wiedergutmachung wollten sie dies verstanden wissen. Erst später erkannten sie den in Wahrheit übergriffigen Charakter dieser Geste, in der sich eben auch der Wunsch nach Rollentausch verbarg, "Opfer, nicht Täter" sein zu wollen.
Jedes Mal, wenn der Erzähler neuerlich zu Besuch ist, kommt es zu anderen Irritationen und Fehlleistungen. Mal zieht der Vater während der Autofahrt die Handbremse, mal irrt er im Bademantel auf die Straße. Polnische Betreuerinnen ziehen in seiner Villa ein und aus, und irgendwann beschließen die Kinder, ihn in die Altersresidenz mit Drachenfelsblick zu übersiedeln. Dies verschweigen sie ihm bis zum allerletzten Moment, weil sie nicht wissen, wie sie es ihm beibringen können, und aus lauter schlechtem Gewissen. Dem Vater fällt der Abschied überraschend leicht. "Im Grunde ist alles im Leben nur geliehen, Freund", sagt er seinem Sohn auf den Kopf zu: "Selbst die Dinge, von denen du dir einbildest, sie gehören dir, sind nur geliehen. Du verlierst alles wieder. Autos. Häuser, Ehefrauen." Die Zeit und wie sie vergeht ist das Leitmotiv dieser Erzählung. Wie sie erst die Dinge verleiht, um sie dann erbarmungslos zurückzuholen.
So wird "Der vergessliche Riese" zur eindringlichen Studie, die an der Nahtstelle zwischen Erinnern und Vergessen operiert. Mit leisem, wehmütigem Humor wird vom Werden und Vergehen erzählt. Die Krankheit wird nicht als unbezwingbarer Schrecken dämonisiert. Das Buch handelt vielmehr vom leisen, langsamen Abschied eines Sohnes von seinem Vater und der plötzlichen Erkenntnis, jetzt selbst der Mann mit den großen Händen zu sein.
SANDRA KEGEL
David Wagner: "Der vergessliche Riese".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 270 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus David Wagners Autofiktion spricht große Zärtlichkeit, sensible Komik und tiefe Weisheit. Bayerischer Buchpreis 20191108