Was für eine Betonhitze! Inmitten des flirrenden Berliner Sommers machendie Geschwister Tâm und Dennis einen beunruhigenden Fund. In einem Gebüsch am Rande ihrer verschlafenen Wohnsiedlung in Berlin-Lichtenberg entdecken sie einen einzelnen abgetrennten Finger. Im Laufe ihrer Nachforschungen kommt es zu einer verstörenden Begegnung mit einem geheimnisvollen Mädchen: Das "Mädchen vom Parkplatz" ist die zwei Jahre ältere Hoa Binh und sie ist auf der Flucht. Aber auf der Flucht vor wem? Ohne zu ahnen, auf was sie sich eingelassen hat, beschließt Tâm, ihr zu helfen.Die neue Graphic Novel von Max und Moritz-Preisträger Mikael Ross knüpft mit ihrer Schwarzweiß-Optik an beste Film Noir-Traditionen an und nutzt die Ästhetik japanischer Mangas. Ein hitziger Thriller, der zwischen Berliner Plattenbauten und Schrebergärten beginnt, aber weit darüber hinaus in die Welt weist.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mikael Ross ist für Rezensent Andreas Hartmann sowas wie ein "Wunderkind der deutschen Comicszene", das gilt auch für seinen neuen Comic, der einige Erzählstränge miteinander verbinde: Zunächst wäre da die beginnende Liebesgeschichte zwischen Tam und Alex, sie finden in ihrem Lichtenberger Kiez einen abgetrennten Finger, der auf Menschenhandel hindeutet, der Alltag einer vietdeutschen Familie wird auch noch beleuchtet. Ross nutzt dafür unter anderem Stilmittel des Mangas, viel Humor und baut auf seine Erfahrung als Aushilfslehrer an einer Lichtenberger Schule, wie Hartmann verrät. Ihm gefällt, wie sich hier ernste und spannende Themen treffen und wie genau Ross hinschaut, um einen sehr überzeugenden Comic zu gestalten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2024In der Hitze zweier Wochen
Unter all den Comics autobiographischen, zeitgeschichtlichen oder diversitätspolitischen Inhalts (bisweilen gar einer Kombination von zweien oder gleich allen dieser Kategorien), die derzeit das Gros dessen ausmachen, was an deutschen Graphic Novels erscheint, sticht ein gerade erschienener Band hervor, dessen Autor nicht von sich selbst erzählt, nicht über die Vergangenheit und nicht mit weltverbessernder Absicht. Dafür erzählt Mikael Ross vom gegenwärtigen, weiß Gott nicht erfreulichen Leben, vorgeführt an fiktiven Figuren, die der 1984 geborene Autor aber so glaubwürdig in der uns vertrauten Welt agieren lässt, dass sie wie Nachbarn erscheinen.
Dabei sind Personen, Zeit und Ort der Handlung des Comics "Der verkehrte Himmel" denkbar spezifisch und damit alles andere als allgemeingültig: Tâm, Dennis und Hoa Binh lernen sich im Zeitraum von zwei brütend heißen Hochsommerwochen der Vor-Corona-Zeit in der Trabantenstadtatmosphäre von Berlin-Lichtenberg kennen. Zwei ihrer Namen signalisieren bereits, was für alle drei Protagonisten gilt: Die familiären Wurzeln liegen in Vietnam. Dennis und Tâm sind Geschwister, sechzehnjähriger Sohn und zwölfjährige Tochter von ehedem in die DDR gelangten vietnamesischen Vertragsarbeitern. Die gerade dem Teenageralter entwachsene Hoa Binh dagegen hat sich vor zwei Jahren in die Hände einer Schleuserorganisation begeben, um von Deutschland aus ihre in der Heimat zurückbleibende Familie mit Geld zu unterstützen. Auf der Durchgangsstation Moskau kam sie in die Hände eines Deutschen, der sie ins deutsch-polnische Grenzgebiet verschleppte und dort zur Prostitution zwang. Entkommen konnte sie ihm nur, weil sie im abgeriegelten Van des Zuhälters Zugriff auf ein Hackebeil bekam. Es stammte von Dennis, aber die genauen Umstände tun hier nichts zur Sache.
Sie nähmen zu viel von dem vorweg, was den Hauptreiz von "Der verkehrte Himmel" ausmacht: sein ausgefeiltes Szenario, das noch die wildesten Wendungen plausibel macht - und damit ein fulminantes Krimigenrestück bietet. Das jedoch noch weit darüber hinausgeht, denn was Mikael Ross da unter Mitarbeit des notorisch brillanten Berliner Comic-Skriptdoktors Jean-Baptiste Coursaud geschrieben hat, ist in psychologischer, soziologischer und pathologischer Hinsicht ein Erzählkunststück. Psychologisch, weil das zentrale Figurentrio drei Alterskohorten einer einzigen Generation mit deren jeweiligen Träumen, Zweifeln und Empfindlichkeiten abdeckt: die noch vorpubertäre Tâm, der schon halbwüchsige Dennis und die erzwungenermaßen jung erwachsen gewordene Hoa Binh. Soziologisch, weil dieser Comic ein Bild von Lichtenberg und seiner Bevölkerung bietet, das dokumentarische Präzision vermittelt. Und pathologisch, weil im Laufe des Geschehens der geprellte Zuhälter eine immer zentralere Rolle einnimmt, die eine verwundete Seele erkennen lässt, ohne dass dadurch aber auch nur ein Hauch von Sympathie bei uns für ihn entstünde.
Geschrieben also ist der Comic meisterhaft, aber die grafische Umsetzung übertrifft sogar noch die Qualität des Szenarios. Ross hatte schon in seinem vor zehn Jahren erschienenen kommerziellen Comicdebüt, "Lauter Leben!" (damals noch nach fremder Textvorlage), ein atemraubend intensives Berlin-Stadtporträt gezeichnet. Seitdem siedelte er seine Geschichten im Wald ("Totem"), in einer psychiatrischen Betreuungseinrichtung auf dem Lande ("Der Umfall") und im Bonn des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an ("Goldjunge"). Und er wandelte auch jedes Mal seinen Stil: vom physisch übersteigerten Realismus eines Blutch über die kindlich-naiv anmutende Figurenzeichnung eines Manu Larcenet bis zur cartoonesken Welt eines Christophe Blain. Nun ist der erkennbar mit französischen Vorbildern ästhetisch sozialisierte Ross bei Baru angekommen.
Der hat "Autoroute du Soleil" gezeichnet, einen der bis heute beeindruckendsten europäischen Comics (F.A.Z. vom 8. Mai 2000), weil darin eine mit Krimi-Elementen durchsetzte klassische Coming-of-Age-Geschichte westlicher Provenienz in mangatypische Expressivität, Seitenarchitektur und Zeitrhythmus gekleidet wurde - Barus Comic war 1994 für den japanischen Markt entstanden. Dadurch entstand eine kongeniale Gefühlsintensität, weil vertraute erzählerische Muster konfrontiert wurden mit einem fremdartig wirkenden Zeichenstil. Dieser Zwiespalt vermittelte das für die Handlung zentrale Irritationserlebnis junger Menschen in einer sich ihnen mit einem Mal als verstörend präsentierenden Welt.
Ob Ross sich für "Der verkehrte Himmel" bewusst an Barus Vorbild orientiert hat oder nur instinktiv mit denselben Mitteln auf diese Lektüreerfahrung abzielt, ist gleichgültig. Dass es überhaupt noch einmal jemandem gelingen würde, auf solche Weise zu erzählen, ist bemerkenswert genug: mit einem Gegensatzpaar als Identifikationsfiguren (bei Baru sind das die Freunde Karim und Alexandre, bei Ross die Geschwister Tâm und Dennis), mit einem gewalttätig-dämonischen Verfolger und mit Nebenpersonal, das ebenso unvergesslich bleibt wie die Hauptakteure - genannt seien für "Der verkehrte Himmel" diesbezüglich nur der als Halbwaise aufgewachsene Alex aus Tâms Klasse, die mit denkbar rauem Charme um Dennis werbende Motorradfahrerin Marina und die bereits betagte Kleingärtnerin Jutta. Sie alle werden sich als unentbehrliche Lichtenberger Verbündete im Kampf um Hoa Binhs Freiheit erweisen.
In diesem Kampf geht es hoch her, und Ross zieht dafür zeichnerisch alle Register. Er nutzt die in Manga übliche Dynamik virtuos bei Verfolgungsjagden und Actionszenen, lässt Lautmalereien wie Donnerschläge in seine Panels einbrechen, und computergenerierte Raster und Speedlines vermitteln zeichnerischen Retrocharme, wie ihn auch Mangaka gerne nutzen. Im Vergleich mit den früheren Alben von Ross ist "Der verkehrte Himmel" denn auch kleinformatig, selbstredend broschiert wie ein Manga und schwarzweiß.
Allerdings lässt Ross in emotionalen Schlüsselmomenten Rosarot auf einzelne Seiten fluten, um Tâms Gefühlswelt deutlich zu machen, und für die Zweisprachigkeit, die das Zusammenspiel der Hauptfiguren ausmacht, hat er den simplen Kunstgriff ersonnen, auf Deutsch geführte Dialoge durch runde Sprechblasen, die vietnamesischen dagegen durch eckige deutlich zu machen. Auf solche Weisen mit einem Blick Erzählelemente erfassen zu lassen ist die eigentliche zeichnerische Herausforderung für Comics. "Der verkehrte Himmel" taugt als Musterbeispiel für ein derartiges visuelles Erzählen.
Erschienen ist der Band beim Berliner Avant-Verlag, Ross' publizistische Heimat von Beginn an. War "Der Umfall" vor sechs Jahren als erste eigene Geschichte des Zeichners eine Verheißung, so ist "Der verkehrte Himmel" nun Bestätigung dafür, dass da ein Könner und Kenner agiert, der die Möglichkeiten seines Metiers mit einer Geschicklichkeit ausschöpft, die ihresgleichen sucht. ANDREAS PLATTHAUS
Mikael Ross: "Der verkehrte Himmel".
Avant Verlag, Berlin 2024. 342 S., Abb., br., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Unter all den Comics autobiographischen, zeitgeschichtlichen oder diversitätspolitischen Inhalts (bisweilen gar einer Kombination von zweien oder gleich allen dieser Kategorien), die derzeit das Gros dessen ausmachen, was an deutschen Graphic Novels erscheint, sticht ein gerade erschienener Band hervor, dessen Autor nicht von sich selbst erzählt, nicht über die Vergangenheit und nicht mit weltverbessernder Absicht. Dafür erzählt Mikael Ross vom gegenwärtigen, weiß Gott nicht erfreulichen Leben, vorgeführt an fiktiven Figuren, die der 1984 geborene Autor aber so glaubwürdig in der uns vertrauten Welt agieren lässt, dass sie wie Nachbarn erscheinen.
Dabei sind Personen, Zeit und Ort der Handlung des Comics "Der verkehrte Himmel" denkbar spezifisch und damit alles andere als allgemeingültig: Tâm, Dennis und Hoa Binh lernen sich im Zeitraum von zwei brütend heißen Hochsommerwochen der Vor-Corona-Zeit in der Trabantenstadtatmosphäre von Berlin-Lichtenberg kennen. Zwei ihrer Namen signalisieren bereits, was für alle drei Protagonisten gilt: Die familiären Wurzeln liegen in Vietnam. Dennis und Tâm sind Geschwister, sechzehnjähriger Sohn und zwölfjährige Tochter von ehedem in die DDR gelangten vietnamesischen Vertragsarbeitern. Die gerade dem Teenageralter entwachsene Hoa Binh dagegen hat sich vor zwei Jahren in die Hände einer Schleuserorganisation begeben, um von Deutschland aus ihre in der Heimat zurückbleibende Familie mit Geld zu unterstützen. Auf der Durchgangsstation Moskau kam sie in die Hände eines Deutschen, der sie ins deutsch-polnische Grenzgebiet verschleppte und dort zur Prostitution zwang. Entkommen konnte sie ihm nur, weil sie im abgeriegelten Van des Zuhälters Zugriff auf ein Hackebeil bekam. Es stammte von Dennis, aber die genauen Umstände tun hier nichts zur Sache.
Sie nähmen zu viel von dem vorweg, was den Hauptreiz von "Der verkehrte Himmel" ausmacht: sein ausgefeiltes Szenario, das noch die wildesten Wendungen plausibel macht - und damit ein fulminantes Krimigenrestück bietet. Das jedoch noch weit darüber hinausgeht, denn was Mikael Ross da unter Mitarbeit des notorisch brillanten Berliner Comic-Skriptdoktors Jean-Baptiste Coursaud geschrieben hat, ist in psychologischer, soziologischer und pathologischer Hinsicht ein Erzählkunststück. Psychologisch, weil das zentrale Figurentrio drei Alterskohorten einer einzigen Generation mit deren jeweiligen Träumen, Zweifeln und Empfindlichkeiten abdeckt: die noch vorpubertäre Tâm, der schon halbwüchsige Dennis und die erzwungenermaßen jung erwachsen gewordene Hoa Binh. Soziologisch, weil dieser Comic ein Bild von Lichtenberg und seiner Bevölkerung bietet, das dokumentarische Präzision vermittelt. Und pathologisch, weil im Laufe des Geschehens der geprellte Zuhälter eine immer zentralere Rolle einnimmt, die eine verwundete Seele erkennen lässt, ohne dass dadurch aber auch nur ein Hauch von Sympathie bei uns für ihn entstünde.
Geschrieben also ist der Comic meisterhaft, aber die grafische Umsetzung übertrifft sogar noch die Qualität des Szenarios. Ross hatte schon in seinem vor zehn Jahren erschienenen kommerziellen Comicdebüt, "Lauter Leben!" (damals noch nach fremder Textvorlage), ein atemraubend intensives Berlin-Stadtporträt gezeichnet. Seitdem siedelte er seine Geschichten im Wald ("Totem"), in einer psychiatrischen Betreuungseinrichtung auf dem Lande ("Der Umfall") und im Bonn des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an ("Goldjunge"). Und er wandelte auch jedes Mal seinen Stil: vom physisch übersteigerten Realismus eines Blutch über die kindlich-naiv anmutende Figurenzeichnung eines Manu Larcenet bis zur cartoonesken Welt eines Christophe Blain. Nun ist der erkennbar mit französischen Vorbildern ästhetisch sozialisierte Ross bei Baru angekommen.
Der hat "Autoroute du Soleil" gezeichnet, einen der bis heute beeindruckendsten europäischen Comics (F.A.Z. vom 8. Mai 2000), weil darin eine mit Krimi-Elementen durchsetzte klassische Coming-of-Age-Geschichte westlicher Provenienz in mangatypische Expressivität, Seitenarchitektur und Zeitrhythmus gekleidet wurde - Barus Comic war 1994 für den japanischen Markt entstanden. Dadurch entstand eine kongeniale Gefühlsintensität, weil vertraute erzählerische Muster konfrontiert wurden mit einem fremdartig wirkenden Zeichenstil. Dieser Zwiespalt vermittelte das für die Handlung zentrale Irritationserlebnis junger Menschen in einer sich ihnen mit einem Mal als verstörend präsentierenden Welt.
Ob Ross sich für "Der verkehrte Himmel" bewusst an Barus Vorbild orientiert hat oder nur instinktiv mit denselben Mitteln auf diese Lektüreerfahrung abzielt, ist gleichgültig. Dass es überhaupt noch einmal jemandem gelingen würde, auf solche Weise zu erzählen, ist bemerkenswert genug: mit einem Gegensatzpaar als Identifikationsfiguren (bei Baru sind das die Freunde Karim und Alexandre, bei Ross die Geschwister Tâm und Dennis), mit einem gewalttätig-dämonischen Verfolger und mit Nebenpersonal, das ebenso unvergesslich bleibt wie die Hauptakteure - genannt seien für "Der verkehrte Himmel" diesbezüglich nur der als Halbwaise aufgewachsene Alex aus Tâms Klasse, die mit denkbar rauem Charme um Dennis werbende Motorradfahrerin Marina und die bereits betagte Kleingärtnerin Jutta. Sie alle werden sich als unentbehrliche Lichtenberger Verbündete im Kampf um Hoa Binhs Freiheit erweisen.
In diesem Kampf geht es hoch her, und Ross zieht dafür zeichnerisch alle Register. Er nutzt die in Manga übliche Dynamik virtuos bei Verfolgungsjagden und Actionszenen, lässt Lautmalereien wie Donnerschläge in seine Panels einbrechen, und computergenerierte Raster und Speedlines vermitteln zeichnerischen Retrocharme, wie ihn auch Mangaka gerne nutzen. Im Vergleich mit den früheren Alben von Ross ist "Der verkehrte Himmel" denn auch kleinformatig, selbstredend broschiert wie ein Manga und schwarzweiß.
Allerdings lässt Ross in emotionalen Schlüsselmomenten Rosarot auf einzelne Seiten fluten, um Tâms Gefühlswelt deutlich zu machen, und für die Zweisprachigkeit, die das Zusammenspiel der Hauptfiguren ausmacht, hat er den simplen Kunstgriff ersonnen, auf Deutsch geführte Dialoge durch runde Sprechblasen, die vietnamesischen dagegen durch eckige deutlich zu machen. Auf solche Weisen mit einem Blick Erzählelemente erfassen zu lassen ist die eigentliche zeichnerische Herausforderung für Comics. "Der verkehrte Himmel" taugt als Musterbeispiel für ein derartiges visuelles Erzählen.
Erschienen ist der Band beim Berliner Avant-Verlag, Ross' publizistische Heimat von Beginn an. War "Der Umfall" vor sechs Jahren als erste eigene Geschichte des Zeichners eine Verheißung, so ist "Der verkehrte Himmel" nun Bestätigung dafür, dass da ein Könner und Kenner agiert, der die Möglichkeiten seines Metiers mit einer Geschicklichkeit ausschöpft, die ihresgleichen sucht. ANDREAS PLATTHAUS
Mikael Ross: "Der verkehrte Himmel".
Avant Verlag, Berlin 2024. 342 S., Abb., br., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.