Im Verlorenen Knaben beschwört Wolfe seinen jungverstorbenen Bruder Grover. In vier Teilen wird Grovers Geschichte je aus der Sicht eines Familienmitglieds vergegenwärtigt: Hellsicht und Erregung der Kindheit - und deren Verlust. Dies ist die deutsche Erstausgabe der 1937 entstandenen, aber erst 1992 vollständig veröffentlichten Erzählung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.1998Vom Sieg in Kinderaugen
Erstmals deutsch: Thomas Wolfes Erzählung "Der verlorene Knabe"
Vor wenigen Jahren ist einer der letzten Texte des durch "Sieh heimwärts, Engel" bekannt gewordenen amerikanischen Romanciers Thomas Wolfe (1900 bis 1938) zum erstenmal unzensiert erschienen. Es handelt sich um eine Erzählung, die Wolfe ein Jahr vor dem eigenen Tod seinem im Alter von zwölf Jahren verstorbenen Bruder Grover widmete. Gestrichen worden war vor allem eine als rassistisch empfundene Passage, die nicht zu diesem in der Tradition Faulkners stehenden Klassiker passen wollte. "Der verlorene Knabe" besteht aus vier Erinnerungsversuchen, die von einem allwissenden Erzähler, Grovers Schwester, Mutter und schließlich dem aus der Allwissenheit in die Position des jüngeren Bruders zurückschlüpfenden Autor unternommen werden.
Der allwissende Erzähler schneidet in diesem Wettkampf am besten ab. Frei vom Schmerz des Verlusts, wird er zum Schatten des Kindes, erlebt mit ihm die Muße eines südlichen Nachmittags, teilt seine Lust an den Kleinstadtauslagen und der Betriebsamkeit im Inneren der Läden. Details wie ein Kalenderblatt oder eine blitzende Nadel im Singer-Nähmaschinengeschäft setzen eine epische Phantasie in Gang, die sich in zeitliche und räumliche Fernen dehnt.
Aufgeregter und zugleich weniger mitteilsam ist der Bericht der Mutter. Ihr Rückblick handelt von einer Familienreise zur Weltausstellung in St. Louis. Hier taucht auch der zensierte Passus auf, denn die Bahnfahrt geht durch Indiana, wo in den Zügen 1904 die Rassentrennung aufgehoben ist. Das Wunderkind Grover zeichnet sich hier durch die Autorität aus, mit der es einen farbigen Familienangestellten in sein Abteil zurückverweist. Der Vorfall ist eher dazu gemacht, die kulturellen Grenzen des Gerechtigkeitsgefühls zu zeigen, das Grover ansonsten an den Tag legt. Der im Nachwort wiederholte Rassismusvorwurf ignoriert die kompositorische Brechung.
Auch die übrigen Teile handeln von der Weltausstellung, die zum Sinnbild für den inneren Reichtum des Knaben wird. Der Erzähler fährt noch einmal nach St. Louis, um dort nichts als die Erinnerung an einen Mangel aufzuspüren. Es ist diese Empfindung, die ihn daran hindert, die verloschene Präsenz des Bruders nach dem Muster der Mutter zu idealisieren. Grovers Nähe rekonstituiert sich nicht als die Fülle eines in sich abgeschlossenen anderen, sondern über ein Ungenügen, das der Erzähler als intensivsten Zustand seiner Kindheit heraufruft. Erst hier hat er in sich den Übergang zum lebendigen Grover gefunden.
Die literarische Erfindung ist als Antwort auf den Mangel eng mit dem kindlichen Gefühl der Privation verbunden. Deshalb übernimmt der Autor, der seiner Phantasie die Zügel überläßt, im Buch die Führung. Grovers Stadtspaziergang pflastert er mit Vergänglichkeitssymbolen und Paradiesessplittern. Der Höhepunkt dieser virtuosen Orchestrierung eines melancholischen Stoffs ist Grovers Besuch in einer Schokoladenhandlung, der für ihn zum Jüngsten Gericht wird. Beschämung und Beistand durch den herbeigeholten Vater folgen wie Sündenfall und Erlösung, doch mit hastigen Knabenschritten, aufeinander. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Jetzt stiehlt er sich nur noch nah am süßen Kern des Lebens vorbei.
Alle vier Erzählungen des Buches üben sich an Grovers Seligsprechung. Doch jeder der älter gewordenen Sprecher wird von der Eigenmacht der Sprache überwältigt. Sie holt ihn dahin zurück, wo es noch keine Trauer gab, an einen Punkt, von dem aus er sich selbst mit siegreich funkelnden Kinderaugen nachsieht. INGEBORG HARMS
Thomas Wolfe: "Der verlorene Knabe". Erzählung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erich Wolfgang Skwara. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 120 S., geb., 19,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstmals deutsch: Thomas Wolfes Erzählung "Der verlorene Knabe"
Vor wenigen Jahren ist einer der letzten Texte des durch "Sieh heimwärts, Engel" bekannt gewordenen amerikanischen Romanciers Thomas Wolfe (1900 bis 1938) zum erstenmal unzensiert erschienen. Es handelt sich um eine Erzählung, die Wolfe ein Jahr vor dem eigenen Tod seinem im Alter von zwölf Jahren verstorbenen Bruder Grover widmete. Gestrichen worden war vor allem eine als rassistisch empfundene Passage, die nicht zu diesem in der Tradition Faulkners stehenden Klassiker passen wollte. "Der verlorene Knabe" besteht aus vier Erinnerungsversuchen, die von einem allwissenden Erzähler, Grovers Schwester, Mutter und schließlich dem aus der Allwissenheit in die Position des jüngeren Bruders zurückschlüpfenden Autor unternommen werden.
Der allwissende Erzähler schneidet in diesem Wettkampf am besten ab. Frei vom Schmerz des Verlusts, wird er zum Schatten des Kindes, erlebt mit ihm die Muße eines südlichen Nachmittags, teilt seine Lust an den Kleinstadtauslagen und der Betriebsamkeit im Inneren der Läden. Details wie ein Kalenderblatt oder eine blitzende Nadel im Singer-Nähmaschinengeschäft setzen eine epische Phantasie in Gang, die sich in zeitliche und räumliche Fernen dehnt.
Aufgeregter und zugleich weniger mitteilsam ist der Bericht der Mutter. Ihr Rückblick handelt von einer Familienreise zur Weltausstellung in St. Louis. Hier taucht auch der zensierte Passus auf, denn die Bahnfahrt geht durch Indiana, wo in den Zügen 1904 die Rassentrennung aufgehoben ist. Das Wunderkind Grover zeichnet sich hier durch die Autorität aus, mit der es einen farbigen Familienangestellten in sein Abteil zurückverweist. Der Vorfall ist eher dazu gemacht, die kulturellen Grenzen des Gerechtigkeitsgefühls zu zeigen, das Grover ansonsten an den Tag legt. Der im Nachwort wiederholte Rassismusvorwurf ignoriert die kompositorische Brechung.
Auch die übrigen Teile handeln von der Weltausstellung, die zum Sinnbild für den inneren Reichtum des Knaben wird. Der Erzähler fährt noch einmal nach St. Louis, um dort nichts als die Erinnerung an einen Mangel aufzuspüren. Es ist diese Empfindung, die ihn daran hindert, die verloschene Präsenz des Bruders nach dem Muster der Mutter zu idealisieren. Grovers Nähe rekonstituiert sich nicht als die Fülle eines in sich abgeschlossenen anderen, sondern über ein Ungenügen, das der Erzähler als intensivsten Zustand seiner Kindheit heraufruft. Erst hier hat er in sich den Übergang zum lebendigen Grover gefunden.
Die literarische Erfindung ist als Antwort auf den Mangel eng mit dem kindlichen Gefühl der Privation verbunden. Deshalb übernimmt der Autor, der seiner Phantasie die Zügel überläßt, im Buch die Führung. Grovers Stadtspaziergang pflastert er mit Vergänglichkeitssymbolen und Paradiesessplittern. Der Höhepunkt dieser virtuosen Orchestrierung eines melancholischen Stoffs ist Grovers Besuch in einer Schokoladenhandlung, der für ihn zum Jüngsten Gericht wird. Beschämung und Beistand durch den herbeigeholten Vater folgen wie Sündenfall und Erlösung, doch mit hastigen Knabenschritten, aufeinander. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Jetzt stiehlt er sich nur noch nah am süßen Kern des Lebens vorbei.
Alle vier Erzählungen des Buches üben sich an Grovers Seligsprechung. Doch jeder der älter gewordenen Sprecher wird von der Eigenmacht der Sprache überwältigt. Sie holt ihn dahin zurück, wo es noch keine Trauer gab, an einen Punkt, von dem aus er sich selbst mit siegreich funkelnden Kinderaugen nachsieht. INGEBORG HARMS
Thomas Wolfe: "Der verlorene Knabe". Erzählung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erich Wolfgang Skwara. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 120 S., geb., 19,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main