Mit einer herbstlichen Zugfahrt beginnt Derek Walcott sein großes Spätwerk. Der Augenblick der Leere, des Wartens, löst eine innere Reise aus, die durch weite geografische und geistige Landschaften führt: von Greenwich Village bis zu den Alpen, von Italien bis nach Deutschland. Doch hinter allem steht das Bild von Walcotts Heimatort St. Lucia und der lebendigen See. Derek Walcott hat ein großes Epos geschaffen, das ausgespannt ist zwischen einem erschöpften Europa und der neuen Welt, zu der der Wanderer zurückkehren muss, um seine eigene poetische Existenz wiederzufinden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.05.2007Der Silberreiher
Derek Walcotts großes Reisegedicht „Der verlorene Sohn”
Züge! Was uns, den Bewohnern eines von Schienensträngen eng durchwobenen Kontinents, als eine Selbstverständlichkeit erscheint, darüber kann jemand, der von einer entlegenen Insel stammt, sich auch nach Jahrzehnten vor Seligkeit noch nicht beruhigen. Derek Walcott, Nobelpreisträger des Jahres 1992 und aus dem karibischen Inselstaat St. Lucia gebürtig, Mulatte mit afrikanisch dunkler Haut und europäisch grauen Augen und durch diese Abstammung zwei Welten angehörig (nein, dreien: denn im tropischen Amerika ergab sich aus ihnen noch einmal etwas Neues), beginnt sein Buch „The Prodigal – Der verlorene Sohn” mit der Herrlichkeit einer Eisenbahnfahrt durch die östlichen USA.
„Noch immer war es unvertraut, das Gleichmaß der Züge. / Und die anderen, abgesondert, gedankenverloren, wie sie gelassen / dahinglitten auf pfeilgraden Gleisen, jedes Gesicht gebannt / vom Rätsel der Ferne, während die Bahnhöfe vorüber- / ziehen und niemand winkt, und die traurigen Städte, / verkündet vom Prolog verkommener Hallen / und zahnloser Tunnel und dem rostigen Laub / an einem alten Aquädukt, aufragten und dann / in ihrem Namen verschwanden.”
Die Eisenbahn in den USA schließt, weit mehr noch als hierzulande, die Erinnerung an ein vergangenes Industriezeitalter in sich, und wer mit ihr reist, bekommt die verrosteten Rückseiten von Städten im Verfall zu sehen. Dass sie traurig sind, wirkt sich indessen auf die große, ruhige Heiterkeit des Gedichts nicht aus, sondern wird sein Ingrediens. Von der Eisenbahn scheint es seinen Rhythmus zu nehmen, einen Rhythmus des langen, aber lebhaften Atems, mit einem vielfach variierten jambischen Grundmuster, das rund hundert Seiten Verse trägt und die Erfahrung eines mehr als siebzigjährigen Lebens in sich fasst. Es ist eine ungewöhnliche literarische Form, die, so entspannt sie sich gibt, dem Leser Erhebliches abverlangt.
Schuld und Schokolade
Vor allem muss er seinen Leserhythmus finden, nicht zu langsam und nicht zu schnell, der zu diesen weder eigentlich freien noch eigentlich gebundenen Versen passt – am besten, indem er laut oder halblaut liest: Das bremst das allzu geschwinde Dahinschießen über die Seiten, das wir uns leider an den dicken Romanen angewöhnt haben. Lässig, nobel, nicht ohne Melancholie und doch dankbar für die ungeheure Weite der erlebten Welt, spricht Walcott erst vom Reisen, von New York, dem winterlichen Zermatt, Italien, Spanien, Kolumbien, und dann von der Rückkehr auf die Insel seiner Kindheit. Weit muss man zurückgehen, um das große Vorbild, in Form und Stoff, zu finden, dem Walcott sich verpflichtet weiß, viel tiefer als dem titelgebenden biblischen Gleichnis: In diesem umherirrenden und heimkehrenden Ich, das sich des erzählenden Verses bedient, verschmelzen Homer und Odysseus.
Ein wichtiger Unterschied hat dennoch statt: Odysseus, am Anfang der geschichtlichen Zeit, befuhr allein den Raum, der sich allerdings durch die Mühsal, ihn zu durchmessen, sozusagen einfaltete und vertiefte; Walcott bereist mittels des heute mühelos aufhebbaren Raums die Zeiten, sie sind sein wahres Ziel. „We read, we travel, be become”, das nennt die Dreifaltigkeit seiner Erfahrung beim Namen: Wir lesen, wir reisen, wir werden. (Odysseus hatte noch nichts, was er lesen konnte.) Nach Deutschland fährt Walcott um einer einzigen ihn ergreifenden Wendung willen: „Unter den Linden”, was auch im englischen Text auf Deutsch erscheint. Er übersetzt es sich als „without History”, History mit einem Großbuchstaben. Aber natürlich entgeht er dem Widerspruch nicht, dass er der Spur eines Zitats folgt, und was sind Zitate anderes als Geschichte? Aus Deutschland stammt seine Lebensgefährtin. Und so sieht es aus: „Nur die Schneise des Sommers, grüne Hügel und rote Dächer, / hinter brandigen Kiefern das Dorf ihrer Jugend, / Schokolade und Zöpfe, und doch ist da Schuld / in all diesem Grün.” Ja, es ist wohl wahr, nur zwei deutsche Namen hat die Welt sich merken wollen: Hitler und die Brüder Grimm. Und die Schönheit der Mädchen, die in Mailand seine Seminare besuchen, erschließt sich Walcott, indem er ihre Urbilder in Gemälden von Botticelli und Raffael entdeckt; die Jeans, die Paola, Sandra und Roberta anhaben, sind ihm kaum mehr als Verkleidung.
„Doch einiges blieb unversöhnlich, / so etwa, friedlos, die Lust, die mit dem Alter kam – / ein schmutziger alter Mann, der nach den jungen Dingern schielt / im Namen des gemeinsamen, vielmehr gemeinen Handwerks, / ein alter Silberreiher, der auf Priaps-Schwingen / aus dem besonntem Schilf zum stillen Teich hin fliegt, / Zentrum der Ringe, die langsam darauf wachsen. / In ihrer Iris findet man mich nie.”
Dem Eingeständnis, dem absoluten Präsens nicht entrinnen zu können (denn nichts ist präsenter als Begierde, namentlich wenn man sich ihrer zu schämen hat), wird vollkommene Verwandlung zuteil; der schmutzige alte Mann ernennt sich selbst per Metapher zum Silberreiher, dem weißesten aller Vögel, die erlittene Unruhe setzt sich fort als mathematische Perfektion der wachsenden Ringe auf der Wasseroberfläche, und der Schluss fasst alles zusammen in der Dreideutigkeit des Wortes „Iris”: anwesend darin sind die antike Göttin des Regenbogens, die edle Wasserblume und – zuletzt erst, aber hauptsächlich – der Strahlenkranz um die menschliche Pupille. Ja, so nah, dass er sich darin reflektiert findet, wird er den Augen der Mädchen wohl nie mehr kommen, darin verkündet sich dem Ich seine Sterblichkeit; aber dafür ist das Ausbleiben solcher Spiegelung ganz ins schöne Bild transponiert. Der Leidensdruck, der dessen Komplexität erst erzeugt und dann gewichtlos macht, war, stellt man sich vor, nicht unerheblich.
Das Handwerk, das der alte Silberreiher mit seinen Studentinnen treibt, heißt ihm „craft”; „craft” bezeichnet im Englischen auch ein Fahrzeug, besonders ein Schiff, ein Doppelsinn, der Walcott beflügelt. St. Lucia, wie Ithaka, ist eine ziemlich kleine Insel, und in die Figur der Heimkehr schreibt sich darum die Wehmut der Verkleinerung ein. „Dieser verdreckte Hinterhof, dies unerfüllte Land, / dies kleine Feld aus Blättern, welk und mürbe, / dies ist, von all den Städten dieser Welt, dein Zentrum. / Ach, hell zu leuchten und genau zu sein!”
„Unfulfilled lot”, das heißt nicht nur das unerfüllte Land, sondern auch das unbefriedigte Schicksal; und „of all the cities” hat im Englischen den Klang von: ausgerechnet! Zwei Möglichkeiten des Unglücks gibt es für den Menschen: Sein Schicksal sperrt ihn in die Enge der Provinz, oder er hat gar kein Schicksal und treibt überall ruhelos umher. Daraus will Walcott um jeden Preis ein doppeltes Glück beider Welten destillieren, und als Mittel hierzu dient ihm die englische Sprache; nur als Wunsch, nicht als Resultat wagt er ihre Leistung zu benennen: „O to be luminous and exact!” Aber gerade wenn dieses Programm gelingt, arbeitet der Dichter dem Ende zu. „Langsam härtet sie aus, die Totenmaske des Ruhms” – Fame, wie History, mit einem Großbuchstaben, der Initiale von Abneigung, Achtung und Angst.
Zweisprachige Ausgaben ermutigen ja stets dazu, dem Übersetzer Unrecht zu tun. Ja es kann scheinen, als bestehe die Rechtfertigung solcher Ausgaben hauptsächlich darin, dem Leser das Vergnügen der Krittelei zu gewähren. (Denn wenn er genug Englisch kann, braucht er dann das Deutsche? Und wenn er nur Deutsch kann, was hilft ihm das englische Original?) So wird er auch an der Arbeit von Daniel Göske nicht wenig auszusetzen haben. Bei der eingangs zitierten Passage etwa wird er mit den „verkommenen Hallen” für „ramshackle yards” nicht gänzlich zufrieden sein, denn bei diesen handelt es sich eher um vollgerümpelte Hinterhöfe. Walcotts Libellen zeichnen sich durch „comical belligerence” aus, ein komisches kriegerisches Gehabe; das bezieht sich zweifellos auf die Art des Flugs, die ein wenig an alte Aeroplane erinnert; Göske macht daraus „alberne Streitlust”: Da verwandeln sie sich in rechte Rüpel, die einander die Faust unter die Nase halten. Und das „embankment” an den Flussufern großer Städte meint keinen „Uferdamm”, sondern den zur Promenade gestalteten Kai; der Zweck besteht in der Öffnung der Stadt zum Fluss hin, nicht, wie es der Damm suggeriert, im schützenden Hindernis.
Halt! Die Lust an solchen Funden sollte nicht die wichtigere Tatsache verdunkeln, dass Göske sich mit erheblichem Erfolg um eine angemessene rhythmische Entsprechung im Deutschen bemüht hat; die Leichtigkeit des Englischen lässt sich nun einmal nicht genau nachbilden, und also greift er zu einer ausgewogenen Gewichtsvermehrung, ablesbar an der Steigerung der Silbenzahl, die das Muster vom Jambischen in Richtung des Daktylischen verschiebt. Diesem Vorsatz hat Göske möglicherweise zu viele inhaltliche Opfer gebracht.BURKHARD MÜLLER
DEREK WALCOTT: The Prodigal - Der verlorene Sohn. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2007, 214 Seiten, 17,90 Euro.
Der Reisende der Inseln: Derek Walcott Foto: Sophie Bassouls / Corbis
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Derek Walcotts großes Reisegedicht „Der verlorene Sohn”
Züge! Was uns, den Bewohnern eines von Schienensträngen eng durchwobenen Kontinents, als eine Selbstverständlichkeit erscheint, darüber kann jemand, der von einer entlegenen Insel stammt, sich auch nach Jahrzehnten vor Seligkeit noch nicht beruhigen. Derek Walcott, Nobelpreisträger des Jahres 1992 und aus dem karibischen Inselstaat St. Lucia gebürtig, Mulatte mit afrikanisch dunkler Haut und europäisch grauen Augen und durch diese Abstammung zwei Welten angehörig (nein, dreien: denn im tropischen Amerika ergab sich aus ihnen noch einmal etwas Neues), beginnt sein Buch „The Prodigal – Der verlorene Sohn” mit der Herrlichkeit einer Eisenbahnfahrt durch die östlichen USA.
„Noch immer war es unvertraut, das Gleichmaß der Züge. / Und die anderen, abgesondert, gedankenverloren, wie sie gelassen / dahinglitten auf pfeilgraden Gleisen, jedes Gesicht gebannt / vom Rätsel der Ferne, während die Bahnhöfe vorüber- / ziehen und niemand winkt, und die traurigen Städte, / verkündet vom Prolog verkommener Hallen / und zahnloser Tunnel und dem rostigen Laub / an einem alten Aquädukt, aufragten und dann / in ihrem Namen verschwanden.”
Die Eisenbahn in den USA schließt, weit mehr noch als hierzulande, die Erinnerung an ein vergangenes Industriezeitalter in sich, und wer mit ihr reist, bekommt die verrosteten Rückseiten von Städten im Verfall zu sehen. Dass sie traurig sind, wirkt sich indessen auf die große, ruhige Heiterkeit des Gedichts nicht aus, sondern wird sein Ingrediens. Von der Eisenbahn scheint es seinen Rhythmus zu nehmen, einen Rhythmus des langen, aber lebhaften Atems, mit einem vielfach variierten jambischen Grundmuster, das rund hundert Seiten Verse trägt und die Erfahrung eines mehr als siebzigjährigen Lebens in sich fasst. Es ist eine ungewöhnliche literarische Form, die, so entspannt sie sich gibt, dem Leser Erhebliches abverlangt.
Schuld und Schokolade
Vor allem muss er seinen Leserhythmus finden, nicht zu langsam und nicht zu schnell, der zu diesen weder eigentlich freien noch eigentlich gebundenen Versen passt – am besten, indem er laut oder halblaut liest: Das bremst das allzu geschwinde Dahinschießen über die Seiten, das wir uns leider an den dicken Romanen angewöhnt haben. Lässig, nobel, nicht ohne Melancholie und doch dankbar für die ungeheure Weite der erlebten Welt, spricht Walcott erst vom Reisen, von New York, dem winterlichen Zermatt, Italien, Spanien, Kolumbien, und dann von der Rückkehr auf die Insel seiner Kindheit. Weit muss man zurückgehen, um das große Vorbild, in Form und Stoff, zu finden, dem Walcott sich verpflichtet weiß, viel tiefer als dem titelgebenden biblischen Gleichnis: In diesem umherirrenden und heimkehrenden Ich, das sich des erzählenden Verses bedient, verschmelzen Homer und Odysseus.
Ein wichtiger Unterschied hat dennoch statt: Odysseus, am Anfang der geschichtlichen Zeit, befuhr allein den Raum, der sich allerdings durch die Mühsal, ihn zu durchmessen, sozusagen einfaltete und vertiefte; Walcott bereist mittels des heute mühelos aufhebbaren Raums die Zeiten, sie sind sein wahres Ziel. „We read, we travel, be become”, das nennt die Dreifaltigkeit seiner Erfahrung beim Namen: Wir lesen, wir reisen, wir werden. (Odysseus hatte noch nichts, was er lesen konnte.) Nach Deutschland fährt Walcott um einer einzigen ihn ergreifenden Wendung willen: „Unter den Linden”, was auch im englischen Text auf Deutsch erscheint. Er übersetzt es sich als „without History”, History mit einem Großbuchstaben. Aber natürlich entgeht er dem Widerspruch nicht, dass er der Spur eines Zitats folgt, und was sind Zitate anderes als Geschichte? Aus Deutschland stammt seine Lebensgefährtin. Und so sieht es aus: „Nur die Schneise des Sommers, grüne Hügel und rote Dächer, / hinter brandigen Kiefern das Dorf ihrer Jugend, / Schokolade und Zöpfe, und doch ist da Schuld / in all diesem Grün.” Ja, es ist wohl wahr, nur zwei deutsche Namen hat die Welt sich merken wollen: Hitler und die Brüder Grimm. Und die Schönheit der Mädchen, die in Mailand seine Seminare besuchen, erschließt sich Walcott, indem er ihre Urbilder in Gemälden von Botticelli und Raffael entdeckt; die Jeans, die Paola, Sandra und Roberta anhaben, sind ihm kaum mehr als Verkleidung.
„Doch einiges blieb unversöhnlich, / so etwa, friedlos, die Lust, die mit dem Alter kam – / ein schmutziger alter Mann, der nach den jungen Dingern schielt / im Namen des gemeinsamen, vielmehr gemeinen Handwerks, / ein alter Silberreiher, der auf Priaps-Schwingen / aus dem besonntem Schilf zum stillen Teich hin fliegt, / Zentrum der Ringe, die langsam darauf wachsen. / In ihrer Iris findet man mich nie.”
Dem Eingeständnis, dem absoluten Präsens nicht entrinnen zu können (denn nichts ist präsenter als Begierde, namentlich wenn man sich ihrer zu schämen hat), wird vollkommene Verwandlung zuteil; der schmutzige alte Mann ernennt sich selbst per Metapher zum Silberreiher, dem weißesten aller Vögel, die erlittene Unruhe setzt sich fort als mathematische Perfektion der wachsenden Ringe auf der Wasseroberfläche, und der Schluss fasst alles zusammen in der Dreideutigkeit des Wortes „Iris”: anwesend darin sind die antike Göttin des Regenbogens, die edle Wasserblume und – zuletzt erst, aber hauptsächlich – der Strahlenkranz um die menschliche Pupille. Ja, so nah, dass er sich darin reflektiert findet, wird er den Augen der Mädchen wohl nie mehr kommen, darin verkündet sich dem Ich seine Sterblichkeit; aber dafür ist das Ausbleiben solcher Spiegelung ganz ins schöne Bild transponiert. Der Leidensdruck, der dessen Komplexität erst erzeugt und dann gewichtlos macht, war, stellt man sich vor, nicht unerheblich.
Das Handwerk, das der alte Silberreiher mit seinen Studentinnen treibt, heißt ihm „craft”; „craft” bezeichnet im Englischen auch ein Fahrzeug, besonders ein Schiff, ein Doppelsinn, der Walcott beflügelt. St. Lucia, wie Ithaka, ist eine ziemlich kleine Insel, und in die Figur der Heimkehr schreibt sich darum die Wehmut der Verkleinerung ein. „Dieser verdreckte Hinterhof, dies unerfüllte Land, / dies kleine Feld aus Blättern, welk und mürbe, / dies ist, von all den Städten dieser Welt, dein Zentrum. / Ach, hell zu leuchten und genau zu sein!”
„Unfulfilled lot”, das heißt nicht nur das unerfüllte Land, sondern auch das unbefriedigte Schicksal; und „of all the cities” hat im Englischen den Klang von: ausgerechnet! Zwei Möglichkeiten des Unglücks gibt es für den Menschen: Sein Schicksal sperrt ihn in die Enge der Provinz, oder er hat gar kein Schicksal und treibt überall ruhelos umher. Daraus will Walcott um jeden Preis ein doppeltes Glück beider Welten destillieren, und als Mittel hierzu dient ihm die englische Sprache; nur als Wunsch, nicht als Resultat wagt er ihre Leistung zu benennen: „O to be luminous and exact!” Aber gerade wenn dieses Programm gelingt, arbeitet der Dichter dem Ende zu. „Langsam härtet sie aus, die Totenmaske des Ruhms” – Fame, wie History, mit einem Großbuchstaben, der Initiale von Abneigung, Achtung und Angst.
Zweisprachige Ausgaben ermutigen ja stets dazu, dem Übersetzer Unrecht zu tun. Ja es kann scheinen, als bestehe die Rechtfertigung solcher Ausgaben hauptsächlich darin, dem Leser das Vergnügen der Krittelei zu gewähren. (Denn wenn er genug Englisch kann, braucht er dann das Deutsche? Und wenn er nur Deutsch kann, was hilft ihm das englische Original?) So wird er auch an der Arbeit von Daniel Göske nicht wenig auszusetzen haben. Bei der eingangs zitierten Passage etwa wird er mit den „verkommenen Hallen” für „ramshackle yards” nicht gänzlich zufrieden sein, denn bei diesen handelt es sich eher um vollgerümpelte Hinterhöfe. Walcotts Libellen zeichnen sich durch „comical belligerence” aus, ein komisches kriegerisches Gehabe; das bezieht sich zweifellos auf die Art des Flugs, die ein wenig an alte Aeroplane erinnert; Göske macht daraus „alberne Streitlust”: Da verwandeln sie sich in rechte Rüpel, die einander die Faust unter die Nase halten. Und das „embankment” an den Flussufern großer Städte meint keinen „Uferdamm”, sondern den zur Promenade gestalteten Kai; der Zweck besteht in der Öffnung der Stadt zum Fluss hin, nicht, wie es der Damm suggeriert, im schützenden Hindernis.
Halt! Die Lust an solchen Funden sollte nicht die wichtigere Tatsache verdunkeln, dass Göske sich mit erheblichem Erfolg um eine angemessene rhythmische Entsprechung im Deutschen bemüht hat; die Leichtigkeit des Englischen lässt sich nun einmal nicht genau nachbilden, und also greift er zu einer ausgewogenen Gewichtsvermehrung, ablesbar an der Steigerung der Silbenzahl, die das Muster vom Jambischen in Richtung des Daktylischen verschiebt. Diesem Vorsatz hat Göske möglicherweise zu viele inhaltliche Opfer gebracht.BURKHARD MÜLLER
DEREK WALCOTT: The Prodigal - Der verlorene Sohn. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2007, 214 Seiten, 17,90 Euro.
Der Reisende der Inseln: Derek Walcott Foto: Sophie Bassouls / Corbis
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2007Das Leuchten der Delphine
Weltgedicht: Derek Walcotts Versepos "Der verlorene Sohn"
Im ersten Gesang erscheinen die Delphine, und sie sind aus Stein; gemeißelt und starr spielen sie auf den Sockeln von Denkmälern. Am Ende, Hunderte von Versen später, werden sie das Schiff begleiten, auf dem ein staunender Mann an der Reling steht, der sich noch immer nur an Bilder und Embleme erinnert - umspringen es lebendig, springlebendig. Was als Kunst begonnen hat, als eine schön versteinerte Erinnerung ans Leben, löst sich wieder ins Lebendige auf.
Das einfache Wunder steht wie eine Epiphanie am Ende eines Weges, der immer nur in neue Verlorenheiten zu führen schien. The Prodigal, der Verschwender: das ist in der englischen Bibel der verlorene Sohn aus dem Lukas-Evangelium; und es ist der Titel des großen Gedichts, dessen Schreiber am Ende zu sich selbst sagt: "Dies wird dein letztes Buch." Der Verlorene ist ein Dichter, der seine Heimat verloren hat und dessen Leben durch das Exil führt. So werden die Stationen seiner Wanderungen zu Kapiteln eines Reiseepos, angeordnet zu einem lyrisch-epischen Triptychon. Und je weiter seine Wege sich ineinander verschlingen, desto polyphoner überlagern sich die Bild- und Bedeutungsschichten, desto weiter verzweigt sich die Reiseroute durch die Zeiten. So verschlingen sich in ihren arabesken Figuren Autobiographie und Weltgeschichte, Poetik und Poesie, im Wechsel zwischen metrisch geregelten und freien, gereimten und reimlosen Versen und im dichten Gewebe der Leitmotive.
Der erste Teil führt von der Ostküste der Vereinigten Staaten nach Europa, der zweite nach Lateinamerika, ins von Bürgerkrieg zerklüftete Kolumbien und in Städte wie das mexikanische Guadalajara oder nach Cartagena, in dessen Name nicht nur die europäische Vorgängerstadt echot, sondern auch das versunkene Karthago. Der dritte und umfangreichste vereint dann alle Motive, erweitert sie und führt sie durch, im musikalischen Sinne des Wortes. Und er resümiert die große Bewegung, die das ganze Buch umgreift, vom treberfressenden Elend des verlorenen Sohnes bis hinab in den Hades, dessen imaginärer Eingang sich mitten in Genf auftut. Wie in dem epischen Gedicht "Omeros", für das Derek Walcott 1992 den Nobelpreis erhielt, so erscheint auch hier der Held als ein wandernder Odysseus (und manchmal auch als sein Homer), als ein neuer Ulysses (und sein Joyce), als zeitweise sesshafter Robinson Crusoe und als ein Ahasver, den es unablässig weitertreibt.
Wie selbstverständlich durchdringen sich dabei die Genres: essayistische Passagen, Hymnen, Geschichts- und Landschaftsgedichte, Fragmente von Erzählungen. Zusammen ergeben sie den Umriss einer großen Erzählung: eines Welt-Gedichts im strikten Sinne, das von den Stadien des menschlichen Lebens erzählt, von der Alten und der Neuen Welt, von Biographie und Geschichte. Und nichts an alldem wirkt angestrengt, gesucht oder eitel. Eine nüchterne und neugierige Weltoffenheit bestimmt dieses Buch: "Ach, hell zu leuchten und genau zu sein!"
Sind es anfangs die Reiserouten der europäischen Kolonialherren, an denen entlang Walcott zurückreist nach Europa (ein karibischer Kolumbus, der die Alte Welt neu entdeckt), so erweist sich die Reise bald auch als Entdeckungsfahrt in die biographischen Schichtungen eines alternden Ich, bis an jenen Ort, an dem ein fremder alter Mann zur Tür hereinkommt und die drei Worte sagt: "Ich bin du." Und jederzeit können hinter der eigenen Biographie die großen geschichtlichen Verheerungen sichtbar werden, in einem Tiefenblick, der sich so einfach einstellt, als würde der Boden gläsern und gäbe den Durchblick in die Abgründe der Jahrhunderte frei - den Zusammenbruch des Sowjetreichs, die Hakenkreuzprozessionen unter den Linden, die Westzüge der Conquistadoren.
Eine der vielen Stationen gerät zum Leitmotiv. Zunächst liest sich Walcotts Schilderung eines Sommeraufenthalts in Pescara nur wie eine detailrealistische Vedute aus den neunziger Jahren. Doch weil sich hier das Glück einer Liebesbeziehung (notabene zu einer Schauspielerin, die bei Filmaufnahmen Nora Joyce darstellt) vermischt mit dem Grauen des Balkan-Krieges, in dessen Schilderung wiederum die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen: Deshalb erscheint der Name "Pescara" fortan wie die Chiffre einer unauflöslichen Ambivalenz von Zartheit und Gewalt, Schrecken und Glück. Aber auch die Delphine haben schon zur Promenade von Pescara gehört, jenem "irdischen Paradies".
Gegen die geschichtlichen Schreckensbilder steht nicht nur diese Erinnerung, sondern vor allem und immer wieder die Inselheimat von St. Lucia. Auch in ihr gibt es Verlorenheit und Verzweiflung, auch sie ist durchzogen von den Spuren der Kämpfe. Und doch ist sie in den wärmsten Tönen gemalt, ohne Idyllisierung, aber aus einer traurigen, schönen Liebe heraus. In den gelungensten Augenblicken dieses Bandes entstehen so Gedichte, in denen das reine Glück spürbar wird, bestürzend gegenwärtig und ansteckend. Das Glück, am Leben zu sein, einen Körper zu haben, der sehen, tasten, schmecken, hören kann; das Glück einer vorübergehenden Stille und das dankbare Glück über die dichtende Aneignung alles sinnlich Erlebten: "Erst später gehören all diese Dinge uns."
Es ist das Glück der Poesie selbst. Diesseits aller kunstvollen Komposition lebt dieses Buch vor allem von der sinnlichen Präsenz seiner lyrischen Evokationen, die alle Klage und Angst, alle Momente des dankbaren Glücks und des Lobgesangs aufgehen lassen in leuchtkräftigen Bildern, denen man anmerkt, dass ihr Dichter sich lange mit der Malerei befasst hat. Was etwa das "amerikanische Licht" betrifft, das Walcott immer von neuem lyrisch liebkost, so können nur wenige Poeten mit weniger Aufwand größere Wirkung erzielen als er. Gerade wo er seine Mittel ganz zurücknimmt und nur einfache Dinge aufzählt, entfaltet sich ein ganzer Fächer aus Licht: "die rostbraunen Wiesen, das windweiße Gras, / auf der Straße das Gurren der steingrauen Tauben". Wenige Verse später folgt dann eine beinahe schon manieristische Metapher, in einer nun lapidaren Folgerichtigkeit: "die zweigbraune Eidechse huscht ihren Ast hinauf / wie Finger auf dem Griffbrett einer Gitarre". In solchen Momenten scheinen die Verse ganz eins zu sein mit der Welt, in die sie eintauchen und aus der sie hervorgehen - einer Welt, an die keine Geschichte zu rühren vermag und die man nur deshalb nicht mythisch nennen mag, weil sie so ganz alltäglich aussieht. Als sprächen, als schrieben tatsächlich für einen Augenblick die Dinge von sich aus, von selbst.
Man kann über die verdienstvolle Ausgabe dieses Gedichts nicht sprechen, ohne Daniel Göskes dichte, präzise und musikalisch geschmeidige Übersetzung zu rühmen. Der Ton klingt wie Walcotts Tonfall auf Deutsch: unaufdringlich wie dieser, gelassen und souverän. Klug dosierte Kommentare erläutern poetische Reminiszenzen, folgen biographischen und historischen Spuren und machen die poetologischen Denkbewegungen sichtbar, die alle konkreten Schilderungen begleiten wie die Delphine von Pescara.
Denn die tauchen immer wieder auf aus den Fluten dieser Verse, in Gestalt der Regenbögen zum Beispiel, die als vorübergehendes Hoffnungszeichen sichtbar werden über der zurückgehenden Flut: "es sind viele, ihre Rücken wölben sich / wie leuchtende Delphine". Schwerelos wechseln sie zwischen Wasser und Luft, wie die Seraphim. Die vergebliche Hoffnung, den toten Zwillingsbruder wiederzusehen, ist mit ihrem Anblick verbunden, vielleicht überhaupt jede Art von Hoffnung. Sie wird nirgends sicher erfüllt, so wie die flüchtigen Epiphanien sich bis zum Schluss nicht zum Erlösungsbild verdichten. Nur wie rätselhafte Boten einer Heimat, die sich wie der Horizont stets wieder entzieht, umschwimmen sie den Verlorenen auf seinem Schiff, im letzten der dreitausend Verse: "Engel und Delphine. Die letzten zuerst. / Und stets verlässlich auf dem hellen Rand / der Welt ringsum, der niemals näherkriecht, / obwohl, verlorener Sohn, der Bugspriet auf ihn wies, / am andern Ufer jener Streifen Licht."
HEINRICH DETERING
Derek Walcott: "Der verlorene Sohn". Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen übersetzt von Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2007. 216 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltgedicht: Derek Walcotts Versepos "Der verlorene Sohn"
Im ersten Gesang erscheinen die Delphine, und sie sind aus Stein; gemeißelt und starr spielen sie auf den Sockeln von Denkmälern. Am Ende, Hunderte von Versen später, werden sie das Schiff begleiten, auf dem ein staunender Mann an der Reling steht, der sich noch immer nur an Bilder und Embleme erinnert - umspringen es lebendig, springlebendig. Was als Kunst begonnen hat, als eine schön versteinerte Erinnerung ans Leben, löst sich wieder ins Lebendige auf.
Das einfache Wunder steht wie eine Epiphanie am Ende eines Weges, der immer nur in neue Verlorenheiten zu führen schien. The Prodigal, der Verschwender: das ist in der englischen Bibel der verlorene Sohn aus dem Lukas-Evangelium; und es ist der Titel des großen Gedichts, dessen Schreiber am Ende zu sich selbst sagt: "Dies wird dein letztes Buch." Der Verlorene ist ein Dichter, der seine Heimat verloren hat und dessen Leben durch das Exil führt. So werden die Stationen seiner Wanderungen zu Kapiteln eines Reiseepos, angeordnet zu einem lyrisch-epischen Triptychon. Und je weiter seine Wege sich ineinander verschlingen, desto polyphoner überlagern sich die Bild- und Bedeutungsschichten, desto weiter verzweigt sich die Reiseroute durch die Zeiten. So verschlingen sich in ihren arabesken Figuren Autobiographie und Weltgeschichte, Poetik und Poesie, im Wechsel zwischen metrisch geregelten und freien, gereimten und reimlosen Versen und im dichten Gewebe der Leitmotive.
Der erste Teil führt von der Ostküste der Vereinigten Staaten nach Europa, der zweite nach Lateinamerika, ins von Bürgerkrieg zerklüftete Kolumbien und in Städte wie das mexikanische Guadalajara oder nach Cartagena, in dessen Name nicht nur die europäische Vorgängerstadt echot, sondern auch das versunkene Karthago. Der dritte und umfangreichste vereint dann alle Motive, erweitert sie und führt sie durch, im musikalischen Sinne des Wortes. Und er resümiert die große Bewegung, die das ganze Buch umgreift, vom treberfressenden Elend des verlorenen Sohnes bis hinab in den Hades, dessen imaginärer Eingang sich mitten in Genf auftut. Wie in dem epischen Gedicht "Omeros", für das Derek Walcott 1992 den Nobelpreis erhielt, so erscheint auch hier der Held als ein wandernder Odysseus (und manchmal auch als sein Homer), als ein neuer Ulysses (und sein Joyce), als zeitweise sesshafter Robinson Crusoe und als ein Ahasver, den es unablässig weitertreibt.
Wie selbstverständlich durchdringen sich dabei die Genres: essayistische Passagen, Hymnen, Geschichts- und Landschaftsgedichte, Fragmente von Erzählungen. Zusammen ergeben sie den Umriss einer großen Erzählung: eines Welt-Gedichts im strikten Sinne, das von den Stadien des menschlichen Lebens erzählt, von der Alten und der Neuen Welt, von Biographie und Geschichte. Und nichts an alldem wirkt angestrengt, gesucht oder eitel. Eine nüchterne und neugierige Weltoffenheit bestimmt dieses Buch: "Ach, hell zu leuchten und genau zu sein!"
Sind es anfangs die Reiserouten der europäischen Kolonialherren, an denen entlang Walcott zurückreist nach Europa (ein karibischer Kolumbus, der die Alte Welt neu entdeckt), so erweist sich die Reise bald auch als Entdeckungsfahrt in die biographischen Schichtungen eines alternden Ich, bis an jenen Ort, an dem ein fremder alter Mann zur Tür hereinkommt und die drei Worte sagt: "Ich bin du." Und jederzeit können hinter der eigenen Biographie die großen geschichtlichen Verheerungen sichtbar werden, in einem Tiefenblick, der sich so einfach einstellt, als würde der Boden gläsern und gäbe den Durchblick in die Abgründe der Jahrhunderte frei - den Zusammenbruch des Sowjetreichs, die Hakenkreuzprozessionen unter den Linden, die Westzüge der Conquistadoren.
Eine der vielen Stationen gerät zum Leitmotiv. Zunächst liest sich Walcotts Schilderung eines Sommeraufenthalts in Pescara nur wie eine detailrealistische Vedute aus den neunziger Jahren. Doch weil sich hier das Glück einer Liebesbeziehung (notabene zu einer Schauspielerin, die bei Filmaufnahmen Nora Joyce darstellt) vermischt mit dem Grauen des Balkan-Krieges, in dessen Schilderung wiederum die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen: Deshalb erscheint der Name "Pescara" fortan wie die Chiffre einer unauflöslichen Ambivalenz von Zartheit und Gewalt, Schrecken und Glück. Aber auch die Delphine haben schon zur Promenade von Pescara gehört, jenem "irdischen Paradies".
Gegen die geschichtlichen Schreckensbilder steht nicht nur diese Erinnerung, sondern vor allem und immer wieder die Inselheimat von St. Lucia. Auch in ihr gibt es Verlorenheit und Verzweiflung, auch sie ist durchzogen von den Spuren der Kämpfe. Und doch ist sie in den wärmsten Tönen gemalt, ohne Idyllisierung, aber aus einer traurigen, schönen Liebe heraus. In den gelungensten Augenblicken dieses Bandes entstehen so Gedichte, in denen das reine Glück spürbar wird, bestürzend gegenwärtig und ansteckend. Das Glück, am Leben zu sein, einen Körper zu haben, der sehen, tasten, schmecken, hören kann; das Glück einer vorübergehenden Stille und das dankbare Glück über die dichtende Aneignung alles sinnlich Erlebten: "Erst später gehören all diese Dinge uns."
Es ist das Glück der Poesie selbst. Diesseits aller kunstvollen Komposition lebt dieses Buch vor allem von der sinnlichen Präsenz seiner lyrischen Evokationen, die alle Klage und Angst, alle Momente des dankbaren Glücks und des Lobgesangs aufgehen lassen in leuchtkräftigen Bildern, denen man anmerkt, dass ihr Dichter sich lange mit der Malerei befasst hat. Was etwa das "amerikanische Licht" betrifft, das Walcott immer von neuem lyrisch liebkost, so können nur wenige Poeten mit weniger Aufwand größere Wirkung erzielen als er. Gerade wo er seine Mittel ganz zurücknimmt und nur einfache Dinge aufzählt, entfaltet sich ein ganzer Fächer aus Licht: "die rostbraunen Wiesen, das windweiße Gras, / auf der Straße das Gurren der steingrauen Tauben". Wenige Verse später folgt dann eine beinahe schon manieristische Metapher, in einer nun lapidaren Folgerichtigkeit: "die zweigbraune Eidechse huscht ihren Ast hinauf / wie Finger auf dem Griffbrett einer Gitarre". In solchen Momenten scheinen die Verse ganz eins zu sein mit der Welt, in die sie eintauchen und aus der sie hervorgehen - einer Welt, an die keine Geschichte zu rühren vermag und die man nur deshalb nicht mythisch nennen mag, weil sie so ganz alltäglich aussieht. Als sprächen, als schrieben tatsächlich für einen Augenblick die Dinge von sich aus, von selbst.
Man kann über die verdienstvolle Ausgabe dieses Gedichts nicht sprechen, ohne Daniel Göskes dichte, präzise und musikalisch geschmeidige Übersetzung zu rühmen. Der Ton klingt wie Walcotts Tonfall auf Deutsch: unaufdringlich wie dieser, gelassen und souverän. Klug dosierte Kommentare erläutern poetische Reminiszenzen, folgen biographischen und historischen Spuren und machen die poetologischen Denkbewegungen sichtbar, die alle konkreten Schilderungen begleiten wie die Delphine von Pescara.
Denn die tauchen immer wieder auf aus den Fluten dieser Verse, in Gestalt der Regenbögen zum Beispiel, die als vorübergehendes Hoffnungszeichen sichtbar werden über der zurückgehenden Flut: "es sind viele, ihre Rücken wölben sich / wie leuchtende Delphine". Schwerelos wechseln sie zwischen Wasser und Luft, wie die Seraphim. Die vergebliche Hoffnung, den toten Zwillingsbruder wiederzusehen, ist mit ihrem Anblick verbunden, vielleicht überhaupt jede Art von Hoffnung. Sie wird nirgends sicher erfüllt, so wie die flüchtigen Epiphanien sich bis zum Schluss nicht zum Erlösungsbild verdichten. Nur wie rätselhafte Boten einer Heimat, die sich wie der Horizont stets wieder entzieht, umschwimmen sie den Verlorenen auf seinem Schiff, im letzten der dreitausend Verse: "Engel und Delphine. Die letzten zuerst. / Und stets verlässlich auf dem hellen Rand / der Welt ringsum, der niemals näherkriecht, / obwohl, verlorener Sohn, der Bugspriet auf ihn wies, / am andern Ufer jener Streifen Licht."
HEINRICH DETERING
Derek Walcott: "Der verlorene Sohn". Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen übersetzt von Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2007. 216 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Begeistert, beeindruckt, berührt ist Rezensent Heinrich Detering von diesem gewaltigem Versepos Derek Walcotts über die weite, lange Reise eines Dichters. Bewundernd äußert er sich über die ästhetische Souveränität des Autors, mühelos zwischen metrisch geregelten und freien, gereimten und reimlosen Versen zu wechseln. Auch schreibt er ihm zugute, intensive, sinnliche Bilder zu finden, Leitmotive kunstvoll zu verweben und verschiedene Genres wie essayistische Passagen, Hymnen, Fragmente, Geschichts- und Landschaftsgedichte zu verbinden. Er würdigt das Werk als eine "große Erzählung", als ein "Weltgedicht", das von den Stadien des menschlichen Lebens, der Alten und der Neuen Welt, von Biografie und Geschichte erzählt. Neben Passagen, die mit eindringlichen Bilder des geschichtlichen Schreckens, der Verlorenheit und Verzweiflung berühren, findet Detering in dem Band immer wieder Gedichte, in denen das "reine Glück" spürbar werde, "bestürzend gegenwärtig und ansteckend". Mit hohem Lob bedenkt er auch Daniel Göske, dessen "dichte, präzise und musikalisch geschmeidige" Übersetzung er nicht genug rühmen kann.
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"Derek Walcotts großes Reisegedicht 'Der verlorene Sohn'." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 09.05.07
"Lässig, nobel, nicht ohne Melancholie und doch dankbar für die ungeheure Weite der erlebten Welt, spricht Walcott erst vom Reisen, von New York, dem winterlichen Zermatt, Italien, Spanien, Kolumbien, und dann von der Rückkehr auf die Insel seiner Kindheit." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 09.05.07
"Walcotts Verse zeigen eine sinnliche Kraft, durch die das Vergangene in all seinen Feinheiten aufscheint." Nico Bleutge, Der Tagesspiegel, 20.06.07
"Wären diese zum Teil sehr privaten Gedichte auch von Interesse, wenn sie nicht ein berühmter Nobelpreisträger geschrieben hätte? Ja, sie wären es sicherlich. Denn was diese Texte zu großer Dichtung macht, ist ihre ungeheuer raffinierte Ästhetik." Jürgen Brocan, Neue Zürcher Zeitung, 19.06.07
"Lässig, nobel, nicht ohne Melancholie und doch dankbar für die ungeheure Weite der erlebten Welt, spricht Walcott erst vom Reisen, von New York, dem winterlichen Zermatt, Italien, Spanien, Kolumbien, und dann von der Rückkehr auf die Insel seiner Kindheit." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 09.05.07
"Walcotts Verse zeigen eine sinnliche Kraft, durch die das Vergangene in all seinen Feinheiten aufscheint." Nico Bleutge, Der Tagesspiegel, 20.06.07
"Wären diese zum Teil sehr privaten Gedichte auch von Interesse, wenn sie nicht ein berühmter Nobelpreisträger geschrieben hätte? Ja, sie wären es sicherlich. Denn was diese Texte zu großer Dichtung macht, ist ihre ungeheuer raffinierte Ästhetik." Jürgen Brocan, Neue Zürcher Zeitung, 19.06.07