Produktdetails
  • Verlag: Weltbild
  • ISBN-13: 9783828991903
  • Artikelnr.: 24757922
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Der Verdacht der Armen ist die Angst der Reichen
Vom Jaguar gerammt und viel dazugelernt: John Grisham schlichte Verteidigung der Obdachlosen / Von Stewart O'Nan

John Grishams neunter Roman, "Der Verrat", folgt dem Grundschema seiner anderen Bestseller. Ein abgestumpfter Anwalt, der sich über das amerikanische Rechtssystem keine Illusionen mehr macht, durchlebt eine Serie schlimmer, nicht immer glaubhafter Geschehnisse und findet durch die Verheißung, die jenen Institutionen eben doch innewohnt, zu seinem ursprünglichen Idealismus zurück.

Das Buch beginnt, wie viele Hollywood-Filme, mit einer genau kalkulierten Bravourszene. Im Aufzug, auf seinem Weg zur Arbeit in einer protzigen Washingtoner Anwaltskanzlei, begegnet Michael Brock, Grishams Ich-Erzähler, eines Morgens einem Obdachlosen in zerlumpten Kleidern, der ihm nachgeht. Wie jeder Bewohner der amerikanischen Hauptstadt ist Michael an Obdachlose gewöhnt. Sie sind lästig, eine tägliche Plage, aber die Reichen können es sich leisten, sie zu ignorieren. Fast gelangweilt bittet Michael den Sicherheitsdienst, sich um den Mann zu kümmern.

Doch bevor es dazu kommt, zückt der Mann eine Pistole und treibt Michael zusammen mit einigen anderen hochbezahlten Anwälten der Kanzlei in einen Raum. Mit wachem Juristenblick für die eigenen und anderer Leute Schwächen erzählt Michael, was nun geschieht. Der Obdachlose mit der Pistole, der einfach nur "Mister" genannt werden will, stellt den Anwälten einige peinliche Fragen: wieviel sie verdienen und wieviel sie für die Obdachlosen spenden. Das Ergebnis ist, wie auch Michael findet, niederschmetternd.

Polizei rückt an, Scharfschützen gehen auf umliegenden Dächern in Stellung, und kaum hat "Mister" die rätselhafte Frage gestellt, wer denn die Zwangsräumung angeordnet habe, da macht er eine falsche Bewegung, gerät für einen Moment in die Schußlinie eines Scharfschützen, und im nächsten Augenblick spritzt sein Gehirn auf Michaels teuren Anzug. Dieser Vorfall führt bei Michael zu einer inneren Wandlung, obwohl man auch schon in der vorausgegangenen Szene den Eindruck hat, daß er eher auf der Seite von "Mister" als auf der seiner dümmlich wirkenden Kollegen steht. Michaels Ehe geht in die Brüche. Er arbeitet zuviel in der Kanzlei, und seiner Frau Claire ist über der Arbeit in ihrer Klinik die Zeit für ihn schon längst abhanden gekommen. Das Geiseldrama nötigt ihn zu der Einsicht, daß sein Leben leer ist. Etwas muß sich ändern.

Über der Frage, was wohl "Mister" zu seiner Tat veranlaßt hat, wird Michael zum Detektiv und stellt Nachforschungen über diesen Mann an. Leider tischt uns Grisham an dieser Stelle das schwer erträgliche Klischee des obdachlosen Vietnam-Veteranen mit Drogen- und Alkoholproblemen auf - eine Figur von der Stange, aber sie leistet, was sie leisten soll. Als Michael das Umfeld des Mannes erkundet, stößt er auf ein kostenloses Rechtsberatungsbüro in einem Stadtviertel, wo er sich kaum traut, seinen Lexus zu parken. Seine weiße Hautfarbe und sein Reichtum fallen hier plötzlich so auf wie "Misters" schwarze Hautfarbe und seine Armut in der Kanzlei.

Michael lernt den Leiter der Beratungsstelle kennen, Mordecai Green - auch er eine Klischeefigur: halb Prediger, halb Gutmensch mit Durchblick. Green erläutert Einzelheiten über die Zwangsräumung. Irgendein "Slumlord" hat ein Lagerhaus in billige, kleine Zimmer aufgeteilt und seine Mieter, meist Obdachlose, von einem auf den anderen Tag wieder hinausgeworfen, als sich die Möglichkeit zu einem lukrativen (und schnellen) Immobiliengeschäft ergab. Michaels Kanzlei hat für diesen Mann und seine Geschäftspartner gearbeitet. Alle zusammen haben sie, sozusagen, einen Toten auf dem Gewissen.

Michael, dem seine Kanzlei nach den dramatischen Vorfällen einen Erholungsurlaub verordnet hat, will in der freien Zeit, die er nun reichlich hat, etwas Gutes tun, arbeitet deshalb freiwillig in der Rechtsberatungsstelle mit und lernt auf diese Weise einiges über das Leben und die Probleme von Obdachlosen.

Oft geschieht das in Dialogen - Michael stellt wißbegierig seine Fragen, und Mordecai liefert die Antworten. Grisham hat gründlich recherchiert, und manche seiner Ergebnisse - vor allem seine Anmerkungen über die "Community for Creative Non-Violence" (CCNV) von Mitch Snyder, einem Fürsprecher der Obdachlosen - sind faszinierend. Aber sosehr alles das zum Thema des Romans gehört - es bleibt doch unverarbeitete Recherche. Und ein beträchtlicher Teil davon ist allgemein bekannt; über das Obdachlosenproblem in Amerika wurde in den achtziger und frühen neunziger Jahren sehr viel geschrieben, gesprochen und gesungen. Nicht, daß dieses Problem heute verschwunden wäre, aber das ganze Drum und Dran ist ein alter Hut.

Bald erscheint Michael seine Arbeit mit den Obdachlosen als der wertvollste - vielleicht sogar der einzig wertvolle - Abschnitt seines Lebens. In ihm keimt der Verdacht auf, daß die Verwicklung seiner Kanzlei in die Zwangsräumung nicht nur unmoralisch, sondern auch ungesetzlich war. Daß die Armen bei Immobiliengeschäften immer wieder von den Reichen hereingelegt werden, ist im übrigen ein altes populistisches Motiv; in drittklassigen Western ist es die Bank, die der Eisenbahngesellschaft hilft, der tüchtigen Farmerswitwe die Ranch wegzunehmen; und in "Blues Brothers" ist es das Waisenhaus. Im wirklichen Leben ist so etwas natürlich völlig legal, aber das ergäbe für uns keine Geschichte. Michael also stößt auf eine Akte, von der er glaubt, sie enthalte das nötige Belastungsmaterial, und stiehlt sie - in klassischer Grisham-Manier.

Die Tat macht ihn zum Gesetzlosen. Die Sache wird zusätzlich noch dadurch kompliziert, daß er, während er mit der Akte fliehen will, in einen Autounfall gerät. Er wird vom Jaguar eines Drogendealers gerammt und landet im Krankenhaus, während sein geliebter Lexus mit der heißen Akte beschlagnahmt wird und auf einem Abschleppplatz der Polizei hinter Gitter kommt. Zu diesem Zeitpunkt hat Michael die Akte noch gar nicht gelesen. Aber er weiß, es wird ihn teuer zu stehen kommen, wenn seine Firma herausbekommt, daß sie bei ihm ist.

Warum Michael die Akte nicht fotokopiert, ist vielleicht das größte Rätsel des ganzen Buches. Schlimmstenfalls hätte ihm das ein paar nervöse Minuten im Büro eingetragen. Statt dessen walzt Grisham diese unnötige Komplikation über mehrere Kapitel aus - eine überflüssige Wendung in der Geschichte, die dem Roman ebenso abträglich ist wie unserer Wertschätzung für Michael.

Die fehlende Akte mit möglicherweise brisantem Inhalt ist ein angestaubter literarischer Kunstgriff, dem Grisham in den letzten Jahren neuen Glanz verliehen hat. Daß er ihn nun schon wieder ins Spiel bringt und sich dabei so ungeschickt anstellt, ist enttäuschend. Ein Profi sollte es besser wissen.

Aber die Geschichte nimmt ihren Lauf, und uns bleibt keine Zeit für literarische Haarspaltereien. Die Kanzlei hetzt die Polizei von Washington auf Michael und das Beratungsbüro, um ihn in Mißkredit zu bringen und die belastende Akte wiederzufinden. Wird Michael die Wahrheit ans Licht bringen? Bekommen die Obdachlosen ihr Recht? Wird der abtrünnige Anwalt dafür sorgen, daß seiner Firma die gerechte Strafe zuteil wird?

Die Antworten auf diese Fragen sind weniger wichtig als Grishams Bild von Michael. Er sieht in ihm einen Mann, der, nachdem er viel Zeit auf materielle Werte verschwendet hat, nun endlich auf etwas gestoßen ist, für das zu leben und zu kämpfen sich lohnt. Die spirituelle Suche nach einem Ich, das sich mit dem Besten der Humanität verbindet - wie schon in "Der Partner" und nun wieder in Grishams neuestem, soeben in Amerika erschienenem Buch "The Testament" -, ist das eigentliche Rückgrat des Buches. Seine Helden entdecken im Recht selbst die Möglichkeiten zu richtigem, moralischem Handeln und wenden dieses Recht gegen jene, die es haben verkommen lassen.

Der Hinweis auf die spirituelle Suche besagt nun allerdings nicht, daß dieser Roman besonders introspektiv wäre. Jenseits der Gedanken, die sich Michael über das Geschehen, das Recht als solches und die Obdachlosen macht, besitzt er wenig Innenleben. Seine Ehe mit Claire zerfällt in einige knappe Zusammenfassungen und ein paar kurze, ziemlich leere Szenen. Die meiste Zeit weilt Claire in diesem Buch "hinter der Bühne", wird nie zu einer tragenden Figur, bleibt Versatzstück. Der Drogenhändler, dessen Jaguar den Lexus von Michael rammt, kommt ums Leben, ohne daß Michael sich darüber irgendwelche Gedanken macht. Gegen Ende gibt es einen schwachen Versuch, eine Liebesgeschichte mit einer anderen Wohltäterin der Menschheit, Megan, anzubahnen, aber sie bleibt dünn - ein nachträglicher Einfall, der nicht ernst zu nehmen ist.

Auch mit dem Plot ist es nicht weit her. Der Handlungsverlauf, obwohl prallvoll mit Möglichkeiten, ist denkbar einfach - es fehlen die Wendungen und Umbrüche eines Krimis oder eines Thrillers wie "Der Partner". Es geht in "Der Verrat" nicht um die Frage, wer schuldig ist oder ob jemand schuldig ist, sondern darum, wie es sich beweisen läßt. Michaels Vermutungen erweisen sich in allen Punkten als zutreffend. Da bricht nichts hervor, da überrascht uns nichts - von dem Autounfall vielleicht abgesehen, doch der erweist sich als ein Kunstgriff.

Auch die Moral der Geschichte ist zu eindeutig, als daß sie dem Leser eine komplexe Reaktion abverlangen würde. Die große, reiche Kanzlei ist böse und habgierig, die Obdachlosen und ihre Fürsprecher sind gut, und es wird ihnen übel mitgespielt.

Man muß Grisham zugute halten, daß die Lektüre seines Buches so wenig Denken erfordert und so wenig Mühe kostet, daß die Seiten nur so vorüberfliegen. Seit dem Beginn seiner Karriere besaßen seine Bücher stets diese magische Qualität, die alle populären Romane anstreben - eine Kombination aus Tempo und zufriedenstellender Handlung, die Lektoren "Lesbarkeit" nennen. Hier begegnet sie uns wieder, und dabei hat Grisham hier eine wirklich schwierige Aufgabe bewältigt: Er hat ein unglaublich leichtes Buch über ein schweres Thema geschrieben. Daß wir dabei sogar etwas lernen können, ist ein großes Plus.

Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser

John Grisham: "Der Verrat". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gusteren. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 415 S., geb., 44,90 DM.

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