Wie erzählt man von einem Land, das sich seit 35 Jahren im Krieg befindet? Von Geiselnehmern in Bagdad, der institutionalisierten Paranoia unter Saddam, dem Soldaten mit den hellseherischen Fähigkeiten, den Hasen in der Grünen Zone, dem Lied der Ziegen, den 1001 Messern und dem Mehlsack voller Köpfe? Wie erzählt man von der Psyche des Krieges, von dem alltäglichen Horror, der immer mehr Menschen zur Flucht zwingt? Und wie erzählt man von denen, die fliehen? Von den geheimen Pfaden der Emigration, von den Menschenhändlern in den Wäldern Serbiens, von Alis Tasche, von dem Massaker in einem LKW nach Berlin, von den Albträumen des Carlos Fuentes und vom fatalen Lächeln des Emigranten in der Nazi-Bar?So wie Hassan Blasim. Seine Geschichten schildern den Irak der letzten Jahrzehnte als surrealistisches Inferno - den Krieg mit dem Iran, die Herrschaft und den Sturz Saddam Husseins, die Besatzungszeit, die Eskalation der Gewalt und die sich ausdehnende Wüste der Erinnerung - und sie erzählen von der Emigration, von den Grenzen und Zäunen, den Ämtern und Verstecken, der Einsamkeit und der Entfremdung, der die Flüchtlinge ausgesetzt sind. Vor allem aber erzählen sie von Menschen, von ihren Traumata und Albträumen, von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, von ihrem Schmerz und ihren Strategien, in einer wahnsinnigen Wirklichkeit zu überleben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.07.2015Krieg der Köpfe
Der aus dem Irak geflohene Filmemacher und Autor Hassan Blasim
erzählt mit beißendem Sarkasmus von Terror, Frontfriedhöfen und Enthauptungsvideos
VON HANS-PETER KUNISCH
Es gibt ein eindrückliches Youtube-Video, in dem Hassan Blasim bescheiden aber deutlich von seinem Fluchtweg erzählt. Er führte ihn aus Bagdad, wo er 1973 geboren wurde, im Jahr 1998 zuerst in den kurdischen Norden des Irak, nachdem ein Dokumentarfilm des Filmhochschülers ins Visier des Geheimdiensts geraten war. Im Norden dreht er unter falschem Namen Filme, darunter einen regimekritischen Spielfilm, die Lage spitzt sich zu. Schließlich entschließt sich Blasim, weiterzuziehen, gelangt mit wechselnden Schleppern über winterliche Gebirgsgrenzen: nach Iran, in die Türkei, nach Bulgarien, über Serbien und Ungarn bis nach Finnland, wo er 2004 ankommt.
Dreieinhalb Jahre dauerte die Odyssee, mit Schwarzarbeit in Restaurants und Fabriken finanziert. Mehrmals wurde Blasim aufgegriffen und verprügelt. An der bulgarischen Grenze mussten sich die Flüchtlinge ausziehen, eine halbe Stunde im Eiswasser sitzen. Sie kamen wieder. Heute ist Blasim in Finnland als Flüchtling anerkannt, doch in seinen großartigen provokativen Erzählungen sind die Erfahrungen der Flucht nicht vergessen.
Man meint, die Kriegs- und Flüchtlings-Wirklichkeiten aus den Nachrichten zu kennen, aber bei Blasim bleiben sie ohne nervenschonenden Kommentar oder routinierte Skandalisierung. Er findet groteske Bilder, baut Geschichten voller überraschender Wendungen um die Flüchtlinge herum, fantastisch und trocken. Er setzt Dringlichkeit und Kunst gegen Sensationslust und Verlogenheit, könnte man sagen, und er stattet seine Erzählungen mit makabrem Witz und einem Understatement aus, das glauben zu machen scheint, abgeschlagene Köpfe seien alltäglich.
So ergeht es dem Ambulanzfahrer in der Geschichte „Archiv und Wirklichkeit“. In einem Malmöer Flüchtlingszentrum erzählt er, wie er im Winter 2006 ans Ufer des Tigris geschickt wird. Sechs Männer sind tot. Vielleicht waren es Religionsführer. Egal. Er lädt den Sack mit den Köpfen in den Krankenwagen, der – von der Polizei entführt wird. Die Polizisten machen den Fahrer und die Köpfe zu Hauptdarstellern eines Videos. Der Fahrer muss vor der Kamera die Aussage machen, er sei ein Offizier der irakischen Armee, der mit den toten Kollegen Vergewaltigungen durchgeführt habe, auf Befehl der USA.
Der Sender Al Jazeera bringt das Video, die Entführer des Ambulanzfahrers jubeln und verkaufen ihn an die nächste Gruppe, die weitere Videoaufnahmen machen will, mit oder ohne Köpfe. Blasim überzeichnet die brutale Medialität des Terrorkriegs ins Groteske, bis dem Leser der Atem stockt. Zu Recht hat er für seine zweite Erzählsammlung, „The Iraqi Christ“ (2013) den britischen „Independent Foreign Fiction Prize“ gewonnen. Auch wenn das Ineinander von Realität und Kunst in den Storys aus „The Madmen of Freedom Square“ (2009) vielleicht noch überzeugender wirkt. Die jetzt erschienene deutsche Ausgabe bringt, in der gut lesbaren Übersetzung von Hartmut Fähndrich, eine Auswahl aus beiden Bänden.
Der Kulturredakteur ist tot, heißt es im Vorspann von „Truppenzeitung“, aber „wir werden auf den Friedhof gehen, ins Leichenschauhaus (. . .), wir werden den Toten nackt herausholen und ihn in einen öffentlichen Park bringen. Wir werden ihn auf eine Bank setzen, unter eine satt orangerote Sonne.“ Der Tote erzählt, das „besondere Interesse“ seiner Seite habe den „Kriegsgeschichten und der Kriegspoesie“ gegolten. „Geduldig wie ein Bäcker“ habe er redigiert, ein gutes Familienleben geführt und davon geträumt, Kulturminister zu werden.
Alles wird anders, als ein Soldat gut geschriebene Geschichten über Liebe und Sex von der Front schickt. Das wollen die Leute lesen! Der Redakteur ist begeistert, hört kurz danach, der Soldat sei getötet worden. „Vor Glück wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Was für ein Geschenk des Schicksals! In einem unbeschreiblichen Taumel las ich den Namen des gefallenen Soldaten wieder und wieder.“ Der Kulturredakteur schlüpft teilweise in eine neue Identität, hat mit den Geschichten Erfolg und wird Kulturminister. Doch plötzlich erhält er neue Texte des Toten. Er lässt das Grab öffnen: der Soldat ist drin. Wieder kommen neue Geschichten. Sie verfolgen den Kulturminister, noch nach der Verbrennung des Leichnams.
Ein Interviewer hat Hassan Blasim schon dem „magischen Realismus“ zugerechnet. Seine Antwort: „nightmarish“, albtraumhaft passe besser. Tatsächlich: man merkt, Blasim hat Gogol, Poe, Kafka, Borges und Onetti gelesen, aber auch Carlos Fuentes. Dessen Namen nimmt Salim Abdalhussain an, der Held in einer der Erzählungen, weil er in den Niederlanden als Salim keine Chance hat. Als Carlos Fuentes heiratet er eine dicke, freundliche Holländerin. Alles ist gut. Bis er nachts zu träumen beginnt. Und ihm Salim begegnet, der ihn beschimpft. Carlos Fuentes reagiert neurotisch, er schießt.
Blasims erstaunliche Geschichten sind zugleich realitätsnah und glasklar intellektuell. Er verknüpft klassische Stilmittel mit brennender Aktualität. Beides zusammen verleiht Schärfe und Tiefe. Ein anderes Flüchtlingszentrum: Ali, ein Mann mit einer bleigrauen Tasche aus den Fünfzigerjahren, fällt auf. Darin, stellt sich heraus, sind die Knochen seiner Mutter, der die Tasche gehörte. Sie wollte mit ihr vor seinem Vater und seinen Brüdern fliehen, die sie verprügelt haben. Geschafft hat sie es nie. Ali hält sie in Ehren. Nur den Kopf hat er im griechischen Wald, von Grenzern verfolgt, verloren.
Es gibt eine Menge Köpfe in diesen Erzählungen. Aber sie wirken nicht lächerlich splatterhaft, sondern als Teil einer Wirklichkeit, die nur durch sarkastischen Witz zu ertragen ist. Blasim zeigt, dass es aufs „Wie“ des Erzählens ankommt, er bricht aber die Kraft des Erzählten damit nicht, sondern stellt neue Metaphern in ihren Dienst. „Die Leichenschau“ stellt einen Instruktor des Grauens vor, der einem Killer-Schüler nicht beibringen muss, wie man Menschen tötet, sondern erzählt, wie man Leichen präsentiert, damit sie Schrecken verbreiten. Manchmal genügt Sanftheit. Es kann reichen, eine dicke stillende Nackte mit ihrem Säugling gut sichtbar unter die verkrüppelte Palme inmitten einer viel befahrenen Straße zu setzen: das blühende Leben, Pietà und Buddha. Keine Spur der Verletzungen. Das ist die Kunst.
HANS-PETER KUNISCH
Der Sender Al Jazeera bringt
das Video, die Entführer des
Ambulanzfahrers jubeln
Als der Redakteur erfährt, dass
der Soldat, der über Sex schreibt,
getötet wurde, ist er begeistert
Auf der Suche nach einem Freiheitsplatz – der Schriftsteller Hassan Blasim kam aus Bagdad und fand in Finnland endlich eine neue Heimat. Er führt nicht nur in seinem Schreiben die Kriegs- und Flüchtlingswirklichkeit vor.
Foto: Katja Bohm
Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz.
Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
256 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der aus dem Irak geflohene Filmemacher und Autor Hassan Blasim
erzählt mit beißendem Sarkasmus von Terror, Frontfriedhöfen und Enthauptungsvideos
VON HANS-PETER KUNISCH
Es gibt ein eindrückliches Youtube-Video, in dem Hassan Blasim bescheiden aber deutlich von seinem Fluchtweg erzählt. Er führte ihn aus Bagdad, wo er 1973 geboren wurde, im Jahr 1998 zuerst in den kurdischen Norden des Irak, nachdem ein Dokumentarfilm des Filmhochschülers ins Visier des Geheimdiensts geraten war. Im Norden dreht er unter falschem Namen Filme, darunter einen regimekritischen Spielfilm, die Lage spitzt sich zu. Schließlich entschließt sich Blasim, weiterzuziehen, gelangt mit wechselnden Schleppern über winterliche Gebirgsgrenzen: nach Iran, in die Türkei, nach Bulgarien, über Serbien und Ungarn bis nach Finnland, wo er 2004 ankommt.
Dreieinhalb Jahre dauerte die Odyssee, mit Schwarzarbeit in Restaurants und Fabriken finanziert. Mehrmals wurde Blasim aufgegriffen und verprügelt. An der bulgarischen Grenze mussten sich die Flüchtlinge ausziehen, eine halbe Stunde im Eiswasser sitzen. Sie kamen wieder. Heute ist Blasim in Finnland als Flüchtling anerkannt, doch in seinen großartigen provokativen Erzählungen sind die Erfahrungen der Flucht nicht vergessen.
Man meint, die Kriegs- und Flüchtlings-Wirklichkeiten aus den Nachrichten zu kennen, aber bei Blasim bleiben sie ohne nervenschonenden Kommentar oder routinierte Skandalisierung. Er findet groteske Bilder, baut Geschichten voller überraschender Wendungen um die Flüchtlinge herum, fantastisch und trocken. Er setzt Dringlichkeit und Kunst gegen Sensationslust und Verlogenheit, könnte man sagen, und er stattet seine Erzählungen mit makabrem Witz und einem Understatement aus, das glauben zu machen scheint, abgeschlagene Köpfe seien alltäglich.
So ergeht es dem Ambulanzfahrer in der Geschichte „Archiv und Wirklichkeit“. In einem Malmöer Flüchtlingszentrum erzählt er, wie er im Winter 2006 ans Ufer des Tigris geschickt wird. Sechs Männer sind tot. Vielleicht waren es Religionsführer. Egal. Er lädt den Sack mit den Köpfen in den Krankenwagen, der – von der Polizei entführt wird. Die Polizisten machen den Fahrer und die Köpfe zu Hauptdarstellern eines Videos. Der Fahrer muss vor der Kamera die Aussage machen, er sei ein Offizier der irakischen Armee, der mit den toten Kollegen Vergewaltigungen durchgeführt habe, auf Befehl der USA.
Der Sender Al Jazeera bringt das Video, die Entführer des Ambulanzfahrers jubeln und verkaufen ihn an die nächste Gruppe, die weitere Videoaufnahmen machen will, mit oder ohne Köpfe. Blasim überzeichnet die brutale Medialität des Terrorkriegs ins Groteske, bis dem Leser der Atem stockt. Zu Recht hat er für seine zweite Erzählsammlung, „The Iraqi Christ“ (2013) den britischen „Independent Foreign Fiction Prize“ gewonnen. Auch wenn das Ineinander von Realität und Kunst in den Storys aus „The Madmen of Freedom Square“ (2009) vielleicht noch überzeugender wirkt. Die jetzt erschienene deutsche Ausgabe bringt, in der gut lesbaren Übersetzung von Hartmut Fähndrich, eine Auswahl aus beiden Bänden.
Der Kulturredakteur ist tot, heißt es im Vorspann von „Truppenzeitung“, aber „wir werden auf den Friedhof gehen, ins Leichenschauhaus (. . .), wir werden den Toten nackt herausholen und ihn in einen öffentlichen Park bringen. Wir werden ihn auf eine Bank setzen, unter eine satt orangerote Sonne.“ Der Tote erzählt, das „besondere Interesse“ seiner Seite habe den „Kriegsgeschichten und der Kriegspoesie“ gegolten. „Geduldig wie ein Bäcker“ habe er redigiert, ein gutes Familienleben geführt und davon geträumt, Kulturminister zu werden.
Alles wird anders, als ein Soldat gut geschriebene Geschichten über Liebe und Sex von der Front schickt. Das wollen die Leute lesen! Der Redakteur ist begeistert, hört kurz danach, der Soldat sei getötet worden. „Vor Glück wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Was für ein Geschenk des Schicksals! In einem unbeschreiblichen Taumel las ich den Namen des gefallenen Soldaten wieder und wieder.“ Der Kulturredakteur schlüpft teilweise in eine neue Identität, hat mit den Geschichten Erfolg und wird Kulturminister. Doch plötzlich erhält er neue Texte des Toten. Er lässt das Grab öffnen: der Soldat ist drin. Wieder kommen neue Geschichten. Sie verfolgen den Kulturminister, noch nach der Verbrennung des Leichnams.
Ein Interviewer hat Hassan Blasim schon dem „magischen Realismus“ zugerechnet. Seine Antwort: „nightmarish“, albtraumhaft passe besser. Tatsächlich: man merkt, Blasim hat Gogol, Poe, Kafka, Borges und Onetti gelesen, aber auch Carlos Fuentes. Dessen Namen nimmt Salim Abdalhussain an, der Held in einer der Erzählungen, weil er in den Niederlanden als Salim keine Chance hat. Als Carlos Fuentes heiratet er eine dicke, freundliche Holländerin. Alles ist gut. Bis er nachts zu träumen beginnt. Und ihm Salim begegnet, der ihn beschimpft. Carlos Fuentes reagiert neurotisch, er schießt.
Blasims erstaunliche Geschichten sind zugleich realitätsnah und glasklar intellektuell. Er verknüpft klassische Stilmittel mit brennender Aktualität. Beides zusammen verleiht Schärfe und Tiefe. Ein anderes Flüchtlingszentrum: Ali, ein Mann mit einer bleigrauen Tasche aus den Fünfzigerjahren, fällt auf. Darin, stellt sich heraus, sind die Knochen seiner Mutter, der die Tasche gehörte. Sie wollte mit ihr vor seinem Vater und seinen Brüdern fliehen, die sie verprügelt haben. Geschafft hat sie es nie. Ali hält sie in Ehren. Nur den Kopf hat er im griechischen Wald, von Grenzern verfolgt, verloren.
Es gibt eine Menge Köpfe in diesen Erzählungen. Aber sie wirken nicht lächerlich splatterhaft, sondern als Teil einer Wirklichkeit, die nur durch sarkastischen Witz zu ertragen ist. Blasim zeigt, dass es aufs „Wie“ des Erzählens ankommt, er bricht aber die Kraft des Erzählten damit nicht, sondern stellt neue Metaphern in ihren Dienst. „Die Leichenschau“ stellt einen Instruktor des Grauens vor, der einem Killer-Schüler nicht beibringen muss, wie man Menschen tötet, sondern erzählt, wie man Leichen präsentiert, damit sie Schrecken verbreiten. Manchmal genügt Sanftheit. Es kann reichen, eine dicke stillende Nackte mit ihrem Säugling gut sichtbar unter die verkrüppelte Palme inmitten einer viel befahrenen Straße zu setzen: das blühende Leben, Pietà und Buddha. Keine Spur der Verletzungen. Das ist die Kunst.
HANS-PETER KUNISCH
Der Sender Al Jazeera bringt
das Video, die Entführer des
Ambulanzfahrers jubeln
Als der Redakteur erfährt, dass
der Soldat, der über Sex schreibt,
getötet wurde, ist er begeistert
Auf der Suche nach einem Freiheitsplatz – der Schriftsteller Hassan Blasim kam aus Bagdad und fand in Finnland endlich eine neue Heimat. Er führt nicht nur in seinem Schreiben die Kriegs- und Flüchtlingswirklichkeit vor.
Foto: Katja Bohm
Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz.
Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
256 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2015Von Tarantino nichts gelernt
England feiert den irakischen Filmemacher Hassan Blasim für seine düsteren Kurzgeschichten über sein Heimatland. Doch an das wahre Grauen reichen die moralischen Splatterstories längst nicht heran.
Es ist viel vom Schreiben die Rede in der letztes Jahr in London mit dem begehrten Foreign Fiction Prize ausgezeichneten, auf der Insel vielgepriesenen Kurzgeschichtensammlung des 1973 geborenen irakischen Filmemachers Hassan Blasim. Aber seine Storys verdanken dem Genre des Horrorfilms mehr als literarischen Vorbildern oder der irakischen Realität.
Da berichtet der aus dem Leichenschauhaus auf eine Parkbank gesetzte Redakteur einer "Truppenzeitung" (so der Titel der Story), wie er sich die literarisch geniale Einsendung eines gefallenen Soldaten aneignet. Er wird berühmt, doch die Einsendungen reißen nicht ab, und vor lauter Angst aufzufliegen wird er wahnsinnig und verbrennt die zu einer Bibliothek angewachsene Sammlung der eingesandten Meisterwerke mitsamt der Leiche des Soldaten. "Warum haben Sie einen Brennofen für Romanmenschen?", lautet der plakative letzte Satz dieser aus sprödem Holz geschnitzten Story.
Wir begreifen die Botschaft: Die wahre Kunst ist unter Regimen wie dem Saddams chancenlos, die Parteibonzen eignen sich alles an und zerstören es zugleich. Interessant wird die Geschichte erst, wenn man sie als Symptom liest: Sie tritt dann gleichsam selbst den Beweis an, dass die irakische Literatur an der Realität zerbricht oder ihr allein durch unerhörte Übersteigerungen gerecht wird. Nur dass eben Hassan Blasim nicht die irakische Literatur ist. Wer wissen will, wie man die irakischen Erfahrungen auch anders erzählen kann, lese Abbas Khidr, Najm Wali oder Fadhil Al-Azzawi, um nur die großen irakischen Autoren zu nennen, die in Deutschland leben.
In Hassan Blasims vierundzwanzig, gelegentlich aufeinander anspielenden Kurzgeschichten wimmelt es von Schriftstellern. Manchmal heißen sie auch Hassan Blasim, und unglücklich sind sie immer, wie etwa Chalid Hamrani, der, als säße er in E. T. A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster", kein anderes Thema kennt als den Markt neben seiner Wohnung. Man wüsste gern, was er darüber schreibt, aber für Blasim ist das Motiv vor allem eine Gelegenheit, seine Literatur gegen "nicht enden wollende Aufforderungen, verständlich zu schreiben, realistisch, dokumentarisch, pragmatisch", zu verteidigen.
Tatsächlich hat sich Blasim vom Realismus verabschiedet, aber das haben schon viele arabische Autoren vor ihm getan. Noch keiner von ihnen ist jedoch auf die Idee verfallen, eine an Quentin Tarantinos Filmen geschulte Pulp-Fiction-Ästhetik zur Darstellung der irakischen Realität zu nutzen. Die Idee scheint gut, denn surreal und gespenstig geht es im Irak ganz gewiss zu. Aber wenn schon Tarantino, denken wir, dann bitte richtig!
Blasim berichtet vom Geschlechtsteil einer Selbstmordattentäterin, welches die Frau des Fischverkäufers auf dem Markt unter den Fischen findet, und was daraus folgt, wird von Hartmut Fähndrich angemessen drastisch übersetzt. Doch statt diesen obszönen und natürlich auch geschmacklosen Humor in bester Tarantino-Manier stehenzulassen, fügt Blasim wie ein moralisierender Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts mit erhobenem Zeigefinger hinzu: "Diese Art Geschwafel ist das Resultat einer langen Geschichte von Gewalt, Unterdrückung und Zerstörung ... Es ist primitives, tribales Gesabber, das sich hinter geschmacklosem, irrwitzigem Gelächter versteckt." In Wahrheit aber funktioniert dieser Witz nicht anders als die von makabren, sexualisierten und geschmacklosen Vorkommnissen wimmelnden Erzählungen von Hassan Blasim selbst.
Neben diesen moralinsauren Splatterstories aus dem Irak stehen Migrationsgeschichten, die exakt derselben zerknirschten Erzähllogik folgen. "Ich bin überzeugt, dass das Schreiben sich nicht behindern lassen darf durch das demütige Gefühl Massen von Menschen gegenüber, aus deren Hemden der Schweiß dampft und die sich ähneln wie die Klos einer Toilette." Der Vergleich von Menschen mit Toiletten spricht Bände. Aber direkt danach berichtet Blasim von "der Poesie des menschlichen Gesichts, das wie ein Juwel unter Millionen Tonnen von Trivialmüll verborgen ist". Dieses "Juwel" ist für ihn die Geschichte von Ali Basrawi, der vor der Flucht aus dem Irak die Gebeine der von der Familie zu Tode geschundenen Mutter ausgräbt und in einer Tasche mit ins Exil nimmt. Nur der Kopf, "der sich einst zärtlich über ihn geneigt hatte", geht auf der Reise verloren.
Solche Vorliebe fürs morbide Detail, gepaart mit Gefühlskitsch und einer seltsamen Verächtlichkeit. prägt auch die anderen Geschichten aus dem Flüchtlingsdasein. Dabei kann es durchaus zu Momenten der Wahrheit kommen, etwa wenn ein sich im holländischen Exil Carlos Fuentes nennender Iraker holländischer wird als alle Holländer und seine Herkunft und Landsleute verabscheut, wie es wohl manchen Exilanten passiert. Bis er eines Tages von seinen Albträumen eingeholt wird und sich im Namen seines verdrängten irakischen Ichs aus dem Fenster stürzt. Auch diese Erzählung ist durchwachsen von Verachtung und Spott für ihre Figur, so dass man am Ende sogar Mitleid mit Carlos Fuentes bekommt, einfach weil seine Geschichte von diesem Hassan Blasim erzählt wird. Wer besonders schlau sein will, möchte diesen Effekt als höhere erzählerische Absicht deuten. Wir halten das eher für einen Unfall und wundern uns, warum die britischen Kritiker unter allen arabischen Autoren ausgerechnet den trivialsten gekrönt haben. Könnte es sein, dass er ihrem überkommenen, von "Tausendundeiner Nacht" geprägten Bild arabischer Literatur schlicht am ehesten entsprochen hat?
STEFAN WEIDNER
Hassan Blasim: "Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak".
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
England feiert den irakischen Filmemacher Hassan Blasim für seine düsteren Kurzgeschichten über sein Heimatland. Doch an das wahre Grauen reichen die moralischen Splatterstories längst nicht heran.
Es ist viel vom Schreiben die Rede in der letztes Jahr in London mit dem begehrten Foreign Fiction Prize ausgezeichneten, auf der Insel vielgepriesenen Kurzgeschichtensammlung des 1973 geborenen irakischen Filmemachers Hassan Blasim. Aber seine Storys verdanken dem Genre des Horrorfilms mehr als literarischen Vorbildern oder der irakischen Realität.
Da berichtet der aus dem Leichenschauhaus auf eine Parkbank gesetzte Redakteur einer "Truppenzeitung" (so der Titel der Story), wie er sich die literarisch geniale Einsendung eines gefallenen Soldaten aneignet. Er wird berühmt, doch die Einsendungen reißen nicht ab, und vor lauter Angst aufzufliegen wird er wahnsinnig und verbrennt die zu einer Bibliothek angewachsene Sammlung der eingesandten Meisterwerke mitsamt der Leiche des Soldaten. "Warum haben Sie einen Brennofen für Romanmenschen?", lautet der plakative letzte Satz dieser aus sprödem Holz geschnitzten Story.
Wir begreifen die Botschaft: Die wahre Kunst ist unter Regimen wie dem Saddams chancenlos, die Parteibonzen eignen sich alles an und zerstören es zugleich. Interessant wird die Geschichte erst, wenn man sie als Symptom liest: Sie tritt dann gleichsam selbst den Beweis an, dass die irakische Literatur an der Realität zerbricht oder ihr allein durch unerhörte Übersteigerungen gerecht wird. Nur dass eben Hassan Blasim nicht die irakische Literatur ist. Wer wissen will, wie man die irakischen Erfahrungen auch anders erzählen kann, lese Abbas Khidr, Najm Wali oder Fadhil Al-Azzawi, um nur die großen irakischen Autoren zu nennen, die in Deutschland leben.
In Hassan Blasims vierundzwanzig, gelegentlich aufeinander anspielenden Kurzgeschichten wimmelt es von Schriftstellern. Manchmal heißen sie auch Hassan Blasim, und unglücklich sind sie immer, wie etwa Chalid Hamrani, der, als säße er in E. T. A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster", kein anderes Thema kennt als den Markt neben seiner Wohnung. Man wüsste gern, was er darüber schreibt, aber für Blasim ist das Motiv vor allem eine Gelegenheit, seine Literatur gegen "nicht enden wollende Aufforderungen, verständlich zu schreiben, realistisch, dokumentarisch, pragmatisch", zu verteidigen.
Tatsächlich hat sich Blasim vom Realismus verabschiedet, aber das haben schon viele arabische Autoren vor ihm getan. Noch keiner von ihnen ist jedoch auf die Idee verfallen, eine an Quentin Tarantinos Filmen geschulte Pulp-Fiction-Ästhetik zur Darstellung der irakischen Realität zu nutzen. Die Idee scheint gut, denn surreal und gespenstig geht es im Irak ganz gewiss zu. Aber wenn schon Tarantino, denken wir, dann bitte richtig!
Blasim berichtet vom Geschlechtsteil einer Selbstmordattentäterin, welches die Frau des Fischverkäufers auf dem Markt unter den Fischen findet, und was daraus folgt, wird von Hartmut Fähndrich angemessen drastisch übersetzt. Doch statt diesen obszönen und natürlich auch geschmacklosen Humor in bester Tarantino-Manier stehenzulassen, fügt Blasim wie ein moralisierender Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts mit erhobenem Zeigefinger hinzu: "Diese Art Geschwafel ist das Resultat einer langen Geschichte von Gewalt, Unterdrückung und Zerstörung ... Es ist primitives, tribales Gesabber, das sich hinter geschmacklosem, irrwitzigem Gelächter versteckt." In Wahrheit aber funktioniert dieser Witz nicht anders als die von makabren, sexualisierten und geschmacklosen Vorkommnissen wimmelnden Erzählungen von Hassan Blasim selbst.
Neben diesen moralinsauren Splatterstories aus dem Irak stehen Migrationsgeschichten, die exakt derselben zerknirschten Erzähllogik folgen. "Ich bin überzeugt, dass das Schreiben sich nicht behindern lassen darf durch das demütige Gefühl Massen von Menschen gegenüber, aus deren Hemden der Schweiß dampft und die sich ähneln wie die Klos einer Toilette." Der Vergleich von Menschen mit Toiletten spricht Bände. Aber direkt danach berichtet Blasim von "der Poesie des menschlichen Gesichts, das wie ein Juwel unter Millionen Tonnen von Trivialmüll verborgen ist". Dieses "Juwel" ist für ihn die Geschichte von Ali Basrawi, der vor der Flucht aus dem Irak die Gebeine der von der Familie zu Tode geschundenen Mutter ausgräbt und in einer Tasche mit ins Exil nimmt. Nur der Kopf, "der sich einst zärtlich über ihn geneigt hatte", geht auf der Reise verloren.
Solche Vorliebe fürs morbide Detail, gepaart mit Gefühlskitsch und einer seltsamen Verächtlichkeit. prägt auch die anderen Geschichten aus dem Flüchtlingsdasein. Dabei kann es durchaus zu Momenten der Wahrheit kommen, etwa wenn ein sich im holländischen Exil Carlos Fuentes nennender Iraker holländischer wird als alle Holländer und seine Herkunft und Landsleute verabscheut, wie es wohl manchen Exilanten passiert. Bis er eines Tages von seinen Albträumen eingeholt wird und sich im Namen seines verdrängten irakischen Ichs aus dem Fenster stürzt. Auch diese Erzählung ist durchwachsen von Verachtung und Spott für ihre Figur, so dass man am Ende sogar Mitleid mit Carlos Fuentes bekommt, einfach weil seine Geschichte von diesem Hassan Blasim erzählt wird. Wer besonders schlau sein will, möchte diesen Effekt als höhere erzählerische Absicht deuten. Wir halten das eher für einen Unfall und wundern uns, warum die britischen Kritiker unter allen arabischen Autoren ausgerechnet den trivialsten gekrönt haben. Könnte es sein, dass er ihrem überkommenen, von "Tausendundeiner Nacht" geprägten Bild arabischer Literatur schlicht am ehesten entsprochen hat?
STEFAN WEIDNER
Hassan Blasim: "Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak".
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main