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In seiner "Münchner Rede zur Poesie" (gehalten am 28. März 2012 im Lyrik Kabinett, München) geht Jan Wagner von der überraschenden Tatsache aus, dass auffallend viele Dichter von Auden bis Benn und Brecht begeisterte Leser von Kriminlaromanen waren - ein Zusammenhang, der sich zurückverfolgen lässt bis zu EdgarAllan Poe, der nciht nur einer der Begründer der modernen Poesie ist, sondern auch die Detektivgeschichte erfunden hat. Ausgehend von dessen 'The Murders in the Rue Morgue' fragt Wagner nach Gründen für die Analogie von Krimi und Gedicht: "Läßt sich vielleicht das Gedicht…mehr

Produktbeschreibung
In seiner "Münchner Rede zur Poesie" (gehalten am 28. März 2012 im Lyrik Kabinett, München) geht Jan Wagner von der überraschenden Tatsache aus, dass auffallend viele Dichter von Auden bis Benn und Brecht begeisterte Leser von Kriminlaromanen waren - ein Zusammenhang, der sich zurückverfolgen lässt bis zu EdgarAllan Poe, der nciht nur einer der Begründer der modernen Poesie ist, sondern auch die Detektivgeschichte erfunden hat. Ausgehend von dessen 'The Murders in the Rue Morgue' fragt Wagner nach Gründen für die Analogie von Krimi und Gedicht: "Läßt sich vielleicht das Gedicht selbst, wie das unerklärliche Rätsel aufgebende Zimmer in der Rue Morgue [.] als 'locked room' begreifen, als ein verschlossener Raum, vom Dichter ganz gezielt und Schritt um Schritt erschaffen, immer auf den maximalen Effekt beim Leser bedacht, noch die kleinsten Wirkungen berechnend - nur um am Schluß den Schlüssel von innen stecken zu lassen und sich in Luft aufzulösen, auf mysteriöse Weise zu verschwinden?"
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2017

Staunen wir also mit den Versen

Der Lyriker Jan Wagner glänzt nicht minder als Essayist. Seine enthusiastische Prosa handelt von der Wahrheit der Dichtung und vom Wunderbaren als Kern der Poesie.

Jetzt hilft nur noch Entschleunigung, Versenkung, Poesie; dem Affenhordengebrüll einer ins Schleudern geratenen Welt die stille Größe reifer Verse entgegensetzen. Nehmen wir nur Seamus Heaney, den irischen Mythopoeten, der im Kleinsten ganze Welten aufscheinen sah, der die butterweiche Moorlandschaft für ihre freundliche Offenheit feierte: "Our unfenced country / Is bog that keeps crusting / Between the sights of the sun." Dass sich Lyrik schlechterdings nicht schreien lässt, entzieht sie dem Zugriff von Populisten. Und doch ist sie längst nicht mehr "das unpopulärste Genre, das die Literatur zu bieten hat". Man denke bloß ans arme Dramolett.

Dass Jan Wagner die Poesie im Titelessay seiner anregenden Prosasammlung dennoch so bezeichnet, liegt schlicht daran, dass es sich hier um einen bereits vor fünf Jahren gehaltenen Vortrag handelt. Es war nicht zuletzt Wagner selbst, der mit wunderbar schwerelos wirkenden Gedichten der Poesie seither viel öffentliche Aufmerksamkeit gesichert hat. Seine "Regentonnenvariationen" (2015) wurden als erstes lyrisches Werk überhaupt mit dem Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Poesiefestivals erfreuen sich heute höchster Beliebtheit, die Abgrenzungen zu Spoken-Word-Performances und der Popmusik sind nicht erst seit dem Literaturnobelpreis für Bob Dylan durchlässig geworden. Kurz: Die Dichtung ist wieder da.

Wagner aber wirft sich auch weiterhin in die Bresche für seine literarische Herzensangelegenheit. Das Leitthema der meisten hier versammelten Aufsätze ist also das Gedicht, auch wenn sich die Herangehensweise von Text zu Text unterscheidet. Es finden sich poetologische Gedanken neben poetopraktischen Ausführungen zu Gedichtanfängen, zur Handschrift oder zum Übersetzen. Es gibt detaillierte Versanalysen neben biographischen Annäherungen an bewunderte Dichter wie Ted Hughes ("Hymniker eines ungebändigten, kraftvollen, erdnahen Seins") oder Seamus Heaney ("offenkundig ist seine Liebe zum Gewöhnlichen"). Zahlreiche literaturgeschichtliche und persönliche Anekdoten sind eingewebt in diese Betrachtungen, führen uns etwa in den Biberacher Garten von Großmutter Edith, wo den Autor ein riesiger Rosmarin - "ein Herrscherstrauch, ein Rosmarinkönig" - in einer Mörikes Naturgedichten würdigen Betörung aus der eigenen Zeit herauszuheben scheint.

Über alle Texte hinweg lassen sich poetologische Grundansichten Wagners ausmachen. Diese sind keineswegs neu, ganz im Gegenteil. Aber der Autor liefert zeitgemäße Begründungen der schon im 18. Jahrhundert von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger gegen die rationalistische Poetik Gottscheds vertretenen Position, dass das Wunderbare den Kern der Poesie ausmache. Als Anhänger des - wie wir sehen - in Ansätzen schon bei Charles Baudelaire oder John Keats zu findenden, vom russischen Formalisten Viktor Sklovskij schließlich ausgearbeiteten Konzepts der ästhetischen Verfremdung sieht Wagner im "Staunen" die ideale, vom Gedicht selbst stimulierte Lesehaltung: "Die Normalität ist zwar nicht vollkommen aufgehoben, sie ist aber um ein Winziges, um ein Entscheidendes verrückt worden, eben: staunenswert geworden."

Darin jedoch - und hier zeigt sich Wagners Witz - sei die Poesie der höchst beliebten Gattung des Kriminalromans gar nicht so unähnlich. Unter Verweis auf das genrebegründende "Locked Room Mystery" der allerersten Detektivgeschichte, Edgar Allan Poes "Doppelmord in der Rue Morgue" (1841), biegt er den häufigen Vorwurf des "Hermetischen" in eine poetische Tugend um. Wie der von innen verriegelte Raum des Verbrechens Rätsel aufgibt, so fordert das Gedicht den Leser heraus: Man tritt in dasselbe ein wie in einen "verschlossenen Raum", den der Dichter eingerichtet und dann auf mysteriöse Weise verlassen hat. Freilich handelt es sich um einen gewaltigen Raum, der wie die "Tardis" des Doktor Who "bigger on the inside" ist. Und anders als im Krimi steht am Ende nicht die Wiederherstellung der gewohnten Ordnung, sondern idealerweise die bleibende Irritation, der neue Blick. Gedichte lassen für Wagner, den Romantiker, die Widersprüche des Daseins bestehen, aber spenden dennoch Trost durch ihre Form, versöhnen das Chaos auf ästhetische Weise mit sich selbst.

Die Poesie ist für den Autor allerdings nicht nur Erkenntnisinstrument, sondern auch Erinnerungsspeicher: "Das Gedicht und die Bibliothek eint der Wunsch, das Flüchtige und Zerbrechliche zu bewahren, die Zeugnisse unserer Existenz gegen den unerbittlichen Fortgang der Zeit zu sichern." Um dieses Wissen anzuzapfen, sei es lediglich nötig, empfänglich zu sein, teilt der Autor in einem anderen Vortrag Abiturienten mit, die er entgegen üblicher Effizienzglorifizierung zu Müßiggang und Träumerei animiert. Das Gedicht ermahne uns, "langsamer zu werden, die Zeit verstreichen zu lassen, in der Gewissheit, dass aus dieser vergeudeten Zeit auch ein Nutzen erwachsen kann". Weil die Lyrik die "Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Möglichkeiten" erhalte, "dürfte sie aufs Gründlichste immun machen gegen alle Ismen und Fanatismen", heißt es sympathisch emphatisch (geschenkt, dass Letzteres, genau genommen, auch ein Ismus ist).

Daraus folgt fast zwingend, dass es so etwas wie "Fake Poetry" nicht gibt. Der Text über imaginäre Dichter, der James Macphersons "Gesänge Ossians" ebenso betrachtet wie die Affäre um den Engländer Thomas Chatterton, der im 18. Jahrhundert den dichtenden Mittelaltermönch Thomas Rowley erfunden hat, oder die Poeme eines gewissen Ern Malley, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von den Australiern Harold Stewart und James McAuley geschrieben worden waren, kommt in der Tat zu der Einsicht, dass diese vermeintlichen Fälschungen sich nur unerheblich von den Maskenspielen eines Fernando Pessoa (oder Jan Wagner in seinem "Eulenhasser"-Buch) unterscheiden. Selbst wo Lyrisches parodiert werden sollte, wie im Fall Ern Malleys, sei es denkbar, dass unwillentlich gute Gedichte entstanden seien, das Wahre im Falschen sozusagen: "Zur Wahrheit gehört eben auch, dass niemand weiß, ob er nicht selbst eine Fälschung ist."

Eingestreut zwischen die Metatexte sind "Postkarten" aus Rom (Villa-Massimo-Stipendium), Kalifornien (Villa-Aurora-Stipendium) und Berlin-Neukölln (Jan Wagners Wohnort): poetische Miniaturen, die um kleine Beobachtungen herum erwachsen und so atmosphärisch sind, dass man die italienischen Marmorarbeiter regelrecht meißeln hört, "die üppigen Fassaden aus duftenden Kisten" Berliner Obsthändler geradezu zu riechen meint. Nur die Loss Angeles-Episoden fallen ein wenig ab, ähneln vielen anderen Beschreibungen der "Hauptstadt der Armen und Verrückten". Das beste Stück autobiographische Prosa ist freilich die bislang unveröffentlichte Erzählung über eine irische Odyssee ins Glück. Auf dem Weg zum Heinrich-Böll-Cottage auf der Insel Achill strandet der Autor im Provinznest Westport und trifft auf eine überwältigende, zaunlose Offenherzigkeit. Am äußersten Rand Europas gemeindet man den Fremden ohne Zögern ein. Es ist, als sei man durch alle Zeiten in eine christliche Urgemeinde hineingefallen, und tatsächlich erstrahlt - ganz ohne Kitsch - am Ende ein "Friede sei mit dir" über dieser lebensfrohen Geschichte.

OLIVER JUNGEN.

Jan Wagner: "Der verschlossene Raum". Beiläufige Prosa.

Hanser Berlin Verlag, Berlin 2017. 272 S., geb., 22,- [Euro].

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