Dieter Wellershoff folgt der Darstellung von Liebe und Leidenschaft, Verführung und Ehebruch in exemplarischen Werken der Literatur der letzten zweihundert Jahre, wobei er das Werk und die jeweilige Lebensgeschichte der Autoren, von Goethe bis Houllebecq, spannend und hellsichtig miteinander verknüpft. Die klassischen Themen Liebe und Leidenschaft, Verführung und Ehebruch haben in den großen Romanen und Erzählungen der letzten zweihundert Jahre einen Ausdruck gefunden, der deutlicher als alle anderen Zeugnisse einen tiefgreifenden Wandel erkennen lässt. In immer neuen Schüben wurde die Bindung des Begehrens an Rituale und seine Kanalisierung durch Ehe und Moral von dem Wunsch nach uneingeschränkter Erfüllung gesprengt. Doch das Glück, das in diesem Prozess versprochen war, scheint immer weniger zu gelingen. In seinem neuen Buch, das ihn in gleicher Weise als brillanten Literaturkenner und Menschenbeobachter ausweist, folgt Dieter Wellershoff an beispielhaften Werken der Spur des Begehrens in der Literatur von Goethes Leiden des jungen Werthers bis zu Michel Houellebecqs Elementarteilchen. Er verbindet in vielfältiger wechselseitiger Spiegelung Werk, individuelle Lebensgeschichte und Zeitgeschichte und lässt die Autoren und ihre Darstellung des Sexuellen, ihre Obsessionen und Verstörungen nah und anschaulich vor uns erstehen, von Stendhal bis Henry Miller, von Marcel Proust bis D.H. Lawrence: Literatur mit Bodenhaftung und Liebende im trügerischen Licht der Illusion.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2001Die Krankheit heißt Emma Bovary oder Lolita
Vom Krampf der Lust: Dieter Wellershoff untersucht die Verstörungen des Eros in der Literatur ·Von Hermann Kurzke
Die Literatur ist eben doch mehr als das Leben. Wer das alles wirklich aushalten müßte, was er als Leser bequem in der Sofaecke erleben kann, o je! In wie vielen Pfützen müßte der gelegen haben!
Dieter Wellershoff, inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, kartographiert für uns einige dieser Pfützen. Ein skeptischer Aufklärer, versagt er sich jeden falschen Trost. Von unermüdlicher Produktivität (also von irgendeinem Furor geplagt), überrascht er, nachdem er doch erst im letzten Jahr mit "Der Liebeswunsch" einen großen Roman vorgelegt hat, nun mit etwas Ungemütlichem, mit einem essayistischen Werk über die Verstörungen des Eros in der Literatur der letzten beiden Jahrhunderte. Es ist ein packendes, ein zupackendes, ein umschweiflos ins Schwarze des Sexualakts zielendes Buch.
Daß Literaten ihr Innerstes preisgeben, mehr oder weniger versteckt, macht ihr Leben und ihr Werk zu einer Quelle, die viel tiefere Erkenntnisse erlaubt als die empirische Seelenkunde und Sexualforschung. Wellershoff geht nicht lieblos, aber doch schonungslos mit den Dichtern und Dichterinnen um. Diskretionsrücksichten kennt er nicht. Es geht ihm um die Erkenntnisse, die aus der literarischen Exhibition gewonnen werden können. Ohne Umstände wird die pathologische Basis freigelegt, die das dichterische Werk mit Kraftstoff versorgt hat, werden die Schmerzen reanimiert, die Wunden erneut geöffnet, die zu lindern, die zu verbinden die schöpferische Leistung einst die Aufgabe hatte.
Von Heldenverehrung bleibt da nicht viel. Goethes "Entsagung", seine Flucht jeweils, bevor es ernst hätte werden können mit Friederike Brion und Lili Schönemann und anderen - sie wird, Kurt Eissler folgend, vom Sockel geholt; sie sei das Resultat eines sexuellen Versagens, das Goethe zwang, Liebesnächte zu meiden, weil er die unausbleibliche Demütigung fürchtete. So wurde er zum Meister des erotischen Vorspiels, das erst in der Kunst zu Ende phantasiert wurde. Der Aufenthalt in Rom brachte bekanntlich die Erlösung, und Christiane Vulpius befestigte sie. Wie war solche Erlösung möglich? Was hat vorher den Eros verstört? Bildung, Stand, Intelligenz und hohe Erwartung. Mit einer klugen und sozial gleichberechtigten Frau hätte Goethe nicht schlafen können, des Erwartungsdrucks halber, der sich als vorzeitige Explosion auszuwirken die Heimtücke gehabt hat. Christiane hingegen war, so Wellershoff, eine einfache, sinnliche Frau, "die ihm keine Angst machte, ihn nicht beurteilte, ihm alle Freiheiten ließ, sich mit ihrer Randexistenz beschied und immer da war, wenn er sie brauchte". Das entspannt.
Der Bogen des Buches wölbt sich von Goethe über Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoi (glänzend!), Fontane, Proust, Nabokov und Joyce zu Updike, Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq. Wellershoff bringt sie alle wieder zum Leben, die alten Bekannten Julien Sorel, Emma Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Humbert Humbert und Lolita - indem er sie mit dem Fleisch und Blut ihrer Autoren ernährt. Der biographische Zugang wirkt dabei nie privatisierend, als wären die Werke nur Symptome kranker Einzelindividuen, sondern er legt unser aller Krankheiten, die Krankheiten der Epoche bloß. Der verstörte Eros gibt sich als ein Grundsymptom der modernen Befindlichkeit zu erkennen, ein galoppierendes zudem.
Die Pathologie des neunzehnten Jahrhunderts ist vergleichsweise idyllisch gegen die des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen erste Hälfte noch erträglich ist verglichen mit den Abgründen, die sich bei Jelinek und Houellebecq auftun. Die vollendete sexuelle Aufklärung hat auch das Unglück vollendet. Mit der öffentlichen Duldung aller sogenannten Perversitäten verwandelte sich der Sieg der sexuellen Revolution in einen drückenden Sollzustand. Sexuelle Erfüllung wird zur Leistungsnorm, daher paralysiert durch ständige Selbstbeobachtung und soziale Kontrolle. Wie schon beim Marquis de Sade - das Juliette-Kapitel aus Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" gehört zu Wellershoffs wichtigsten Inspirationstexten - potenziert sich der Krampf bis zur "Hölle des Masochismus", in der schließlich die widerlichsten Mittel erforderlich werden, um das abgestorbene Fleisch durch Qual noch einmal zum Leben zu erwecken.
Wie den Eros entstören, wie Freiheit, Zärtlichkeit und Gelassenheit wiederfinden? Wellershoff gibt kein Rezept, nur versteckte Hinweise. Eine seiner Heimlichkeiten lautet: Das Verhältnis zum Tod bestimmt das Verhältnis zum Eros. Die Angst vor dem Tod verstärkt den Zwang, dem Eros umfassende Erfüllung abzuverlangen. Gelassenheit gegenüber dem Tod hingegen zieht Gelassenheit auch im Erotischen nach sich. Erotisches Glück bewirkt umgekehrt Gelassenheit gegenüber dem Tod. Das Schlimmste ist Sterbenmüssen, ohne wirklich gelebt zu haben. Tod und Eros, sie bedingen einander auf beglückende und auf fatale Weise. Es gibt keinen methodisch begehbaren Weg zum Glück. Glück ist eine Art Gnade, heutzutage ziemlich unwahrscheinlich. Das sagt Wellershoff zwar nicht (sein Buch verwendet keine religiösen Begriffe), aber er zitiert Kierkegaard: "Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen, entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides."
Dieter Wellershoff: "Der verstörte Eros". Zur Literatur des Begehrens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 314 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Krampf der Lust: Dieter Wellershoff untersucht die Verstörungen des Eros in der Literatur ·Von Hermann Kurzke
Die Literatur ist eben doch mehr als das Leben. Wer das alles wirklich aushalten müßte, was er als Leser bequem in der Sofaecke erleben kann, o je! In wie vielen Pfützen müßte der gelegen haben!
Dieter Wellershoff, inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, kartographiert für uns einige dieser Pfützen. Ein skeptischer Aufklärer, versagt er sich jeden falschen Trost. Von unermüdlicher Produktivität (also von irgendeinem Furor geplagt), überrascht er, nachdem er doch erst im letzten Jahr mit "Der Liebeswunsch" einen großen Roman vorgelegt hat, nun mit etwas Ungemütlichem, mit einem essayistischen Werk über die Verstörungen des Eros in der Literatur der letzten beiden Jahrhunderte. Es ist ein packendes, ein zupackendes, ein umschweiflos ins Schwarze des Sexualakts zielendes Buch.
Daß Literaten ihr Innerstes preisgeben, mehr oder weniger versteckt, macht ihr Leben und ihr Werk zu einer Quelle, die viel tiefere Erkenntnisse erlaubt als die empirische Seelenkunde und Sexualforschung. Wellershoff geht nicht lieblos, aber doch schonungslos mit den Dichtern und Dichterinnen um. Diskretionsrücksichten kennt er nicht. Es geht ihm um die Erkenntnisse, die aus der literarischen Exhibition gewonnen werden können. Ohne Umstände wird die pathologische Basis freigelegt, die das dichterische Werk mit Kraftstoff versorgt hat, werden die Schmerzen reanimiert, die Wunden erneut geöffnet, die zu lindern, die zu verbinden die schöpferische Leistung einst die Aufgabe hatte.
Von Heldenverehrung bleibt da nicht viel. Goethes "Entsagung", seine Flucht jeweils, bevor es ernst hätte werden können mit Friederike Brion und Lili Schönemann und anderen - sie wird, Kurt Eissler folgend, vom Sockel geholt; sie sei das Resultat eines sexuellen Versagens, das Goethe zwang, Liebesnächte zu meiden, weil er die unausbleibliche Demütigung fürchtete. So wurde er zum Meister des erotischen Vorspiels, das erst in der Kunst zu Ende phantasiert wurde. Der Aufenthalt in Rom brachte bekanntlich die Erlösung, und Christiane Vulpius befestigte sie. Wie war solche Erlösung möglich? Was hat vorher den Eros verstört? Bildung, Stand, Intelligenz und hohe Erwartung. Mit einer klugen und sozial gleichberechtigten Frau hätte Goethe nicht schlafen können, des Erwartungsdrucks halber, der sich als vorzeitige Explosion auszuwirken die Heimtücke gehabt hat. Christiane hingegen war, so Wellershoff, eine einfache, sinnliche Frau, "die ihm keine Angst machte, ihn nicht beurteilte, ihm alle Freiheiten ließ, sich mit ihrer Randexistenz beschied und immer da war, wenn er sie brauchte". Das entspannt.
Der Bogen des Buches wölbt sich von Goethe über Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoi (glänzend!), Fontane, Proust, Nabokov und Joyce zu Updike, Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq. Wellershoff bringt sie alle wieder zum Leben, die alten Bekannten Julien Sorel, Emma Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Humbert Humbert und Lolita - indem er sie mit dem Fleisch und Blut ihrer Autoren ernährt. Der biographische Zugang wirkt dabei nie privatisierend, als wären die Werke nur Symptome kranker Einzelindividuen, sondern er legt unser aller Krankheiten, die Krankheiten der Epoche bloß. Der verstörte Eros gibt sich als ein Grundsymptom der modernen Befindlichkeit zu erkennen, ein galoppierendes zudem.
Die Pathologie des neunzehnten Jahrhunderts ist vergleichsweise idyllisch gegen die des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen erste Hälfte noch erträglich ist verglichen mit den Abgründen, die sich bei Jelinek und Houellebecq auftun. Die vollendete sexuelle Aufklärung hat auch das Unglück vollendet. Mit der öffentlichen Duldung aller sogenannten Perversitäten verwandelte sich der Sieg der sexuellen Revolution in einen drückenden Sollzustand. Sexuelle Erfüllung wird zur Leistungsnorm, daher paralysiert durch ständige Selbstbeobachtung und soziale Kontrolle. Wie schon beim Marquis de Sade - das Juliette-Kapitel aus Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" gehört zu Wellershoffs wichtigsten Inspirationstexten - potenziert sich der Krampf bis zur "Hölle des Masochismus", in der schließlich die widerlichsten Mittel erforderlich werden, um das abgestorbene Fleisch durch Qual noch einmal zum Leben zu erwecken.
Wie den Eros entstören, wie Freiheit, Zärtlichkeit und Gelassenheit wiederfinden? Wellershoff gibt kein Rezept, nur versteckte Hinweise. Eine seiner Heimlichkeiten lautet: Das Verhältnis zum Tod bestimmt das Verhältnis zum Eros. Die Angst vor dem Tod verstärkt den Zwang, dem Eros umfassende Erfüllung abzuverlangen. Gelassenheit gegenüber dem Tod hingegen zieht Gelassenheit auch im Erotischen nach sich. Erotisches Glück bewirkt umgekehrt Gelassenheit gegenüber dem Tod. Das Schlimmste ist Sterbenmüssen, ohne wirklich gelebt zu haben. Tod und Eros, sie bedingen einander auf beglückende und auf fatale Weise. Es gibt keinen methodisch begehbaren Weg zum Glück. Glück ist eine Art Gnade, heutzutage ziemlich unwahrscheinlich. Das sagt Wellershoff zwar nicht (sein Buch verwendet keine religiösen Begriffe), aber er zitiert Kierkegaard: "Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen, entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides."
Dieter Wellershoff: "Der verstörte Eros". Zur Literatur des Begehrens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 314 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2002Tausche Mutter gegen Buch
Dieter Wellershoff durchsucht die Literatur des Begehrens und findet den „Verstörten Eros”
Die männlichen Mitglieder der versprengten lesenden Welt sollten dieses Buch zur Kenntnis nehmen, es wird sie verwundern und erschrecken. Lichter werden ihnen aufgehen. Aber, schon wieder die Männer? So einseitig ist das nicht gemeint. Schließlich sind die Mütter Leuchtgestalten im Leben ihrer Söhne, Auslöser ihrer Kreativität, aber auch Auslöser ihres „verstörten Eros”. So jedenfalls entdeckt das Dieter Wellershoff bei den Schriftstellern und belegt in vielen Fällen seine These ziemlich gut.
Der Eros ist eine griechische Erfindung, die Jahrhunderte in Vergessenheit geriet und Deutschland auf dem Landweg über Frankreich, wo sein Ruf nicht besonders gut war, erreichte. In Diderots und d’Alemberts „Encyclopédie” findet sich unter der Eintragung „erotique” Verweise auf die Melancholie und andere ungesunde Erscheinungen. Ausdrücklich wird vor dem „délire érotique” und seiner Steigerungsform der „Satyriasis” gewarnt und strenge Diäten, Aderlässe und andere Reinigungsprozeduren verordnet. Diderot und d’Alembert selbst lassen die „erotique” nur in der Poesie, zum Beispiel als erotisches Chanson, zu. Auch in Johann Heinrich Zedlers zwischen 1732 und 1754 erschienenem „Universallexikon” ist der Eros eine gefährliche Grenzüberschreitung, und einhundertfünfzig Jahre später wird in der „Grande Encyclopédie” unter dem Stichwort „érotique” nur von Literatur, nicht vom Leben gesprochen. Erst 1980 wurden in der Pariser Bibliothèque Nationale die mit der Aufschrift „Enfer” im Giftschrank weggesperrten erotischen Texte des 19. Jahrhunderts für den normalen Leser zugänglich. Der Eros verstört, das konnte ihm auch Laura Croft, die Perfektgeburt des späten 20. Jahrhunderts, nicht austreiben.
Ich bin es nicht!
Dieter Wellershoff hat in seinem Leben schon viele Bücher geschrieben, doch der große Erfolg gelang ihm erst im vergangenen Jahr im sittlichen Alter von fünfundsiebzig Jahren mit seinem Roman „Liebeswunsch”. Der jetzt vorgelegte „Verstörte Eros”, eine aufregende literaturgeschichtliche Recherche, frei von Fußnoten und professoralem Umstand, aber nicht frei von profunder Kennerschaft, bohrt an den Wurzeln des „Liebeswunsches”, untersucht die Nähe erotischer Bücher der Weltliteratur zur Lebensgeschichte ihrer Autoren unter Berücksichtigung der fiktionalen Lizenz. Denn was wäre die Literatur ohne den Verstärker der „reinen” Erfindungen?
Bei den großen Interpreten des Gefühls, in den Romanen von Goethe, Flaubert, Tolstoi, Fontane, Proust, Thomas Mann, Lawrence, Miller, Bataille, Nabokov bis Houellebecq, von Elfriede Jelinek (als einzige weibliche Autorin) bis Harold Brodkey und Bret Easton Ellis untersucht Wellershoff die Antriebe der Produktivität, das Quecksilber im Thermometer, den Stachel im Fleisch. Er tut das ohne Sigmund Freud oder andere Therapeutika aus der psychoanalytische Ambulanz, aber nicht ohne ihre konstante Hilfe. Wellershoff spiegelt die Biographien an den Gewohnheiten der gesellschaftlichen Epoche. Weniges verabscheut der Schriftsteller mehr, als familiäre Erklärungsmuster, lieber sitzt er im Dunkeln unter der Tarnkappe und sagt, trotzig wie das Kind, nein, ich bin es nicht. Diese Kunst des Versteckens akzeptiert der Gentleman Wellershoff, aber er respektiert sie nicht.
Viel hat sich verändert in der Zeit zwischen Goethes weichem „Werther” und Michel Houellebecqs tristen Brüdern Bruno und Michel. Werther lässt sich vom Strom seiner Empfindungen für Lotte hinreissen. „Sie ist mir heilig”, beteuert er, „ich weiß nimmer wie mir ist. Wenn ich bei ihr bin, ist es als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte!” Zweihundertvierzehn Jahre später behauptet Houellebecqs Bruno, dass Männer unfähig sind, Liebe zu empfinden. „Das ist”, sagt in den „Elementarteilchen” Bruno zu seinem Bruder Michel, „ein Gefühl, das ihnen völlig fremd ist. Sie kennen nur Begierde, sexuelle Begierde der niedersten Art, und männliche Rivalität.”
Von Goethes hochgestimmter Gefühlskultur zu Houellebecqs Kapitulation sortieren Wellershoffs Analysen Zeiteinflüsse und privates Leben. Beides ist in die Werke eingegangen, verkleidet, verändert, aber doch zu erkennen. Der detektivische Wellershoff, der sich offen zu seinen lustvollen Voyeursaugen bekennt, ist auf angenehme Art gebildet und auf ebenso angenehme Art indiskret. Er findet und zitiert die „heißesten” Passagen, zweifellos hat sie Henry Miller geschrieben. Es ist immer wieder schön zu lesen, wie tief bürgerlich gedacht und konstruiert die Liebesehe ist. In den Sätzen der Autoren steht, was die Moral der Zeit erlaubt und was nicht.
Man kann sich darüber lustig machen, dass die Sprache im 18. Jahrhundert Blümchen streut und von Liebreiz säuselt, wenn von Sexualität die Rede ist, und dann liegt Ende des 20. Jahrhunderts Houllebeqs armer Bruno auf dem Rasen, konzentriert auf nichts als auf die Schamhaare einer Katholikin. „Es war eine Welt der Sanftheit. Er schlief wie ein Stein”. Klingt da über der eiskalt aufgeklärten Welt nicht das Echo eines alten Sehnsuchtstons, zischt da nicht eine Träne aus Werthers Augen auf Houllebeqs Campingkocher? „Die heilige Liebe”, so kommentiert Wellershoff Werthers Selbstmord, „scheitert an der Heiligkeit der Ehe”. Der Weg von der „züchtigen Hausfrau” zur befreiten Frau im Feriencamp führt über Selbstmorde, Selbstbehauptungen und Verleugnungen. Wellershoff entmystifiziert ohne Häme, er tut es gut und gerne. Zum Beispiel durch die Darstellung kultureller Differenzen.
Sieben Jahre nach dem „Werther” erschienen anonym in Paris „Les Liaisons dangereuses” und machten sofort als Skandalbuch Karriere. Choderlos de Laclos entfaltet sein Talent am Vorabend der Revolution für die Kunst der Intrige, keine Frau ist weiter von Schillers „häuslichem Herd” entfernt als die Marquise de Merteuil. Für den Grafen Valmont ist es eine Lächerlichkeit, verliebt zu sein, und so kann er nicht anders, als auf die Verführung das Nachspiel der Desillusionierung folgen zu lassen.
Auffallend wieviel sicherer sich Wellershoff in Goethes komplexem erotischen Arkadien fühlt, als beim intriganten Laclos oder bei Stendhal, dessen Aufsteigergeschichte „Rot und Schwarz” schon deshalb als erotisches Material brauchbar ist, weil sich der Nachname der Hauptfigur Julien Sorel rückwärts gelesen als l’eros entpuppt. Ob Goethes schönes Eigenlob, dass geniale Naturen eine wiederholte Pubertät erleben, während andere Leute, wie Goethe vier Jahre vor seinem Tod verächtlich seinem Eckermann anvertraute, „nur einmal jung sind”, etwas mit den „erotischen Erosionen” zu tun haben, die sich beim unbändig triebhaften achtunddreißigjährigen Goethe erst in den Armen einer römischen Trattoria-Wirtin lösten, muss nicht beantwortet werden.
Eindeutig ist, dass Goethes Ehe mit seinem „Bettschatz” Christiane, ihr Privatleben in Hinterzimmern Goethes Wellness war. Oft liegen die Schlüssel zu den Hintergründen der Hinterzimmer bei einer Lehrmeisterin wie Charlotte von Stein, missing link zwischen Mutter und Geliebter.
Muss der Balzac-Leser wissen, dass sich seine Aufsteigermutter einen Pappenstiel für das Kind interessierte und es der Frau eines Gendarmen überließ, oder ist es zum Verständnis des rabiaten Arbeiters Balzac ganz unerheblich? Balzac hatte sich die Selbstüberschreitung vorgenommen, das Pensum von 137 Romanen, von dem er „nur” 91 Romane schaffte, ist als Idee fixe eine ausreichende Antwort. Dazu kommt sein ironischer Ton, die Süffisanz mit der er die Frauen karikierte. Man versteht Balzac, der sich im Alter von vierundzwanzig Jahren in eine Mutter von neun Kindern, eine wohlhabende über zwanzig Jahre ältere Dame verliebte, nach dieser Vorgeschichte besser. Und dann verordnete er sich eine literarische „Hygiene”, mehr als eine halbe Stunde pro Jahr war für das Liebesleben nicht vorgesehen, Briefe jedoch ohne Einschränkung, „das bildet den Stil”.
Sich eine Verfassung geben
Gustave Flaubert führt die Ursachen der „moralischen Entartung” des ganzen 19. Jahrhunderts auf die übertriebene „Poetisierung” der Frau zurück. Die Frauen revoltieren, ihre Lösung muss ohne Argumente und Argumentationen auskommen. Flauberts „Madame Bovary” entfernt sich selbst aus den „langweiligen Feldern” ihres Lebens, auch Effi Briest beendet ihr Leben, still und höflich, was ihre Mutter zu der preußischen Frage veranlasst „Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen.?” Tolstois Anna Karenina legt sich unter den Zug, denn „alles...war gleichgültig geworden. Nur eines war noch notwendig: ‚ihn‘ zu bestrafen.”
Die Ehebrecherinnen bringen sich um. Die Mütter, die Leuchtgestalten, geben wie Flauberts Mutter ihre Söhne nicht frei, oder sie schlagen, wie Balzacs Mutter, den Besitz aus. Marcel Proust nennt die Nacht „süß”, in der er seine Mutter bei sich hatte. Aus der Symbiose mit der Mutter versuchte Proust sich durch eine nahezu inzestuösen Jagd nach Frauen, die alt genug waren, um seine Mutter zu sein, zu lösen. Dagegen steht Thomas Manns von Vernunft geleiteter Ausspruch, er habe geheiratet, um sich „eine Verfassung zu geben”. Henry Miller, der rabiate, zum Masochismus neigende Gefühlsmensch, der in seiner Kindheit von seiner Mutter verprügelt und verachtet wurde, wechselt die Ehefrauen wie Angestellte. Im Rückblick betrachtet, ist das Leben des Narziß Henry Miller die Bestätigung von Goethes Lob der ewigen Wiederkehr pubertärer Zustände. Vergleicht man Millers unbefangene, vor erotischer Phantasie platzende Sexszenen im „Wendekreis des Krebses” mit Houellebeqs lustfeindlichem Hochleistungssex, Harold Brodkeys klinischer Schilderung eines Orgasmus, John Updikes Analyse vorstädtischen Ehelebens, dann ist nur Miller die Ablösung von der puritanischen Sexualmoral gelungen.
Der blockierte depressive Narziß, Houllebecqs alter Ego, ist das von der Mutter vernachlässigte Kind. Es rächt sich, leidet und schreibt Romane, wird berühmt, aber weder glücklich noch frei. Werthers Sehnsuchtsrauschen ist noch da, wird aber weggedröhnt. Die Literatur des Begehrens hat ihre Sprache verändert, aber ihre Antriebswelle noch nicht ausgetauscht. Es ist wie im Märchen, das Zepter liegt in den Händen der guten und der schlechten Mutter. Houllebeqes Figuren sind schlimmer dran, als Goethes Personal. Man möchte nie wieder ins Fitness-Center gehen, aber endlich mal wieder in einen Park. Dieter Wellershoff beleuchtet die Hintergründe des verstörten Eros durch die literarischen Landschaften von zweihundertfünfzig Jahren. Er tut es zum Vergnügen des Lesers mit kluger Emphase, auch wenn er am Schluss fragt: „Oder täusche ich mich?”
VERENA AUFFERMANN
DIETER WELLERSHOFF: Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2001. 314 Seiten. 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Dieter Wellershoff durchsucht die Literatur des Begehrens und findet den „Verstörten Eros”
Die männlichen Mitglieder der versprengten lesenden Welt sollten dieses Buch zur Kenntnis nehmen, es wird sie verwundern und erschrecken. Lichter werden ihnen aufgehen. Aber, schon wieder die Männer? So einseitig ist das nicht gemeint. Schließlich sind die Mütter Leuchtgestalten im Leben ihrer Söhne, Auslöser ihrer Kreativität, aber auch Auslöser ihres „verstörten Eros”. So jedenfalls entdeckt das Dieter Wellershoff bei den Schriftstellern und belegt in vielen Fällen seine These ziemlich gut.
Der Eros ist eine griechische Erfindung, die Jahrhunderte in Vergessenheit geriet und Deutschland auf dem Landweg über Frankreich, wo sein Ruf nicht besonders gut war, erreichte. In Diderots und d’Alemberts „Encyclopédie” findet sich unter der Eintragung „erotique” Verweise auf die Melancholie und andere ungesunde Erscheinungen. Ausdrücklich wird vor dem „délire érotique” und seiner Steigerungsform der „Satyriasis” gewarnt und strenge Diäten, Aderlässe und andere Reinigungsprozeduren verordnet. Diderot und d’Alembert selbst lassen die „erotique” nur in der Poesie, zum Beispiel als erotisches Chanson, zu. Auch in Johann Heinrich Zedlers zwischen 1732 und 1754 erschienenem „Universallexikon” ist der Eros eine gefährliche Grenzüberschreitung, und einhundertfünfzig Jahre später wird in der „Grande Encyclopédie” unter dem Stichwort „érotique” nur von Literatur, nicht vom Leben gesprochen. Erst 1980 wurden in der Pariser Bibliothèque Nationale die mit der Aufschrift „Enfer” im Giftschrank weggesperrten erotischen Texte des 19. Jahrhunderts für den normalen Leser zugänglich. Der Eros verstört, das konnte ihm auch Laura Croft, die Perfektgeburt des späten 20. Jahrhunderts, nicht austreiben.
Ich bin es nicht!
Dieter Wellershoff hat in seinem Leben schon viele Bücher geschrieben, doch der große Erfolg gelang ihm erst im vergangenen Jahr im sittlichen Alter von fünfundsiebzig Jahren mit seinem Roman „Liebeswunsch”. Der jetzt vorgelegte „Verstörte Eros”, eine aufregende literaturgeschichtliche Recherche, frei von Fußnoten und professoralem Umstand, aber nicht frei von profunder Kennerschaft, bohrt an den Wurzeln des „Liebeswunsches”, untersucht die Nähe erotischer Bücher der Weltliteratur zur Lebensgeschichte ihrer Autoren unter Berücksichtigung der fiktionalen Lizenz. Denn was wäre die Literatur ohne den Verstärker der „reinen” Erfindungen?
Bei den großen Interpreten des Gefühls, in den Romanen von Goethe, Flaubert, Tolstoi, Fontane, Proust, Thomas Mann, Lawrence, Miller, Bataille, Nabokov bis Houellebecq, von Elfriede Jelinek (als einzige weibliche Autorin) bis Harold Brodkey und Bret Easton Ellis untersucht Wellershoff die Antriebe der Produktivität, das Quecksilber im Thermometer, den Stachel im Fleisch. Er tut das ohne Sigmund Freud oder andere Therapeutika aus der psychoanalytische Ambulanz, aber nicht ohne ihre konstante Hilfe. Wellershoff spiegelt die Biographien an den Gewohnheiten der gesellschaftlichen Epoche. Weniges verabscheut der Schriftsteller mehr, als familiäre Erklärungsmuster, lieber sitzt er im Dunkeln unter der Tarnkappe und sagt, trotzig wie das Kind, nein, ich bin es nicht. Diese Kunst des Versteckens akzeptiert der Gentleman Wellershoff, aber er respektiert sie nicht.
Viel hat sich verändert in der Zeit zwischen Goethes weichem „Werther” und Michel Houellebecqs tristen Brüdern Bruno und Michel. Werther lässt sich vom Strom seiner Empfindungen für Lotte hinreissen. „Sie ist mir heilig”, beteuert er, „ich weiß nimmer wie mir ist. Wenn ich bei ihr bin, ist es als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte!” Zweihundertvierzehn Jahre später behauptet Houellebecqs Bruno, dass Männer unfähig sind, Liebe zu empfinden. „Das ist”, sagt in den „Elementarteilchen” Bruno zu seinem Bruder Michel, „ein Gefühl, das ihnen völlig fremd ist. Sie kennen nur Begierde, sexuelle Begierde der niedersten Art, und männliche Rivalität.”
Von Goethes hochgestimmter Gefühlskultur zu Houellebecqs Kapitulation sortieren Wellershoffs Analysen Zeiteinflüsse und privates Leben. Beides ist in die Werke eingegangen, verkleidet, verändert, aber doch zu erkennen. Der detektivische Wellershoff, der sich offen zu seinen lustvollen Voyeursaugen bekennt, ist auf angenehme Art gebildet und auf ebenso angenehme Art indiskret. Er findet und zitiert die „heißesten” Passagen, zweifellos hat sie Henry Miller geschrieben. Es ist immer wieder schön zu lesen, wie tief bürgerlich gedacht und konstruiert die Liebesehe ist. In den Sätzen der Autoren steht, was die Moral der Zeit erlaubt und was nicht.
Man kann sich darüber lustig machen, dass die Sprache im 18. Jahrhundert Blümchen streut und von Liebreiz säuselt, wenn von Sexualität die Rede ist, und dann liegt Ende des 20. Jahrhunderts Houllebeqs armer Bruno auf dem Rasen, konzentriert auf nichts als auf die Schamhaare einer Katholikin. „Es war eine Welt der Sanftheit. Er schlief wie ein Stein”. Klingt da über der eiskalt aufgeklärten Welt nicht das Echo eines alten Sehnsuchtstons, zischt da nicht eine Träne aus Werthers Augen auf Houllebeqs Campingkocher? „Die heilige Liebe”, so kommentiert Wellershoff Werthers Selbstmord, „scheitert an der Heiligkeit der Ehe”. Der Weg von der „züchtigen Hausfrau” zur befreiten Frau im Feriencamp führt über Selbstmorde, Selbstbehauptungen und Verleugnungen. Wellershoff entmystifiziert ohne Häme, er tut es gut und gerne. Zum Beispiel durch die Darstellung kultureller Differenzen.
Sieben Jahre nach dem „Werther” erschienen anonym in Paris „Les Liaisons dangereuses” und machten sofort als Skandalbuch Karriere. Choderlos de Laclos entfaltet sein Talent am Vorabend der Revolution für die Kunst der Intrige, keine Frau ist weiter von Schillers „häuslichem Herd” entfernt als die Marquise de Merteuil. Für den Grafen Valmont ist es eine Lächerlichkeit, verliebt zu sein, und so kann er nicht anders, als auf die Verführung das Nachspiel der Desillusionierung folgen zu lassen.
Auffallend wieviel sicherer sich Wellershoff in Goethes komplexem erotischen Arkadien fühlt, als beim intriganten Laclos oder bei Stendhal, dessen Aufsteigergeschichte „Rot und Schwarz” schon deshalb als erotisches Material brauchbar ist, weil sich der Nachname der Hauptfigur Julien Sorel rückwärts gelesen als l’eros entpuppt. Ob Goethes schönes Eigenlob, dass geniale Naturen eine wiederholte Pubertät erleben, während andere Leute, wie Goethe vier Jahre vor seinem Tod verächtlich seinem Eckermann anvertraute, „nur einmal jung sind”, etwas mit den „erotischen Erosionen” zu tun haben, die sich beim unbändig triebhaften achtunddreißigjährigen Goethe erst in den Armen einer römischen Trattoria-Wirtin lösten, muss nicht beantwortet werden.
Eindeutig ist, dass Goethes Ehe mit seinem „Bettschatz” Christiane, ihr Privatleben in Hinterzimmern Goethes Wellness war. Oft liegen die Schlüssel zu den Hintergründen der Hinterzimmer bei einer Lehrmeisterin wie Charlotte von Stein, missing link zwischen Mutter und Geliebter.
Muss der Balzac-Leser wissen, dass sich seine Aufsteigermutter einen Pappenstiel für das Kind interessierte und es der Frau eines Gendarmen überließ, oder ist es zum Verständnis des rabiaten Arbeiters Balzac ganz unerheblich? Balzac hatte sich die Selbstüberschreitung vorgenommen, das Pensum von 137 Romanen, von dem er „nur” 91 Romane schaffte, ist als Idee fixe eine ausreichende Antwort. Dazu kommt sein ironischer Ton, die Süffisanz mit der er die Frauen karikierte. Man versteht Balzac, der sich im Alter von vierundzwanzig Jahren in eine Mutter von neun Kindern, eine wohlhabende über zwanzig Jahre ältere Dame verliebte, nach dieser Vorgeschichte besser. Und dann verordnete er sich eine literarische „Hygiene”, mehr als eine halbe Stunde pro Jahr war für das Liebesleben nicht vorgesehen, Briefe jedoch ohne Einschränkung, „das bildet den Stil”.
Sich eine Verfassung geben
Gustave Flaubert führt die Ursachen der „moralischen Entartung” des ganzen 19. Jahrhunderts auf die übertriebene „Poetisierung” der Frau zurück. Die Frauen revoltieren, ihre Lösung muss ohne Argumente und Argumentationen auskommen. Flauberts „Madame Bovary” entfernt sich selbst aus den „langweiligen Feldern” ihres Lebens, auch Effi Briest beendet ihr Leben, still und höflich, was ihre Mutter zu der preußischen Frage veranlasst „Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen.?” Tolstois Anna Karenina legt sich unter den Zug, denn „alles...war gleichgültig geworden. Nur eines war noch notwendig: ‚ihn‘ zu bestrafen.”
Die Ehebrecherinnen bringen sich um. Die Mütter, die Leuchtgestalten, geben wie Flauberts Mutter ihre Söhne nicht frei, oder sie schlagen, wie Balzacs Mutter, den Besitz aus. Marcel Proust nennt die Nacht „süß”, in der er seine Mutter bei sich hatte. Aus der Symbiose mit der Mutter versuchte Proust sich durch eine nahezu inzestuösen Jagd nach Frauen, die alt genug waren, um seine Mutter zu sein, zu lösen. Dagegen steht Thomas Manns von Vernunft geleiteter Ausspruch, er habe geheiratet, um sich „eine Verfassung zu geben”. Henry Miller, der rabiate, zum Masochismus neigende Gefühlsmensch, der in seiner Kindheit von seiner Mutter verprügelt und verachtet wurde, wechselt die Ehefrauen wie Angestellte. Im Rückblick betrachtet, ist das Leben des Narziß Henry Miller die Bestätigung von Goethes Lob der ewigen Wiederkehr pubertärer Zustände. Vergleicht man Millers unbefangene, vor erotischer Phantasie platzende Sexszenen im „Wendekreis des Krebses” mit Houellebeqs lustfeindlichem Hochleistungssex, Harold Brodkeys klinischer Schilderung eines Orgasmus, John Updikes Analyse vorstädtischen Ehelebens, dann ist nur Miller die Ablösung von der puritanischen Sexualmoral gelungen.
Der blockierte depressive Narziß, Houllebecqs alter Ego, ist das von der Mutter vernachlässigte Kind. Es rächt sich, leidet und schreibt Romane, wird berühmt, aber weder glücklich noch frei. Werthers Sehnsuchtsrauschen ist noch da, wird aber weggedröhnt. Die Literatur des Begehrens hat ihre Sprache verändert, aber ihre Antriebswelle noch nicht ausgetauscht. Es ist wie im Märchen, das Zepter liegt in den Händen der guten und der schlechten Mutter. Houllebeqes Figuren sind schlimmer dran, als Goethes Personal. Man möchte nie wieder ins Fitness-Center gehen, aber endlich mal wieder in einen Park. Dieter Wellershoff beleuchtet die Hintergründe des verstörten Eros durch die literarischen Landschaften von zweihundertfünfzig Jahren. Er tut es zum Vergnügen des Lesers mit kluger Emphase, auch wenn er am Schluss fragt: „Oder täusche ich mich?”
VERENA AUFFERMANN
DIETER WELLERSHOFF: Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2001. 314 Seiten. 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die sexuellen Spielarten diesseits der Liebe und jenseits der Lüste sind fast alle erkundet, übriggeblieben seien nurmehr die Schwundstufen der Sexualität, glaubt Rezensent Werner Jung und freut sich daher um so mehr, dass nach Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq wieder ein Realist vom Schlage Dieter Wellershoff sich des Themas angenommen hat. Leider kann man der Freude des Rezensenten nicht ganz folgen, da sein Text nicht nur bemerkenswert unsinnlich ist, sondern auch ziemlich umständlich geschrieben. So viel zumindest wird klar: In dem Essay "Der verstörte Eros" diskutiert Wellershoff die romantische Liebe anhand einer Vielzahl klassischer und kanonischer Texte und liefert "filigrane" Interpretationen zu Texten des 20. Jahrhunderts. Wellershoff zeige, schreibt Jung etwa, "wie sich das Themenbündel Liebe, Sexualität, Ehe samt Ehebruch, nachdem die aufklärerische Idee einer partnerschaftlichen Beziehung mit der Entdeckung der Empfindsamkeit und der nachmaligen (zunächst noch sympathischen) Vorstellung einer romantischen Liebe aufgegeben worden war zugunsten hypertropher Ideologeme, mäandernd durch die europäische Literatur zog".
© Perlentaucher Medien GmbH
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