Dieter Wellershoff folgt der Darstellung von Liebe und Leidenschaft, Verführung und Ehebruch in exemplarischen Werken der Literatur der letzten zweihundert Jahre, wobei er das Werk und die jeweilige Lebensgeschichte der Autoren, von Goethe bis Houllebecq, spannend und hellsichtig miteinander verknüpft. Die klassischen Themen Liebe und Leidenschaft, Verführung und Ehebruch haben in den großen Romanen und Erzählungen der letzten zweihundert Jahre einen Ausdruck gefunden, der deutlicher als alle anderen Zeugnisse einen tiefgreifenden Wandel erkennen lässt. In immer neuen Schüben wurde die Bindung des Begehrens an Rituale und seine Kanalisierung durch Ehe und Moral von dem Wunsch nach uneingeschränkter Erfüllung gesprengt. Doch das Glück, das in diesem Prozess versprochen war, scheint immer weniger zu gelingen. In seinem neuen Buch, das ihn in gleicher Weise als brillanten Literaturkenner und Menschenbeobachter ausweist, folgt Dieter Wellershoff an beispielhaften Werken der Spur des Begehrens in der Literatur von Goethes Leiden des jungen Werthers bis zu Michel Houellebecqs Elementarteilchen. Er verbindet in vielfältiger wechselseitiger Spiegelung Werk, individuelle Lebensgeschichte und Zeitgeschichte und lässt die Autoren und ihre Darstellung des Sexuellen, ihre Obsessionen und Verstörungen nah und anschaulich vor uns erstehen, von Stendhal bis Henry Miller, von Marcel Proust bis D.H. Lawrence: Literatur mit Bodenhaftung und Liebende im trügerischen Licht der Illusion.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2001Die Krankheit heißt Emma Bovary oder Lolita
Vom Krampf der Lust: Dieter Wellershoff untersucht die Verstörungen des Eros in der Literatur ·Von Hermann Kurzke
Die Literatur ist eben doch mehr als das Leben. Wer das alles wirklich aushalten müßte, was er als Leser bequem in der Sofaecke erleben kann, o je! In wie vielen Pfützen müßte der gelegen haben!
Dieter Wellershoff, inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, kartographiert für uns einige dieser Pfützen. Ein skeptischer Aufklärer, versagt er sich jeden falschen Trost. Von unermüdlicher Produktivität (also von irgendeinem Furor geplagt), überrascht er, nachdem er doch erst im letzten Jahr mit "Der Liebeswunsch" einen großen Roman vorgelegt hat, nun mit etwas Ungemütlichem, mit einem essayistischen Werk über die Verstörungen des Eros in der Literatur der letzten beiden Jahrhunderte. Es ist ein packendes, ein zupackendes, ein umschweiflos ins Schwarze des Sexualakts zielendes Buch.
Daß Literaten ihr Innerstes preisgeben, mehr oder weniger versteckt, macht ihr Leben und ihr Werk zu einer Quelle, die viel tiefere Erkenntnisse erlaubt als die empirische Seelenkunde und Sexualforschung. Wellershoff geht nicht lieblos, aber doch schonungslos mit den Dichtern und Dichterinnen um. Diskretionsrücksichten kennt er nicht. Es geht ihm um die Erkenntnisse, die aus der literarischen Exhibition gewonnen werden können. Ohne Umstände wird die pathologische Basis freigelegt, die das dichterische Werk mit Kraftstoff versorgt hat, werden die Schmerzen reanimiert, die Wunden erneut geöffnet, die zu lindern, die zu verbinden die schöpferische Leistung einst die Aufgabe hatte.
Von Heldenverehrung bleibt da nicht viel. Goethes "Entsagung", seine Flucht jeweils, bevor es ernst hätte werden können mit Friederike Brion und Lili Schönemann und anderen - sie wird, Kurt Eissler folgend, vom Sockel geholt; sie sei das Resultat eines sexuellen Versagens, das Goethe zwang, Liebesnächte zu meiden, weil er die unausbleibliche Demütigung fürchtete. So wurde er zum Meister des erotischen Vorspiels, das erst in der Kunst zu Ende phantasiert wurde. Der Aufenthalt in Rom brachte bekanntlich die Erlösung, und Christiane Vulpius befestigte sie. Wie war solche Erlösung möglich? Was hat vorher den Eros verstört? Bildung, Stand, Intelligenz und hohe Erwartung. Mit einer klugen und sozial gleichberechtigten Frau hätte Goethe nicht schlafen können, des Erwartungsdrucks halber, der sich als vorzeitige Explosion auszuwirken die Heimtücke gehabt hat. Christiane hingegen war, so Wellershoff, eine einfache, sinnliche Frau, "die ihm keine Angst machte, ihn nicht beurteilte, ihm alle Freiheiten ließ, sich mit ihrer Randexistenz beschied und immer da war, wenn er sie brauchte". Das entspannt.
Der Bogen des Buches wölbt sich von Goethe über Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoi (glänzend!), Fontane, Proust, Nabokov und Joyce zu Updike, Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq. Wellershoff bringt sie alle wieder zum Leben, die alten Bekannten Julien Sorel, Emma Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Humbert Humbert und Lolita - indem er sie mit dem Fleisch und Blut ihrer Autoren ernährt. Der biographische Zugang wirkt dabei nie privatisierend, als wären die Werke nur Symptome kranker Einzelindividuen, sondern er legt unser aller Krankheiten, die Krankheiten der Epoche bloß. Der verstörte Eros gibt sich als ein Grundsymptom der modernen Befindlichkeit zu erkennen, ein galoppierendes zudem.
Die Pathologie des neunzehnten Jahrhunderts ist vergleichsweise idyllisch gegen die des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen erste Hälfte noch erträglich ist verglichen mit den Abgründen, die sich bei Jelinek und Houellebecq auftun. Die vollendete sexuelle Aufklärung hat auch das Unglück vollendet. Mit der öffentlichen Duldung aller sogenannten Perversitäten verwandelte sich der Sieg der sexuellen Revolution in einen drückenden Sollzustand. Sexuelle Erfüllung wird zur Leistungsnorm, daher paralysiert durch ständige Selbstbeobachtung und soziale Kontrolle. Wie schon beim Marquis de Sade - das Juliette-Kapitel aus Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" gehört zu Wellershoffs wichtigsten Inspirationstexten - potenziert sich der Krampf bis zur "Hölle des Masochismus", in der schließlich die widerlichsten Mittel erforderlich werden, um das abgestorbene Fleisch durch Qual noch einmal zum Leben zu erwecken.
Wie den Eros entstören, wie Freiheit, Zärtlichkeit und Gelassenheit wiederfinden? Wellershoff gibt kein Rezept, nur versteckte Hinweise. Eine seiner Heimlichkeiten lautet: Das Verhältnis zum Tod bestimmt das Verhältnis zum Eros. Die Angst vor dem Tod verstärkt den Zwang, dem Eros umfassende Erfüllung abzuverlangen. Gelassenheit gegenüber dem Tod hingegen zieht Gelassenheit auch im Erotischen nach sich. Erotisches Glück bewirkt umgekehrt Gelassenheit gegenüber dem Tod. Das Schlimmste ist Sterbenmüssen, ohne wirklich gelebt zu haben. Tod und Eros, sie bedingen einander auf beglückende und auf fatale Weise. Es gibt keinen methodisch begehbaren Weg zum Glück. Glück ist eine Art Gnade, heutzutage ziemlich unwahrscheinlich. Das sagt Wellershoff zwar nicht (sein Buch verwendet keine religiösen Begriffe), aber er zitiert Kierkegaard: "Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen, entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides."
Dieter Wellershoff: "Der verstörte Eros". Zur Literatur des Begehrens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 314 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Krampf der Lust: Dieter Wellershoff untersucht die Verstörungen des Eros in der Literatur ·Von Hermann Kurzke
Die Literatur ist eben doch mehr als das Leben. Wer das alles wirklich aushalten müßte, was er als Leser bequem in der Sofaecke erleben kann, o je! In wie vielen Pfützen müßte der gelegen haben!
Dieter Wellershoff, inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, kartographiert für uns einige dieser Pfützen. Ein skeptischer Aufklärer, versagt er sich jeden falschen Trost. Von unermüdlicher Produktivität (also von irgendeinem Furor geplagt), überrascht er, nachdem er doch erst im letzten Jahr mit "Der Liebeswunsch" einen großen Roman vorgelegt hat, nun mit etwas Ungemütlichem, mit einem essayistischen Werk über die Verstörungen des Eros in der Literatur der letzten beiden Jahrhunderte. Es ist ein packendes, ein zupackendes, ein umschweiflos ins Schwarze des Sexualakts zielendes Buch.
Daß Literaten ihr Innerstes preisgeben, mehr oder weniger versteckt, macht ihr Leben und ihr Werk zu einer Quelle, die viel tiefere Erkenntnisse erlaubt als die empirische Seelenkunde und Sexualforschung. Wellershoff geht nicht lieblos, aber doch schonungslos mit den Dichtern und Dichterinnen um. Diskretionsrücksichten kennt er nicht. Es geht ihm um die Erkenntnisse, die aus der literarischen Exhibition gewonnen werden können. Ohne Umstände wird die pathologische Basis freigelegt, die das dichterische Werk mit Kraftstoff versorgt hat, werden die Schmerzen reanimiert, die Wunden erneut geöffnet, die zu lindern, die zu verbinden die schöpferische Leistung einst die Aufgabe hatte.
Von Heldenverehrung bleibt da nicht viel. Goethes "Entsagung", seine Flucht jeweils, bevor es ernst hätte werden können mit Friederike Brion und Lili Schönemann und anderen - sie wird, Kurt Eissler folgend, vom Sockel geholt; sie sei das Resultat eines sexuellen Versagens, das Goethe zwang, Liebesnächte zu meiden, weil er die unausbleibliche Demütigung fürchtete. So wurde er zum Meister des erotischen Vorspiels, das erst in der Kunst zu Ende phantasiert wurde. Der Aufenthalt in Rom brachte bekanntlich die Erlösung, und Christiane Vulpius befestigte sie. Wie war solche Erlösung möglich? Was hat vorher den Eros verstört? Bildung, Stand, Intelligenz und hohe Erwartung. Mit einer klugen und sozial gleichberechtigten Frau hätte Goethe nicht schlafen können, des Erwartungsdrucks halber, der sich als vorzeitige Explosion auszuwirken die Heimtücke gehabt hat. Christiane hingegen war, so Wellershoff, eine einfache, sinnliche Frau, "die ihm keine Angst machte, ihn nicht beurteilte, ihm alle Freiheiten ließ, sich mit ihrer Randexistenz beschied und immer da war, wenn er sie brauchte". Das entspannt.
Der Bogen des Buches wölbt sich von Goethe über Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoi (glänzend!), Fontane, Proust, Nabokov und Joyce zu Updike, Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq. Wellershoff bringt sie alle wieder zum Leben, die alten Bekannten Julien Sorel, Emma Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Humbert Humbert und Lolita - indem er sie mit dem Fleisch und Blut ihrer Autoren ernährt. Der biographische Zugang wirkt dabei nie privatisierend, als wären die Werke nur Symptome kranker Einzelindividuen, sondern er legt unser aller Krankheiten, die Krankheiten der Epoche bloß. Der verstörte Eros gibt sich als ein Grundsymptom der modernen Befindlichkeit zu erkennen, ein galoppierendes zudem.
Die Pathologie des neunzehnten Jahrhunderts ist vergleichsweise idyllisch gegen die des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen erste Hälfte noch erträglich ist verglichen mit den Abgründen, die sich bei Jelinek und Houellebecq auftun. Die vollendete sexuelle Aufklärung hat auch das Unglück vollendet. Mit der öffentlichen Duldung aller sogenannten Perversitäten verwandelte sich der Sieg der sexuellen Revolution in einen drückenden Sollzustand. Sexuelle Erfüllung wird zur Leistungsnorm, daher paralysiert durch ständige Selbstbeobachtung und soziale Kontrolle. Wie schon beim Marquis de Sade - das Juliette-Kapitel aus Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" gehört zu Wellershoffs wichtigsten Inspirationstexten - potenziert sich der Krampf bis zur "Hölle des Masochismus", in der schließlich die widerlichsten Mittel erforderlich werden, um das abgestorbene Fleisch durch Qual noch einmal zum Leben zu erwecken.
Wie den Eros entstören, wie Freiheit, Zärtlichkeit und Gelassenheit wiederfinden? Wellershoff gibt kein Rezept, nur versteckte Hinweise. Eine seiner Heimlichkeiten lautet: Das Verhältnis zum Tod bestimmt das Verhältnis zum Eros. Die Angst vor dem Tod verstärkt den Zwang, dem Eros umfassende Erfüllung abzuverlangen. Gelassenheit gegenüber dem Tod hingegen zieht Gelassenheit auch im Erotischen nach sich. Erotisches Glück bewirkt umgekehrt Gelassenheit gegenüber dem Tod. Das Schlimmste ist Sterbenmüssen, ohne wirklich gelebt zu haben. Tod und Eros, sie bedingen einander auf beglückende und auf fatale Weise. Es gibt keinen methodisch begehbaren Weg zum Glück. Glück ist eine Art Gnade, heutzutage ziemlich unwahrscheinlich. Das sagt Wellershoff zwar nicht (sein Buch verwendet keine religiösen Begriffe), aber er zitiert Kierkegaard: "Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen, entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides."
Dieter Wellershoff: "Der verstörte Eros". Zur Literatur des Begehrens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 314 S., geb., 39,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die sexuellen Spielarten diesseits der Liebe und jenseits der Lüste sind fast alle erkundet, übriggeblieben seien nurmehr die Schwundstufen der Sexualität, glaubt Rezensent Werner Jung und freut sich daher um so mehr, dass nach Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq wieder ein Realist vom Schlage Dieter Wellershoff sich des Themas angenommen hat. Leider kann man der Freude des Rezensenten nicht ganz folgen, da sein Text nicht nur bemerkenswert unsinnlich ist, sondern auch ziemlich umständlich geschrieben. So viel zumindest wird klar: In dem Essay "Der verstörte Eros" diskutiert Wellershoff die romantische Liebe anhand einer Vielzahl klassischer und kanonischer Texte und liefert "filigrane" Interpretationen zu Texten des 20. Jahrhunderts. Wellershoff zeige, schreibt Jung etwa, "wie sich das Themenbündel Liebe, Sexualität, Ehe samt Ehebruch, nachdem die aufklärerische Idee einer partnerschaftlichen Beziehung mit der Entdeckung der Empfindsamkeit und der nachmaligen (zunächst noch sympathischen) Vorstellung einer romantischen Liebe aufgegeben worden war zugunsten hypertropher Ideologeme, mäandernd durch die europäische Literatur zog".
© Perlentaucher Medien GmbH
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