Julien Gracqs zweiter Roman Un beau ténébreux wurde 1945 veröffentlicht und erscheint nun, fast 70 Jahre später, als letzter seiner großen Prosatexte zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.Ein vornehmes Strandhotel in der Bretagne. Unter den Gästen der Literaturwissenschaftler Gérard, der an einer Studie über Rimbaud arbeitet und uns in seinem Tagebuch über die anderen Gäste informiert. Die träge Ferienstimmung verändert sich mit einem Schlag, als ein neuer, faszinierender, intelligenter wie schöner Gast in Begleitung einer ebenso schönen Frau auftaucht, die Anwesenden in seinen Bann zieht und die Anordnung der Paare und die Ordnung der Gefühle durcheinanderbringt.Gracq greift die von den Surrealisten geführte Debatte um den Selbstmord auf und verwandelt sie in ein philosophisch-romanhaftes Geschehen. Aber nicht nur der Surrealismus wird evoziert, sondern zahlreiche weitere intertextuelle Verweise auf die französische und die deutsche Literatur durchziehen den Roman. Vor allem aber ist Gracq in diesem Werk bereits der Meister der atmosphärischen Landschaftsschilderungen, der ungewissen Stimmungen, einer Naturromantik von enormer Intensität, bei der Präzision und Phantasie untrennbar ineinander verwoben sind.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Julien Gracqs nun auf Deutsch vorliegender Roman "Der Versucher" von 1949 hat bei Hans T. Siepe einen ambivalenten Eindruck hinterlassen. Thematisch und stilistisch findet er das Buch um eine Gruppe von jungen Leuten in einem bretonischen Badeort, die durch die Ankunft eines geheimnisvollen Paares, das einen Suizid plant, irritiert wird, vor allem "sonderbar". Der Roman scheint ihm voll von Anspielungen, Bezügen und Zitaten und in vieler Hinsicht unbestimmt. Andererseits schätzt er die eindrucksvollen Beschreibungen von Stimmungen und Landschaften, die neben Passagen theatralischer und gespreizter Prosa stehen. Siepe sieht in dem Werk ein Buch, auf das man sich als Leser einlassen können muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2014Schöne Menschen im Hotel
Wahlverwandtschaften vor bretonischer Kulisse: Julien Gracqs zweiter Roman "Der Versucher", der erstmals 1945 erschien, liegt jetzt auf Deutsch vor. Er erzählt von einer Feriengesellschaft, die durch die Ankunft eines Fremden gespalten wird.
Meine Figuren haben gewiss kaum eine ,Psychologie'. Ich bin nicht sehr angezogen vom psychologischen Roman", hat Julien Gracq 1981 in einem Gespräch mit Jean Roudaut geäußert, und: "Wenn mich diese Art von Roman interessiert, dann gerade aufgrund seiner Mechanismen, durch den völlig beliebigen Einfallsreichtum seiner Erfindung."
Diese Sätze sind hilfreich bei der Lektüre von "Un beau ténébreux", Gracqs 1945 publiziertem zweitem Roman, der unter dem Titel "Der Versucher" jetzt erstmals ins Deutsche übertragen wurde, auch diesmal wieder von Dieter Hornig, der in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr zur deutschen Stimme von Gracq geworden ist und das vorliegende Buch auch mit einem Nachwort versehen hat. Denn was hier zu lesen ist, liest sich in mancher Hinsicht doch auf irritierende Art anders als die Prosa, die wir sonst von Gracq kennen, auch wenn es stilistisch hier und da leichte Anklänge an "Das Ufer der Syrten" geben mag.
Zwar hat Gracq auch diesmal keinen psychologischen Roman geschrieben, aber er hat in dessen "beliebigem Einfallsreichtum" nach Herzenslust gewildert. Er schafft zunächst eine Grundsituation, die auf Konflikte und dramatische Lösungen hinauslaufen muss. In einem gehobenen Strandhotel in der Bretagne findet sich eine Gruppe von jüngeren Feriengästen, unter ihnen der Literaturwissenschaftler Gérard, dessen Aufzeichnungen den ersten Teil des Buches bilden (den zweiten übernimmt ein quasi auktorialer Erzähler). Er ist hier, um an einer Studie über Rimbaud zu arbeiten und wundert sich, "mit welchem Erfolg dieser Literat - ich kann diesen Begriff auf Wunsch erläutern - in unserer Zeit die Rolle eines Passepartout spielt, eines ,Mittelsmanns für Suchende und Wissbegierige', über die er, hätte man sie ihm vorausgesagt, ganz schön gelacht hätte".
Kontakt hat er zu einem jungen Ehepaar, einer sehr jungen höheren Tochter und zwei männlichen Feriengästen, Jacques und Gregory, von denen Letzterer bald abreist. Er notiert, durchaus "psychologisch", seine Beobachtungen über dieses Beziehungsgeflecht und beschreibt darüber hinaus, schon ganz und gar in der unverwechselbaren Gracqschen Manier, die landschaftlichen Formationen der näheren Umgebung und die Stimmungen, die die Feriensituation und das Hotel verbreiten, so auch sein Zimmer: "Fast immer, wenn ich eintrete, herrscht, denn der Service ist gewissenhaft, das Halbdunkel eines Sommers in der Provinz."
In dieses Halbdunkel bricht nun plötzlich die Ankunft eines neuen Paars ein, Allan (ein Franzose, aber mit englischen Wurzeln) und Dolores, "er ein Bild der Kraft und der Gewandtheit", sie "schön wie in einem Traum", zwei Menschen, die plötzliche Stille bei den anderen Gästen hervorrufen, als sie den Speisesaal des Hotels betreten, nicht, weil sie neu sind, sondern weil sie eine gleichsam überirdische Aura haben. Ein beau ténébreux ist im Französischen eigentlich ein schöner, dunkler Jüngling, spanisch gewissermaßen, also eine Art Latin Lover.
Die deutsche Übertragung des Titels ist dennoch zutreffend, weil Allan keineswegs auf seine äußere Erscheinung zu reduzieren ist. Zur äußeren Erscheinung von Romanfiguren hat sich Gracq in dem schon genannten Gespräch grundsätzlich so geäußert: "Was den körperlichen Aspekt der Figuren betrifft, so darf der Romanschriftsteller keine Illusionen haben: Der Leser selbst entscheidet über das Bild, das er sich von ihnen macht."
Allan ist neben seiner Schönheit vor allem derjenige, der durch seine Anwesenheit eine neue Situation schafft. Gérard ahnt, "dass in seiner Vorstellung das Leben mit Gewalt verbunden ist". Er spaltet den Kreis der Feriengäste und ordnet ihn gleichsam neu. Hier scheint die Konstellation der "Wahlverwandtschaften" nicht nur auf, sie wird im Gespräch zwischen Gérard und Henri, dem jungen Ehemann, direkt angesprochen. "Ich glaube nun doch nicht . . ., dass Sie diesen alten Scherz ernst nehmen", sagt Henri. "Goethe hat ihn, um sich zu amüsieren, ganz hinten in den Öfen und Retorten der Boudoirs der Aufklärung aufgelesen. Und übrigens einen recht langweiligen Roman daraus gemacht."
Die Gewalt nimmt im Fortlauf des Romans bei Allan mehr und mehr die Form des gezielten Zutreibens auf den eigenen Untergang an. Die Szene verdüstert sich zusehends. Der kleine Kreis bleibt weit über die Saison hinaus im Hotel, gewissermaßen, um die Katastrophe nicht zu verpassen. Mehr muss hier nicht verraten werden.
Aus dieser Situation hat Gracq ein Kammerspiel gemacht, ohne immer das Format zu wahren. Das Buch hat nicht die formale Strenge seiner späteren erzählenden Werke, denkt man etwa an solche Kostbarkeiten wie "Ein Balkon im Wald" oder "Die Halbinsel". Besonders auffällig ist die ganz ungewohnte Fülle der Dialoge in diesem Roman, die Hornig in seinem Nachwort zu Recht als "mitunter weit ausholend, mitunter theatralisch konzipiert" bezeichnet. Vor allem das Gespräch zwischen Gérard und Allan, mit dem der erste Teil endet, zieht sich über zwanzig Seiten hin, auf denen zwei Männer gleichsam auf der Bühne spazieren - hier auf einem Landstreifen direkt am Meer, der auf der Landseite durch eine Granitwand begrenzt wird - und sich gegenseitig die Stichworte für den je eigenen Einsatz geben.
Gracq selbst hat ziemlich am Anfang des Buchs die Interpretationshilfe für diese Art von Gespräch geliefert, die sich im Buch immer wieder findet: "Der Dialog ist mir übrigens immer - in neun von zehn Fällen - wie ein kaum gesteuerter Monolog vorgekommen, immer hat einer, von seinen Dämonen heimgesucht, das Szepter in der Hand, wie das in den eleganten Salons hieß." Genau das trifft auf die langen Gespräche zu, an denen dieser Roman nicht arm ist. Es hat gewissermaßen jeder in diesem Buch einmal seinen großen Auftritt vor einem Zuhörer.
Julien Gracq ist zudem verschwenderisch mit Anspielungen und intertextuellen Verweisen. Intertextualität ist bei diesem belesenen Autor natürlich nichts Neues und findet sich in allen seinen Werken. Im vorliegenden Roman aber wird sie gleichsam in alle Richtungen gestreut, und alle kommen einmal dran: Goethe, Poe, Shakespeare, Balzac und selbstverständlich auch Rimbaud, über den Gérard ja "arbeitet". Nicht alle diese Verweise können ihre zwingende Notwendigkeit nachweisen, manches erscheint beliebig. Julien Gracq, dessen Werk fast völlig frei von jeglicher Arabeske ist, entkommt ihr in diesem Roman manchmal nicht, und das schafft dessen merkwürdig disparaten Charakter. Hornig weist darauf hin, dass das Buch "Register anschlägt, die Gracq später sorgsam vermeidet", nämlich "Tragik und Spott, Leidenschaft und ironische Distanz".
Bezeichnenderweise hört die Arabeske sofort auf, wenn die Erzählung die Figuren verlässt und sich der nichthumanen, physischen Welt zuwendet. "Ich bin oft recht verblüfft darüber, wie wenig Raum im französischen Roman die Außenwelt einnimmt", hat Gracq in dem Gespräch mit Roudaut gesagt, "vor allem diejenige, die nicht von Menschenhand gemacht ist. Die Welt Balzacs ist eine Welt der Häuser, der Behausungen. Wenn die Landschaft in unserer Literatur Platz findet, dann gewöhnlich mit dem Hintergedanken einer Predigt ,Zurück zur Erde' ..." Davon ist Julien Gracq bekanntlich weit entfernt. Das Bukolische ist nicht seine Sache, auch in diesem Roman nicht, der gewohnt reich an Landschaftsbildern ist. Bei aller Abkehr vom Bukolischen drückt sich in ihnen aber zugleich eine ungeteilte Liebe zur Welt aus. Seine Figuren in diesem Roman können diese Liebe nicht nachvollziehen, und deshalb müssen sie scheitern.
JOCHEN SCHIMMANG
Julien Gracq: "Der Versucher". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2014. 231 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wahlverwandtschaften vor bretonischer Kulisse: Julien Gracqs zweiter Roman "Der Versucher", der erstmals 1945 erschien, liegt jetzt auf Deutsch vor. Er erzählt von einer Feriengesellschaft, die durch die Ankunft eines Fremden gespalten wird.
Meine Figuren haben gewiss kaum eine ,Psychologie'. Ich bin nicht sehr angezogen vom psychologischen Roman", hat Julien Gracq 1981 in einem Gespräch mit Jean Roudaut geäußert, und: "Wenn mich diese Art von Roman interessiert, dann gerade aufgrund seiner Mechanismen, durch den völlig beliebigen Einfallsreichtum seiner Erfindung."
Diese Sätze sind hilfreich bei der Lektüre von "Un beau ténébreux", Gracqs 1945 publiziertem zweitem Roman, der unter dem Titel "Der Versucher" jetzt erstmals ins Deutsche übertragen wurde, auch diesmal wieder von Dieter Hornig, der in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr zur deutschen Stimme von Gracq geworden ist und das vorliegende Buch auch mit einem Nachwort versehen hat. Denn was hier zu lesen ist, liest sich in mancher Hinsicht doch auf irritierende Art anders als die Prosa, die wir sonst von Gracq kennen, auch wenn es stilistisch hier und da leichte Anklänge an "Das Ufer der Syrten" geben mag.
Zwar hat Gracq auch diesmal keinen psychologischen Roman geschrieben, aber er hat in dessen "beliebigem Einfallsreichtum" nach Herzenslust gewildert. Er schafft zunächst eine Grundsituation, die auf Konflikte und dramatische Lösungen hinauslaufen muss. In einem gehobenen Strandhotel in der Bretagne findet sich eine Gruppe von jüngeren Feriengästen, unter ihnen der Literaturwissenschaftler Gérard, dessen Aufzeichnungen den ersten Teil des Buches bilden (den zweiten übernimmt ein quasi auktorialer Erzähler). Er ist hier, um an einer Studie über Rimbaud zu arbeiten und wundert sich, "mit welchem Erfolg dieser Literat - ich kann diesen Begriff auf Wunsch erläutern - in unserer Zeit die Rolle eines Passepartout spielt, eines ,Mittelsmanns für Suchende und Wissbegierige', über die er, hätte man sie ihm vorausgesagt, ganz schön gelacht hätte".
Kontakt hat er zu einem jungen Ehepaar, einer sehr jungen höheren Tochter und zwei männlichen Feriengästen, Jacques und Gregory, von denen Letzterer bald abreist. Er notiert, durchaus "psychologisch", seine Beobachtungen über dieses Beziehungsgeflecht und beschreibt darüber hinaus, schon ganz und gar in der unverwechselbaren Gracqschen Manier, die landschaftlichen Formationen der näheren Umgebung und die Stimmungen, die die Feriensituation und das Hotel verbreiten, so auch sein Zimmer: "Fast immer, wenn ich eintrete, herrscht, denn der Service ist gewissenhaft, das Halbdunkel eines Sommers in der Provinz."
In dieses Halbdunkel bricht nun plötzlich die Ankunft eines neuen Paars ein, Allan (ein Franzose, aber mit englischen Wurzeln) und Dolores, "er ein Bild der Kraft und der Gewandtheit", sie "schön wie in einem Traum", zwei Menschen, die plötzliche Stille bei den anderen Gästen hervorrufen, als sie den Speisesaal des Hotels betreten, nicht, weil sie neu sind, sondern weil sie eine gleichsam überirdische Aura haben. Ein beau ténébreux ist im Französischen eigentlich ein schöner, dunkler Jüngling, spanisch gewissermaßen, also eine Art Latin Lover.
Die deutsche Übertragung des Titels ist dennoch zutreffend, weil Allan keineswegs auf seine äußere Erscheinung zu reduzieren ist. Zur äußeren Erscheinung von Romanfiguren hat sich Gracq in dem schon genannten Gespräch grundsätzlich so geäußert: "Was den körperlichen Aspekt der Figuren betrifft, so darf der Romanschriftsteller keine Illusionen haben: Der Leser selbst entscheidet über das Bild, das er sich von ihnen macht."
Allan ist neben seiner Schönheit vor allem derjenige, der durch seine Anwesenheit eine neue Situation schafft. Gérard ahnt, "dass in seiner Vorstellung das Leben mit Gewalt verbunden ist". Er spaltet den Kreis der Feriengäste und ordnet ihn gleichsam neu. Hier scheint die Konstellation der "Wahlverwandtschaften" nicht nur auf, sie wird im Gespräch zwischen Gérard und Henri, dem jungen Ehemann, direkt angesprochen. "Ich glaube nun doch nicht . . ., dass Sie diesen alten Scherz ernst nehmen", sagt Henri. "Goethe hat ihn, um sich zu amüsieren, ganz hinten in den Öfen und Retorten der Boudoirs der Aufklärung aufgelesen. Und übrigens einen recht langweiligen Roman daraus gemacht."
Die Gewalt nimmt im Fortlauf des Romans bei Allan mehr und mehr die Form des gezielten Zutreibens auf den eigenen Untergang an. Die Szene verdüstert sich zusehends. Der kleine Kreis bleibt weit über die Saison hinaus im Hotel, gewissermaßen, um die Katastrophe nicht zu verpassen. Mehr muss hier nicht verraten werden.
Aus dieser Situation hat Gracq ein Kammerspiel gemacht, ohne immer das Format zu wahren. Das Buch hat nicht die formale Strenge seiner späteren erzählenden Werke, denkt man etwa an solche Kostbarkeiten wie "Ein Balkon im Wald" oder "Die Halbinsel". Besonders auffällig ist die ganz ungewohnte Fülle der Dialoge in diesem Roman, die Hornig in seinem Nachwort zu Recht als "mitunter weit ausholend, mitunter theatralisch konzipiert" bezeichnet. Vor allem das Gespräch zwischen Gérard und Allan, mit dem der erste Teil endet, zieht sich über zwanzig Seiten hin, auf denen zwei Männer gleichsam auf der Bühne spazieren - hier auf einem Landstreifen direkt am Meer, der auf der Landseite durch eine Granitwand begrenzt wird - und sich gegenseitig die Stichworte für den je eigenen Einsatz geben.
Gracq selbst hat ziemlich am Anfang des Buchs die Interpretationshilfe für diese Art von Gespräch geliefert, die sich im Buch immer wieder findet: "Der Dialog ist mir übrigens immer - in neun von zehn Fällen - wie ein kaum gesteuerter Monolog vorgekommen, immer hat einer, von seinen Dämonen heimgesucht, das Szepter in der Hand, wie das in den eleganten Salons hieß." Genau das trifft auf die langen Gespräche zu, an denen dieser Roman nicht arm ist. Es hat gewissermaßen jeder in diesem Buch einmal seinen großen Auftritt vor einem Zuhörer.
Julien Gracq ist zudem verschwenderisch mit Anspielungen und intertextuellen Verweisen. Intertextualität ist bei diesem belesenen Autor natürlich nichts Neues und findet sich in allen seinen Werken. Im vorliegenden Roman aber wird sie gleichsam in alle Richtungen gestreut, und alle kommen einmal dran: Goethe, Poe, Shakespeare, Balzac und selbstverständlich auch Rimbaud, über den Gérard ja "arbeitet". Nicht alle diese Verweise können ihre zwingende Notwendigkeit nachweisen, manches erscheint beliebig. Julien Gracq, dessen Werk fast völlig frei von jeglicher Arabeske ist, entkommt ihr in diesem Roman manchmal nicht, und das schafft dessen merkwürdig disparaten Charakter. Hornig weist darauf hin, dass das Buch "Register anschlägt, die Gracq später sorgsam vermeidet", nämlich "Tragik und Spott, Leidenschaft und ironische Distanz".
Bezeichnenderweise hört die Arabeske sofort auf, wenn die Erzählung die Figuren verlässt und sich der nichthumanen, physischen Welt zuwendet. "Ich bin oft recht verblüfft darüber, wie wenig Raum im französischen Roman die Außenwelt einnimmt", hat Gracq in dem Gespräch mit Roudaut gesagt, "vor allem diejenige, die nicht von Menschenhand gemacht ist. Die Welt Balzacs ist eine Welt der Häuser, der Behausungen. Wenn die Landschaft in unserer Literatur Platz findet, dann gewöhnlich mit dem Hintergedanken einer Predigt ,Zurück zur Erde' ..." Davon ist Julien Gracq bekanntlich weit entfernt. Das Bukolische ist nicht seine Sache, auch in diesem Roman nicht, der gewohnt reich an Landschaftsbildern ist. Bei aller Abkehr vom Bukolischen drückt sich in ihnen aber zugleich eine ungeteilte Liebe zur Welt aus. Seine Figuren in diesem Roman können diese Liebe nicht nachvollziehen, und deshalb müssen sie scheitern.
JOCHEN SCHIMMANG
Julien Gracq: "Der Versucher". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2014. 231 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Die Bretagne, wo Gracq als Kind die Ferien verbrachte, ist auf jeder Seite präsent, ist zu schauen, zu riechen, zu schmecken.' (Gisela Trahms, Literarische Welt)