In diesem unterhaltsamen Essay spaziert Giwi Margwelaschwili durch Berlin, und liest, was an die Wände geschrieben wurde: "Berlin muss deutsch bleiben" oder "Soft resistance". Was, fragt sich der Autor, wollen uns die Mauerbedichter damit genau sagen? Margwelaschwili geht seiner Philosophie folgend dem ontotextologischen Gehalt der Mauerinschriften auf den Grund und kategorisiert sie. Das Ergebnis ist eine Welttextspielerei auf hohem Niveau.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2010Berlin muss Mutti bleiben
Eine überfällige Studie untersucht die Graffiti im Stadtraum
Keine deutsche Stadt ist stärker von Graffiti gezeichnet als Berlin. Mancher Besucher steht kopfschüttelnd vor den zugemalten Häuserwänden, den nicht selten mit zweifelhaften Bildern oder schlichten Parolen, Slogans, Unsinnssätzen vollgekritzelten Mauern, Stromkästen oder U-Bahnen. Wie man eine Stadt derart verlottern lassen kann, fragt sich auch der ein oder andere Einheimische. Den meisten Berlinern allerdings fallen die Graffiti gar nicht mehr auf, ja sie wundern sich vielmehr, zu Besuch in westdeutschen Groß- und vor allem Kleinstädten, wie leer, ja wie geradezu unanständig nackt die Wände in diesen ordentlichen Orten wirken.
So ist es Giwi Margwelaschwili zu danken, dass er mit der Erfahrung des langjährigen Berliners, zugleich aber mit dem distanziert-analytischen Blick eines Außenstehenden, eine knappe Untersuchung der Berliner Wandbemalung unternommen hat. „Der verwunderte Mauerzeitungsleser“ heißt der zuweilen etwas fremdwortlastige Essay, in dem sich Margwelaschwili ganz auf die geschriebenen Zeugnisse öffentlichen Bekenntnisdrangs konzentriert.
Diese „Manu-Mauerskripte“, wie er sie nennt, seien nicht zu unterschätzen, denn mitunter wären in ihnen historische Entwicklungen vorgezeichnet. Hätten sich vor 1933 etwa nur genügend Mauertextleser gewundert über die Parolen, die überall zu lesen waren, bevor sie eine „solidere zeitungspapierne Grundlage“ erhielten, dann hätte kommendes Unheil womöglich gebannt werden können.
Mit ähnlichem Einschlag, vermeintlich ironisch, im Grunde aber doch ganz ernst (oder umgekehrt? Ganz sicher kann man sich bei Margwelaschwili zum Glück nicht sein), mit ähnlich angenehm-ambivalentem Ton also widmet sich der 1927 in Berlin geborene Sohn georgischer Einwanderer vor allem zwei Erscheinungsformen der Mauerinschriften, der „didaktischen“ („Kein Mensch ist illegal“) und der „kontrapunktischen Mauerinschrift“. Bei der kontrapunktischen Inschrift arbeiten zwei Verfasser an einem Text, wenngleich niemals zur selben Zeit. So wird aus „Berlin muß deutsch bleiben“ unter der Hand des Co-Autors zum Beispiel „Berlin muss deutsch rot bleiben“. Wobei einem solchen Durchstreichen zweifellos gerne auch ein didaktischer Impuls zugrunde liegt.
Begleitet wird Margwelaschwilis Text von Fotografien Alexander Janetzkos. Sie bieten zahlreiche weitere Beispiele für die nicht immer besonders kreativen, aber in der Regel großbuchstabig auf die Wichtigkeit ihrer Botschaft pochenden Manu-Mauerskripte. Nur eines dieser Exemplare verfügt über ein derart ruhiges Schriftbild, als wünschte sich der Verfasser, es sähe auch auf den Seiten der Mauer-Manuskripte aus wie in einem ordentlich aufgeräumten Kinderzimmer. Aber das ist wohl dem Gegenstand seiner Anrufung geschuldet, der lieben „Mutti“. TOBIAS LEHMKUHL
GIWI MARGWELASCHWILI: Der verwunderte Mauerzeitungsleser. Verbrecher Verlag, Berlin 2010. 76 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Eine überfällige Studie untersucht die Graffiti im Stadtraum
Keine deutsche Stadt ist stärker von Graffiti gezeichnet als Berlin. Mancher Besucher steht kopfschüttelnd vor den zugemalten Häuserwänden, den nicht selten mit zweifelhaften Bildern oder schlichten Parolen, Slogans, Unsinnssätzen vollgekritzelten Mauern, Stromkästen oder U-Bahnen. Wie man eine Stadt derart verlottern lassen kann, fragt sich auch der ein oder andere Einheimische. Den meisten Berlinern allerdings fallen die Graffiti gar nicht mehr auf, ja sie wundern sich vielmehr, zu Besuch in westdeutschen Groß- und vor allem Kleinstädten, wie leer, ja wie geradezu unanständig nackt die Wände in diesen ordentlichen Orten wirken.
So ist es Giwi Margwelaschwili zu danken, dass er mit der Erfahrung des langjährigen Berliners, zugleich aber mit dem distanziert-analytischen Blick eines Außenstehenden, eine knappe Untersuchung der Berliner Wandbemalung unternommen hat. „Der verwunderte Mauerzeitungsleser“ heißt der zuweilen etwas fremdwortlastige Essay, in dem sich Margwelaschwili ganz auf die geschriebenen Zeugnisse öffentlichen Bekenntnisdrangs konzentriert.
Diese „Manu-Mauerskripte“, wie er sie nennt, seien nicht zu unterschätzen, denn mitunter wären in ihnen historische Entwicklungen vorgezeichnet. Hätten sich vor 1933 etwa nur genügend Mauertextleser gewundert über die Parolen, die überall zu lesen waren, bevor sie eine „solidere zeitungspapierne Grundlage“ erhielten, dann hätte kommendes Unheil womöglich gebannt werden können.
Mit ähnlichem Einschlag, vermeintlich ironisch, im Grunde aber doch ganz ernst (oder umgekehrt? Ganz sicher kann man sich bei Margwelaschwili zum Glück nicht sein), mit ähnlich angenehm-ambivalentem Ton also widmet sich der 1927 in Berlin geborene Sohn georgischer Einwanderer vor allem zwei Erscheinungsformen der Mauerinschriften, der „didaktischen“ („Kein Mensch ist illegal“) und der „kontrapunktischen Mauerinschrift“. Bei der kontrapunktischen Inschrift arbeiten zwei Verfasser an einem Text, wenngleich niemals zur selben Zeit. So wird aus „Berlin muß deutsch bleiben“ unter der Hand des Co-Autors zum Beispiel „Berlin muss deutsch rot bleiben“. Wobei einem solchen Durchstreichen zweifellos gerne auch ein didaktischer Impuls zugrunde liegt.
Begleitet wird Margwelaschwilis Text von Fotografien Alexander Janetzkos. Sie bieten zahlreiche weitere Beispiele für die nicht immer besonders kreativen, aber in der Regel großbuchstabig auf die Wichtigkeit ihrer Botschaft pochenden Manu-Mauerskripte. Nur eines dieser Exemplare verfügt über ein derart ruhiges Schriftbild, als wünschte sich der Verfasser, es sähe auch auf den Seiten der Mauer-Manuskripte aus wie in einem ordentlich aufgeräumten Kinderzimmer. Aber das ist wohl dem Gegenstand seiner Anrufung geschuldet, der lieben „Mutti“. TOBIAS LEHMKUHL
GIWI MARGWELASCHWILI: Der verwunderte Mauerzeitungsleser. Verbrecher Verlag, Berlin 2010. 76 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nur kurz weist Rezensent Tobias Lehmkuhl auf diesen Essayband Giwi Margwelaschwilis hin. Der Autor untersucht die Sprüche und Graffiti Berliner Mauern und überprüft sie offenbar auf ihre Vorhersage-Kräftigkeit. Dem Text sind Fotos von Alexander Janetzko beigegeben. Lehmkuhl scheint den Essay ganz gern gelesen zu haben. Auch wenn Margwelschwili vielleicht etwas weniger Fremdwörter in seinen Text hätte einfließen lassen können, so schreibt er doch in "angenehm-ambivalentem Ton", lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH