Über viele Jahrhunderte glaubten die Europäer, die Welt bestünde aus drei Teilen: Europa, Afrika und Asien. Stets vermuteten sie aber auch die Existenz eines vierten Weltteils. Doch dieser blieb unerreichbar, abgetrennt von einem riesigen Ozean, geheimnisvoll und mythisch. Bis zum Jahr 1507, als der deutsche Kartograph Martin Waldseemüller den vierten Kontinent erstmals in einer Karte einzeichnete. Er war den Berichten Amerigo Vespuccis gefolgt, der wenige Jahre zuvor die Ostküste Südamerikas erkundet hatte. Ihm zu Ehren hielt Waldseemüller den Namen America" auf der Karte fest.
Toby Lester schildert die Geschichte der Entstehung und Wiederentdeckung dieses einzigartigen Dokuments und erweckt dabei Stück für Stück das in ihm verborgene Weltwissen zum Leben. Er führt uns in die Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in die Welt der Mönche, die die alten Lehren über die Natur des Kosmos bewahrten, der Seefahrer und Kaufleute, die sich immer weiter hinauswagten. Die bündeltedie politischen, kulturellen und religiösen Vorstellungen der vergangenen Jahrhunderte und kündigte zugleich die Verheißungen einer neuen Zeit an. So manchem diente sie als Inspirationsquelle, etwa Nikolaus Kopernikus, der mit ihrer Hilfe zu seinem heliozentrischen Weltbild gelangte.
"Der vierte Kontinent" ist eine Erzählung von geographischer und geistiger Entdeckerlust, brillant geschildert und mit zahlreichen Karten und Schaubildern illustriert - ein großes historisches Panorama über eine Zeit, in der die Menschen die Welt neu zu denken begannen.
Toby Lester schildert die Geschichte der Entstehung und Wiederentdeckung dieses einzigartigen Dokuments und erweckt dabei Stück für Stück das in ihm verborgene Weltwissen zum Leben. Er führt uns in die Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in die Welt der Mönche, die die alten Lehren über die Natur des Kosmos bewahrten, der Seefahrer und Kaufleute, die sich immer weiter hinauswagten. Die bündeltedie politischen, kulturellen und religiösen Vorstellungen der vergangenen Jahrhunderte und kündigte zugleich die Verheißungen einer neuen Zeit an. So manchem diente sie als Inspirationsquelle, etwa Nikolaus Kopernikus, der mit ihrer Hilfe zu seinem heliozentrischen Weltbild gelangte.
"Der vierte Kontinent" ist eine Erzählung von geographischer und geistiger Entdeckerlust, brillant geschildert und mit zahlreichen Karten und Schaubildern illustriert - ein großes historisches Panorama über eine Zeit, in der die Menschen die Welt neu zu denken begannen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2011Als das irdische Paradies fast noch am Rande der Welt lag
Amerika ist eine Insel: Toby Lester hat am Beispiel der berühmten Waldseemüller-Karte eine vorzügliche Geschichte der Kartographie geschrieben
Die Geschichte ist rasch erzählt. Sie handelt von einer einzigartigen Weltkarte aus dem Jahr 1507, die 2003 für rund zehn Millionen Dollar an die Library of Congress in Washington verkauft wurde und seit 2007 in der prachtvollen Treasures Gallery der Bibliothek gezeigt wird - unter dem Titel "America's Birth Certificate".
Diese Karte war das Werk einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Druckern in Sankt Didel - heute Saint-Dié-des-Vosges - in Lothringen, zu der auch der Kartograph Martin Waldseemüller und der humanistische Philologe Matthias Ringmann gehörten. Als Waldseemüller-Karte war sie fast vierhundert Jahre lang verschollen, obwohl sie schnell geradezu als "heiliger Gral" der Geographie angesehen wurde. Zur Wiederentdeckung kam es erst 1901, in einer Turmkammer des oberschwäbischen Schlosses Wolfegg durch den Pater Joseph Fischer, Lehrer für Geschichte und Geographie des Jesuiteninternats von Feldkirch.
Einzigartig ist die Karte aus mehreren Gründen: Erstmals wird auf ihr der Name America - bezogen auf Amerigo Vespucci - verwendet; und erstmals wird auf ihr der neue Kontinent von Wasser umgeben gezeigt, obwohl doch Europa erst 1513 - nach den Entdeckungsreisen des spanischen Konquistadors Vasco Núñez de Balboa - von der Existenz des Pazifischen Ozeans erfahren haben soll.
Zu den Strategien neuerer Wissenschaftsgeschichte gehört es, ein Ding, ein materielles Artefakt, in den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken. Warum also nicht auch eine Karte, und erst recht diese. Der Journalist und Schriftsteller Toby Lester hat an ihrem Beispiel eine fabelhafte Geschichte der Kartographie geschrieben. Die vorzügliche deutsche Übersetzung ist zwar mit einer gefalteten Reproduktion der Waldseemüller-Karte ausgestattet. Das gewählte Format ist aber leider viel zu klein, um ernsthaftes Studium zu ermöglichen. Lohnenswerter ist dagegen die Konsultation der interaktiven Weltkarte, die Toby Lester - mit zwanzig Kommentaren versehen - auf seine Homepage (www.tobylester.com) gesetzt hat. Selbst wenn auch diese Darstellung nicht die vorbildliche Qualität der digitalen Erschließung der Ebstorfer Weltkarte (um 1300) erreicht, die vom Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien an der Universität Lüneburg ins Netz gestellt wurde (www.leuphana.de/ebskart).
Karten müssen - im wörtlichen Sinn - entfaltet werden, auch wenn die digitale Technik von Hypertexten, im Verein mit dem raschen Wechsel zwischen General- und Detailansicht, Bild und Kommentar, die Entfaltungsarbeit erleichtern mag. Toby Lester hat die Entfaltung seiner Karte narrativ bewältigt, und darin besteht nicht das geringste Verdienst des Buchs. Seine Darstellung gliedert sich in drei Hauptteile: Sie widmen sich - so die Überschriften - der Alten Welt, der Neuen Welt, der ganzen Welt; und sie bezeugen, dass Vorstellungen der Welt stets auf Weltbilder, auf Karten also, verweisen.
Die mittelalterlichen Karten, die das Bild der Alten Welt geprägt haben, werden häufig als TO-Karten bezeichnet: Einem Kreis (dem O des Ozeans) wurde ein T eingeschrieben, das diesen Kreis in drei Teile schnitt - den oberen Halbkreis Asiens, den linken unteren Viertelkreis Europas und den rechten unteren Viertelkreis Afrikas. Die TO-Karten waren gleichsam "geostet": Der Osten stand oben, nicht der Norden; Orientierung stiftete der Orient. Das T wurde von den Flüssen Don und Nil (als Querbalken) und dem Mittelmeer gebildet; im Zentrum lag Jerusalem.
Manche Ausgaben der TO-Karten zeigten auch die Orte, an denen die monströsen Wundervölker leben sollten, die bereits Plinius beschrieben hatte, oder die apokalyptischen Völker der Bibel, Gog und Magog. So kam es zu einigen kulturellen Missverständnissen, etwa auch im Gefolge der Mongolenstürme des 13. Jahrhunderts, wie sie Toby Lester im ersten Teil seines Buchs lebendig und aufschlussreich beschreibt.
Der zweite Teil befasst sich mit der Entdeckung der Neuen Welt, und auch hier demonstriert Lester, in welchem Maße die Geschichte dieser Entdeckung abhing von intellektuellen Entdeckungen und Lektüren, etwa der "Geographia" des Ptolemäus. Die abenteuerlichen Reisen über den Atlantik setzten Leseerfahrungen voraus, auf die Petrarca in einem Brief zu sprechen kommt. "Ich entschloss mich, nicht nur einmal eine lange Reise zu unternehmen, mit dem Schiff oder auf einem Pferd oder zu Fuß, sondern viele Male auf einer kleinen Karte, mit Büchern und der Vorstellungskraft."
Solche Einsichten machen plausibel, welche Bedeutung den Karten und ihren wissensgeschichtlichen Kontexten zukam. Karten, die noch Kolumbus glauben ließen, er habe mit dem Golf von Paria im Nordosten Venezuelas 1498 den Rand des irdischen Paradieses erreicht. Man beginnt zu verstehen, warum der gefälschte Brief Amerigo Vespuccis an den Herzog von Lothringen über die Entdeckung der Neuen Welt dazu führen konnte, dass Waldseemüller seine berühmte Karte zeichnete, die wiederum mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod des Kartographen die kopernikanische Revolution befördern sollte.
Der kleinen Gruppe um den Kartographen Waldseemüller widmet sich der letzte Teil des Buchs über den vierten Kontinent. Mit diesem Abschnitt schließt eine herausragende Erzählung über die Macht und Geschichte der Bilder, Diagramme und Karten. Sie macht neugierig auf Toby Lesters nächstes Buch, angekündigt für nächstes Jahr, das zur Gänze einem anderen Bild gelten wird: "Da Vinci's Ghost - The Untold Story of the World's Most Famous Drawing".
THOMAS MACHO.
Toby Lester: "Der vierte Kontinent". Wie eine Karte die Welt veränderte.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Berlin Verlag, Berlin 2010. 527 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amerika ist eine Insel: Toby Lester hat am Beispiel der berühmten Waldseemüller-Karte eine vorzügliche Geschichte der Kartographie geschrieben
Die Geschichte ist rasch erzählt. Sie handelt von einer einzigartigen Weltkarte aus dem Jahr 1507, die 2003 für rund zehn Millionen Dollar an die Library of Congress in Washington verkauft wurde und seit 2007 in der prachtvollen Treasures Gallery der Bibliothek gezeigt wird - unter dem Titel "America's Birth Certificate".
Diese Karte war das Werk einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Druckern in Sankt Didel - heute Saint-Dié-des-Vosges - in Lothringen, zu der auch der Kartograph Martin Waldseemüller und der humanistische Philologe Matthias Ringmann gehörten. Als Waldseemüller-Karte war sie fast vierhundert Jahre lang verschollen, obwohl sie schnell geradezu als "heiliger Gral" der Geographie angesehen wurde. Zur Wiederentdeckung kam es erst 1901, in einer Turmkammer des oberschwäbischen Schlosses Wolfegg durch den Pater Joseph Fischer, Lehrer für Geschichte und Geographie des Jesuiteninternats von Feldkirch.
Einzigartig ist die Karte aus mehreren Gründen: Erstmals wird auf ihr der Name America - bezogen auf Amerigo Vespucci - verwendet; und erstmals wird auf ihr der neue Kontinent von Wasser umgeben gezeigt, obwohl doch Europa erst 1513 - nach den Entdeckungsreisen des spanischen Konquistadors Vasco Núñez de Balboa - von der Existenz des Pazifischen Ozeans erfahren haben soll.
Zu den Strategien neuerer Wissenschaftsgeschichte gehört es, ein Ding, ein materielles Artefakt, in den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken. Warum also nicht auch eine Karte, und erst recht diese. Der Journalist und Schriftsteller Toby Lester hat an ihrem Beispiel eine fabelhafte Geschichte der Kartographie geschrieben. Die vorzügliche deutsche Übersetzung ist zwar mit einer gefalteten Reproduktion der Waldseemüller-Karte ausgestattet. Das gewählte Format ist aber leider viel zu klein, um ernsthaftes Studium zu ermöglichen. Lohnenswerter ist dagegen die Konsultation der interaktiven Weltkarte, die Toby Lester - mit zwanzig Kommentaren versehen - auf seine Homepage (www.tobylester.com) gesetzt hat. Selbst wenn auch diese Darstellung nicht die vorbildliche Qualität der digitalen Erschließung der Ebstorfer Weltkarte (um 1300) erreicht, die vom Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien an der Universität Lüneburg ins Netz gestellt wurde (www.leuphana.de/ebskart).
Karten müssen - im wörtlichen Sinn - entfaltet werden, auch wenn die digitale Technik von Hypertexten, im Verein mit dem raschen Wechsel zwischen General- und Detailansicht, Bild und Kommentar, die Entfaltungsarbeit erleichtern mag. Toby Lester hat die Entfaltung seiner Karte narrativ bewältigt, und darin besteht nicht das geringste Verdienst des Buchs. Seine Darstellung gliedert sich in drei Hauptteile: Sie widmen sich - so die Überschriften - der Alten Welt, der Neuen Welt, der ganzen Welt; und sie bezeugen, dass Vorstellungen der Welt stets auf Weltbilder, auf Karten also, verweisen.
Die mittelalterlichen Karten, die das Bild der Alten Welt geprägt haben, werden häufig als TO-Karten bezeichnet: Einem Kreis (dem O des Ozeans) wurde ein T eingeschrieben, das diesen Kreis in drei Teile schnitt - den oberen Halbkreis Asiens, den linken unteren Viertelkreis Europas und den rechten unteren Viertelkreis Afrikas. Die TO-Karten waren gleichsam "geostet": Der Osten stand oben, nicht der Norden; Orientierung stiftete der Orient. Das T wurde von den Flüssen Don und Nil (als Querbalken) und dem Mittelmeer gebildet; im Zentrum lag Jerusalem.
Manche Ausgaben der TO-Karten zeigten auch die Orte, an denen die monströsen Wundervölker leben sollten, die bereits Plinius beschrieben hatte, oder die apokalyptischen Völker der Bibel, Gog und Magog. So kam es zu einigen kulturellen Missverständnissen, etwa auch im Gefolge der Mongolenstürme des 13. Jahrhunderts, wie sie Toby Lester im ersten Teil seines Buchs lebendig und aufschlussreich beschreibt.
Der zweite Teil befasst sich mit der Entdeckung der Neuen Welt, und auch hier demonstriert Lester, in welchem Maße die Geschichte dieser Entdeckung abhing von intellektuellen Entdeckungen und Lektüren, etwa der "Geographia" des Ptolemäus. Die abenteuerlichen Reisen über den Atlantik setzten Leseerfahrungen voraus, auf die Petrarca in einem Brief zu sprechen kommt. "Ich entschloss mich, nicht nur einmal eine lange Reise zu unternehmen, mit dem Schiff oder auf einem Pferd oder zu Fuß, sondern viele Male auf einer kleinen Karte, mit Büchern und der Vorstellungskraft."
Solche Einsichten machen plausibel, welche Bedeutung den Karten und ihren wissensgeschichtlichen Kontexten zukam. Karten, die noch Kolumbus glauben ließen, er habe mit dem Golf von Paria im Nordosten Venezuelas 1498 den Rand des irdischen Paradieses erreicht. Man beginnt zu verstehen, warum der gefälschte Brief Amerigo Vespuccis an den Herzog von Lothringen über die Entdeckung der Neuen Welt dazu führen konnte, dass Waldseemüller seine berühmte Karte zeichnete, die wiederum mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod des Kartographen die kopernikanische Revolution befördern sollte.
Der kleinen Gruppe um den Kartographen Waldseemüller widmet sich der letzte Teil des Buchs über den vierten Kontinent. Mit diesem Abschnitt schließt eine herausragende Erzählung über die Macht und Geschichte der Bilder, Diagramme und Karten. Sie macht neugierig auf Toby Lesters nächstes Buch, angekündigt für nächstes Jahr, das zur Gänze einem anderen Bild gelten wird: "Da Vinci's Ghost - The Untold Story of the World's Most Famous Drawing".
THOMAS MACHO.
Toby Lester: "Der vierte Kontinent". Wie eine Karte die Welt veränderte.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Berlin Verlag, Berlin 2010. 527 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Thomas Macho zeigt sich begeistert von dieser Art Wissenschaftsgeschichte, die um ein Artefakt herum aufgebaut ist. Bei Toby Lester handelt es sich um eine Weltkarte, genauer, um die sogenannte Waldseemüller-Karte von 1507, die der Autor zum Ausgangspunkt einer dreiteiligen Geschichte der Kartografie nimmt, für Macho zugleich eine Erzählung über die Macht der Bilder. Dank vorzüglicher Übersetzung, interaktiver Kartenlinks und einer lebendigen und aufschlussreichen Beschreibung davon, wie sich der Blick zwischen der Entdeckung der Alten und jener der Neuen Welt veränderte, weiß Macho am Ende, in welchem Maß intellektuelle Vorstellungen und Lektüren sowie Karten und ihre wissenschaftlichen Kontexte die Entdeckung der Welt beeinflussten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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