Angela Rohrs späte Erzählungen Der Vogel und Die Zeit - entstanden um 1959 - gehören zu den ersten literarischen Auseinandersetzungen mit den Frauenschicksalen unter der stalinistischen Verfolgung. Beide Texte sind erst 2005 wiederaufgefunden worden. Die Österreicherin Angela Rohr (1890 - 1985) - expressionistische Dichterin, Dadaistin und Freundin Rilkes - verschlug es nach Versuchen in der Psychoanalyse 1925 nach Moskau und Sibirien. Von dort aus schrieb sie Feuilletons für die Frankfurter Zeitung und andere deutsche Blätter. In den Literaturgeschichten des Expressionismus galt die Dichterin bis heute als verschollen. Sowohl ihre frühe Prosa und die journalistischen Schriften als auch ihre späten Texte werden hier erstmals gesammelt und im Rahmen des Gesamtwerks vorgestellt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2011Verloren in den Fangeisen der Geschichte
Die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts haben Angela Rohr das Leben schwergemacht. Doch ihr Werk ist bemerkenswert, jetzt kann man es wiederentdecken.
Es sieht erstaunlich unscheinbar aus, dieses in graue Pappe gebundene Büchlein, gerade so, als wolle es sich niemandem aufdrängen, keinen Anspruch darauf erheben, gelesen zu werden. Eine ungerechte Aufmachung, denn die Lektüre führt auf interessante Weise in ein Stück Geschichte, das noch nicht übermäßig lange hinter uns liegt, eingefangen in einem bewegenden Frauenleben. Die Person, um die es geht, heißt Angela Rohr, wird uns als Schriftstellerin und Medizinerin vorgestellt, vor allem aber erscheint sie der lesenden Nachwelt als Opfer der Verhältnisse, die das zwanzigste Jahrhundert seinen Menschen aufzwang, vor allem den politisch engagierten.
Angesichts der biographischen Mitteilungen, mit denen uns die Herausgeberin Gesine Bey versorgt, will es einem seltsam vorkommen, dass man nicht längst über Angela Rohr Bescheid wusste. Immerhin hat sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert literarisch gewirkt, wurde damals durchaus beachtet, unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Konstantin Fedin und anderen namhaften Vertretern jener Epoche, arbeitete in den dreißiger Jahren als Russland-Korrespondentin, vor allem für die "Frankfurter Zeitung", die Vorgängerin der Frankfurter Allgemeinen. Dann aber wurde sie von jenem Schicksal ereilt, das Millionen Leben zerstörte und Namen ins Dunkel drängte: Sie wurde Gefangene des sowjetischen GULag.
Wie geriet die gebürtige Österreicherin, geprägt durch Aufenthalte in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, in die Fänge des stalinistischen Molochs? Um das zu begreifen, müssen wir uns an den Anfang jenes Jahrhunderts zurückversetzen. Angela Rohr, 1890 geboren, erlebte den Ersten Weltkrieg und seine fatalen Folgen. Sie war eine gescheite, aber wohl keine weise Frau, weshalb sie den Verheißungen, die aus dem europäischen Osten tönten, nicht kritisch, sondern gläubig zuhörte. Unter ihren nachgelassenen Geschichten befindet sich eine "Erinnerung an Lenin", an dessen Fahrt 1917 aus dem Schweizer Exil über Deutschland nach Russland. Angela Rohr, auf dem Zürcher Bahnsteig stehend, durfte - so berichtet sie - Lenins Hand drücken und vernahm seine Worte: "Ja, ja, wir werden die Gefängnisse öffnen!"
Die gläubige Hoffnung, die sie damals erfüllte, erhielt Verstärkung durch Wilhelm Rohr, ihren dritten Ehemann. Rohr, Psychoanalytiker und überzeugter Kommunist, reiste 1923 in die Sowjetunion und holte 1925 seine Frau nach. Beide erwarben die sowjetische Staatsbürgerschaft, beide wurden 1941, als Hitler Stalins Reich überfiel, verhaftet und weggesperrt. Der Anklagevorwurf lautete, wie damals üblich: Spionage für den Sowjetfeind. Wilhelm Rohr starb noch im Gefängnis, Angela Rohr überlebte die fünf Jahre, zu denen sie verurteilt war, kam danach aber nicht frei, sondern in ein sibirisches Lager, wo sie medizinische Dienste verrichten musste. 1949 wurde "Ewige Verbannung" über sie verhängt. Die Ewigkeit dauerte bis 1954, ein Jahr nach Stalins Tod. Drei Jahre später rehabilitierte ein Militärtribunal die "Spionin" und erlaubte ihre Rückkehr nach Moskau.
Über Schicksale wie dieses sind viele Bücher veröffentlicht worden. Man denke nur an Alexander Solschenizyns "Archipel GULag". Angela Rohr zählte 67 Jahre, als sie in die poststalinistische Freiheit entlassen wurde. Das war ziemlich spät für den literarischen Neuanfang, nach dem sie sich gesehnt hatte. Sie wagte ihn dennoch, konnte aber mit den Schwierigkeiten, ihre Schriften auch zu veröffentlichen, schlecht fertig werden. So blieb sie, bei all ihrer Begabung, bis zu ihrem Tode 1985 weitgehend im Dunkeln - eine traurige Konsequenz ihrer politischen Fehlorientierung samt deren grausamen Folgen. Dass wir sie trotzdem kennenlernen dürfen, und das genau und gründlich, ist das Verdienst von Gesine Bey, der wir die vorliegende Rohr-Auswahl verdanken.
Die Herausgeberin hat ihre Aufgabe, uns mit Angela Rohr bekannt zu machen, klug bewältigt. Sie bietet uns Erzählproben aus der Zeit, in der die Schriftstellerin noch unbelastet ihre Welt beschreiben konnte, und bedrückende Schilderungen der inhumanen sowjetischen Haftpraktiken. Dazu kommen interessante Berichte über das Leben in Moskau noch vor dem Ausbruch der politischen "Säuberungen" sowie packende Darstellungen russischer Menschen, ihrer Guttaten und Sünden, ihrer Hoffnungen und ihres Scheiterns. Das Angebot reicht, um zu begreifen, was aus der Verfasserin hätte werden können, wäre sie nicht in das politische Fangeisen gestolpert. Obendrein bedient uns die Herausgeberin mit einem umfangreichen Anhang, dem wir nicht nur Daten über den Weg und das Schaffen Angela Rohrs entnehmen können, sondern auch Wesentliches über die wechselnden Zustände jenes Europas erfahren, in dem sie lebte. Das graue Buch ist schmal, beileibe kein Lexikon, aber es vermittelt Kenntnisse, die wir noch nicht hatten, und bestätigt auf interessante Weise, was wir schon wussten oder ahnten.
SABINE BRANDT
Angela Rohr: "Der Vogel". Gesammelte Erzählungen und Reportagen.
Herausgegeben von Gesine Bey. BasisDruck Verlag, Berlin 2010. 300 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts haben Angela Rohr das Leben schwergemacht. Doch ihr Werk ist bemerkenswert, jetzt kann man es wiederentdecken.
Es sieht erstaunlich unscheinbar aus, dieses in graue Pappe gebundene Büchlein, gerade so, als wolle es sich niemandem aufdrängen, keinen Anspruch darauf erheben, gelesen zu werden. Eine ungerechte Aufmachung, denn die Lektüre führt auf interessante Weise in ein Stück Geschichte, das noch nicht übermäßig lange hinter uns liegt, eingefangen in einem bewegenden Frauenleben. Die Person, um die es geht, heißt Angela Rohr, wird uns als Schriftstellerin und Medizinerin vorgestellt, vor allem aber erscheint sie der lesenden Nachwelt als Opfer der Verhältnisse, die das zwanzigste Jahrhundert seinen Menschen aufzwang, vor allem den politisch engagierten.
Angesichts der biographischen Mitteilungen, mit denen uns die Herausgeberin Gesine Bey versorgt, will es einem seltsam vorkommen, dass man nicht längst über Angela Rohr Bescheid wusste. Immerhin hat sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert literarisch gewirkt, wurde damals durchaus beachtet, unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Konstantin Fedin und anderen namhaften Vertretern jener Epoche, arbeitete in den dreißiger Jahren als Russland-Korrespondentin, vor allem für die "Frankfurter Zeitung", die Vorgängerin der Frankfurter Allgemeinen. Dann aber wurde sie von jenem Schicksal ereilt, das Millionen Leben zerstörte und Namen ins Dunkel drängte: Sie wurde Gefangene des sowjetischen GULag.
Wie geriet die gebürtige Österreicherin, geprägt durch Aufenthalte in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, in die Fänge des stalinistischen Molochs? Um das zu begreifen, müssen wir uns an den Anfang jenes Jahrhunderts zurückversetzen. Angela Rohr, 1890 geboren, erlebte den Ersten Weltkrieg und seine fatalen Folgen. Sie war eine gescheite, aber wohl keine weise Frau, weshalb sie den Verheißungen, die aus dem europäischen Osten tönten, nicht kritisch, sondern gläubig zuhörte. Unter ihren nachgelassenen Geschichten befindet sich eine "Erinnerung an Lenin", an dessen Fahrt 1917 aus dem Schweizer Exil über Deutschland nach Russland. Angela Rohr, auf dem Zürcher Bahnsteig stehend, durfte - so berichtet sie - Lenins Hand drücken und vernahm seine Worte: "Ja, ja, wir werden die Gefängnisse öffnen!"
Die gläubige Hoffnung, die sie damals erfüllte, erhielt Verstärkung durch Wilhelm Rohr, ihren dritten Ehemann. Rohr, Psychoanalytiker und überzeugter Kommunist, reiste 1923 in die Sowjetunion und holte 1925 seine Frau nach. Beide erwarben die sowjetische Staatsbürgerschaft, beide wurden 1941, als Hitler Stalins Reich überfiel, verhaftet und weggesperrt. Der Anklagevorwurf lautete, wie damals üblich: Spionage für den Sowjetfeind. Wilhelm Rohr starb noch im Gefängnis, Angela Rohr überlebte die fünf Jahre, zu denen sie verurteilt war, kam danach aber nicht frei, sondern in ein sibirisches Lager, wo sie medizinische Dienste verrichten musste. 1949 wurde "Ewige Verbannung" über sie verhängt. Die Ewigkeit dauerte bis 1954, ein Jahr nach Stalins Tod. Drei Jahre später rehabilitierte ein Militärtribunal die "Spionin" und erlaubte ihre Rückkehr nach Moskau.
Über Schicksale wie dieses sind viele Bücher veröffentlicht worden. Man denke nur an Alexander Solschenizyns "Archipel GULag". Angela Rohr zählte 67 Jahre, als sie in die poststalinistische Freiheit entlassen wurde. Das war ziemlich spät für den literarischen Neuanfang, nach dem sie sich gesehnt hatte. Sie wagte ihn dennoch, konnte aber mit den Schwierigkeiten, ihre Schriften auch zu veröffentlichen, schlecht fertig werden. So blieb sie, bei all ihrer Begabung, bis zu ihrem Tode 1985 weitgehend im Dunkeln - eine traurige Konsequenz ihrer politischen Fehlorientierung samt deren grausamen Folgen. Dass wir sie trotzdem kennenlernen dürfen, und das genau und gründlich, ist das Verdienst von Gesine Bey, der wir die vorliegende Rohr-Auswahl verdanken.
Die Herausgeberin hat ihre Aufgabe, uns mit Angela Rohr bekannt zu machen, klug bewältigt. Sie bietet uns Erzählproben aus der Zeit, in der die Schriftstellerin noch unbelastet ihre Welt beschreiben konnte, und bedrückende Schilderungen der inhumanen sowjetischen Haftpraktiken. Dazu kommen interessante Berichte über das Leben in Moskau noch vor dem Ausbruch der politischen "Säuberungen" sowie packende Darstellungen russischer Menschen, ihrer Guttaten und Sünden, ihrer Hoffnungen und ihres Scheiterns. Das Angebot reicht, um zu begreifen, was aus der Verfasserin hätte werden können, wäre sie nicht in das politische Fangeisen gestolpert. Obendrein bedient uns die Herausgeberin mit einem umfangreichen Anhang, dem wir nicht nur Daten über den Weg und das Schaffen Angela Rohrs entnehmen können, sondern auch Wesentliches über die wechselnden Zustände jenes Europas erfahren, in dem sie lebte. Das graue Buch ist schmal, beileibe kein Lexikon, aber es vermittelt Kenntnisse, die wir noch nicht hatten, und bestätigt auf interessante Weise, was wir schon wussten oder ahnten.
SABINE BRANDT
Angela Rohr: "Der Vogel". Gesammelte Erzählungen und Reportagen.
Herausgegeben von Gesine Bey. BasisDruck Verlag, Berlin 2010. 300 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fünfzig Jahre hat es gedauert, bis Jens Bisky uns diese Autorin nun vorstellen kann, der nicht mehr beschieden war, als eine Fußnote der Literaturgeschichte zu werden, wie Bisky schreibt. Die in diesem Band versammelten Texte von Angela Rohr, zwei Erzählungen aus dem Gulag plus Reportagen aus der Zeit zwischen 1928 und 1937 in Sowjetrussland präsentieren Bisky allerdings das ganze Kraftpotential des 20. Jahrhunderts. Rohrs Ton findet er bei aller Explosivität des Stoffes suggestiv, lakonisch, präzis. Die Autorin stellt er sich als kleine bewegliche Person vor, genau wie ihre Texte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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