Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.1996Nektar für den Jumbo-Jet
Lilienthal und andere Flattermänner: Neues über die berechenbare Kunst des Fliegens
In Gaertners Verlagshandlung, Berlin, erschien 1889 ein Buch, das zu den hoffnungslosesten Ladenhütern seiner Zeit wurde. Es stand Jahre in den Regalen und fand nicht einmal dreihundert Käufer. Da heißt es immer, der Traum vom Fliegen sei so alt wie die Menschheit, aber als er wahr zu werden versprach, hat die Menschheit geschlafen. "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" von Otto Lilienthal war die wichtigste flugtechnische Schrift des neunzehnten Jahrhunderts. Die liegengebliebene Erstausgabe wird im Jumbo-Zeitalter mit Tausendmarkscheinen bezahlt.
Wer das alte Buch mit seinen Erkenntnissen, Irrtümern und Visionen heute wieder in die Hand nimmt, ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Heiterkeit. Lilienthal hat gewissermaßen tief Luft geholt, um die Leser mit einem langen poetischen Satz einzustimmen: "Alljährlich, wenn der Frühling kommt und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen, wenn die Störche, zu ihren alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen..." So kommt er auf die Flugsehnsucht des Menschen zu sprechen. Otto Lilienthal, Ingenieur und Maschinenfabrikant in Berlin, ist besessen von der Idee des Fliegens. Er hat jahrelang den Flug der Vögel beobachtet, das Gefieder von Störchen untersucht und sinnreiche Apparate zur Messung der Luftkräfte erdacht. "Die Kraft, durch welche der fliegende Vogel gehoben wird" heißt ein Kapitel. Ein anderes: "Über die Arbeit beim Vorwärtsfliegen mit gewölbten Flügeln".
Der Vogelflug unterliegt mathematischen Gesetzen, das ahnte schon Leonardo. Aber erst Lilienthal begründet die Flugphysik, deren Sprache er noch erfinden muß. Auftrieb und Vortrieb sind unbekannte Begriffe; er schreibt Hebedruck und Treibedruck. Seine wichtigste Entdeckung ist, daß Flügel nicht platt wie Bretter, sondern gewölbt sein müssen, um Auftrieb zu erzeugen. Darauf beruht die Aerodynamik bis zum heutigen Tag. Lilienthal resiimiert, "daß wirklich kein Naturgesetz vorhanden ist, welches wie ein unüberwindlicher Riegel sich der Lösung des Fliegeproblems vorschiebt". Übrigens wäre man schon weiter, hätten nicht so viele große Geister ihre Zeit damit vergeudet, den Ballon lenkbar machen zu wollen.
Der R. Oldenbourg Verlag, der nun einen "Reprint der 2., vermehrten Auflage von 1910" vorlegt, hätte gut daran getan, ein erklärendes Nachwort hinzuzufügen. Wer das Buch nicht schon kannte, wird seine Einmaligkeit nicht würdigen können. Die Beobachtungen und Berechnungen sind in einer Zeit niedergeschrieben, da noch kein Mensch geflogen war, auch Lilienthal nicht. Alles ist noch Theorie. Aber der große Augenblick rückt näher, sagt er, "wo der erste frei fliegende Mensch, und sei es nur für wenige Sekunden, sich mit Hülfe von Flügeln von der Erde erhebt und jenen geschichtlichen Zeitpunkt herbeiführt, den wir bezeichnen müssen als den Anfang einer neuen Kulturepoche". Einige seiner Vorstellungen vom Menschenflug erscheinen heute grotesk. "Zur Hervorrufung der Flügelschläge . . . müßten vor allem die Streckmuskeln der Beine verwendet werden", empfiehlt er. Und meint, "daß die Metalle überhaupt zum Flügelbau nicht zu gebrauchen sind, und daß die Zukunftsflügel wahrscheinlich aus Weidenruten mit leichter Stoffbespannung bestehen werden". Zwischen Meßergebnissen, Zeichnungen und Diagrammen findet sich mancher unwissenschaftliche Stoßseufzer: "O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch du?"
Das Buch stand schon eine Weile verstaubt in den Regalen, als Lilienthal 1891 mit praktischen Flugversuchen begann. Seine brüchigen Weidenrutenflügel brachten ihm den Ruhm des ersten Fliegers, aber auch den Tod. Vor hundert Jahren, 1896, brach er sich das Genick. Die 2. Auflage erreichte dann schon eine Leserschaft, die das Knattern der Motorflugzeuge im Ohr hatte und Lilienthals Leistung zu würdigen begann. In zwei neuen Kapiteln stellte der Bruder Gustav Lilienthal seine Mitwirkung an den Flugversuchen wohl etwas zu groß heraus. Gustav sollte zur tragikomischen Figur werden, als er noch in den dreißiger Jahren an einem riesigen vogelartigen Flugzeug mit schlagenden Flügeln bastelte.
Der niederländische Hochschullehrer Henk Tennekes hat dem suchenden Anfänger Otto Lilienthal vieles voraus - er weiß alles vom Fliegen und alles vom Flugzeugbau, denn das ist sein Fach, und am Leben ist er auch noch. Ein paar seiner Studenten sollen sich beschwert haben: Statt Flugzeugbau liest er immer nur Biologie! "The Simple Science of Flight - From Insects to Jumbo Jets" heißt das Buch, in das etwas von jenem Charme eingeflossen ist, der des Professors Vorlesungen auszuzeichnen scheint. Tennekes hat die Eigenart, die Unterschiede zwischen fliegenden Tieren und fliegenden Maschinen zu vernachlässigen, um ihre Gemeinsamkeiten vorzuführen.
Er vergleicht Spannweite, Flächenbelastung, Energieverbrauch und rechnet vor, warum sie langsame oder schnelle, gute oder schlechte Flieger sind. Seine Artenvielfalt reicht von der Fruchtfliege bis zur Boeing 747, die 500 Milliarden mal so schwer ist, aber nur hundertmal so schnell fliegt. Übrigens ein sparsames Flugzeug: Es verbraucht 12000 Liter Kerosin in der Stunde, etwa drei Prozent seines eigenen Gewichts; dagegen kommt der nektarsaugende Kolibri, dieser Verschwender, auf 4 Prozent, ohne ein Gramm Nutzlast zu befördern. Fehlt nur, daß der Zahlenkünstler auch noch den Preis eines Flugtickets für den Fall berechnet, daß Jumbo-Jets mit Nektar angetrieben werden.
Aber Vorsicht! Der geistreiche Autor ist eben doch Lehrer, nicht Unterhaltungsschriftsteller. Wer da meint, Flugwissenschaft lasse sich ganz ohne Physik, ganz ohne Formeln verstehen, der fällt auch bei Tennekes durch. DIETER VOGT
Otto Lilienthal: "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst".Reprint der 2. Auflage von 1910. R. Oldenbourg Verlag, München 1996. 202 S., zahlreiche Abb., geb., 48,- DM.
Henk Tennekes: "The Simple Science of Flight - From Insects to Jumbo Jets". The MIT Press, Cambridge/Massachusetts, London 1996. 138 S., geb., 13,95 brit.Pfund.
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Lilienthal und andere Flattermänner: Neues über die berechenbare Kunst des Fliegens
In Gaertners Verlagshandlung, Berlin, erschien 1889 ein Buch, das zu den hoffnungslosesten Ladenhütern seiner Zeit wurde. Es stand Jahre in den Regalen und fand nicht einmal dreihundert Käufer. Da heißt es immer, der Traum vom Fliegen sei so alt wie die Menschheit, aber als er wahr zu werden versprach, hat die Menschheit geschlafen. "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" von Otto Lilienthal war die wichtigste flugtechnische Schrift des neunzehnten Jahrhunderts. Die liegengebliebene Erstausgabe wird im Jumbo-Zeitalter mit Tausendmarkscheinen bezahlt.
Wer das alte Buch mit seinen Erkenntnissen, Irrtümern und Visionen heute wieder in die Hand nimmt, ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Heiterkeit. Lilienthal hat gewissermaßen tief Luft geholt, um die Leser mit einem langen poetischen Satz einzustimmen: "Alljährlich, wenn der Frühling kommt und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen, wenn die Störche, zu ihren alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen..." So kommt er auf die Flugsehnsucht des Menschen zu sprechen. Otto Lilienthal, Ingenieur und Maschinenfabrikant in Berlin, ist besessen von der Idee des Fliegens. Er hat jahrelang den Flug der Vögel beobachtet, das Gefieder von Störchen untersucht und sinnreiche Apparate zur Messung der Luftkräfte erdacht. "Die Kraft, durch welche der fliegende Vogel gehoben wird" heißt ein Kapitel. Ein anderes: "Über die Arbeit beim Vorwärtsfliegen mit gewölbten Flügeln".
Der Vogelflug unterliegt mathematischen Gesetzen, das ahnte schon Leonardo. Aber erst Lilienthal begründet die Flugphysik, deren Sprache er noch erfinden muß. Auftrieb und Vortrieb sind unbekannte Begriffe; er schreibt Hebedruck und Treibedruck. Seine wichtigste Entdeckung ist, daß Flügel nicht platt wie Bretter, sondern gewölbt sein müssen, um Auftrieb zu erzeugen. Darauf beruht die Aerodynamik bis zum heutigen Tag. Lilienthal resiimiert, "daß wirklich kein Naturgesetz vorhanden ist, welches wie ein unüberwindlicher Riegel sich der Lösung des Fliegeproblems vorschiebt". Übrigens wäre man schon weiter, hätten nicht so viele große Geister ihre Zeit damit vergeudet, den Ballon lenkbar machen zu wollen.
Der R. Oldenbourg Verlag, der nun einen "Reprint der 2., vermehrten Auflage von 1910" vorlegt, hätte gut daran getan, ein erklärendes Nachwort hinzuzufügen. Wer das Buch nicht schon kannte, wird seine Einmaligkeit nicht würdigen können. Die Beobachtungen und Berechnungen sind in einer Zeit niedergeschrieben, da noch kein Mensch geflogen war, auch Lilienthal nicht. Alles ist noch Theorie. Aber der große Augenblick rückt näher, sagt er, "wo der erste frei fliegende Mensch, und sei es nur für wenige Sekunden, sich mit Hülfe von Flügeln von der Erde erhebt und jenen geschichtlichen Zeitpunkt herbeiführt, den wir bezeichnen müssen als den Anfang einer neuen Kulturepoche". Einige seiner Vorstellungen vom Menschenflug erscheinen heute grotesk. "Zur Hervorrufung der Flügelschläge . . . müßten vor allem die Streckmuskeln der Beine verwendet werden", empfiehlt er. Und meint, "daß die Metalle überhaupt zum Flügelbau nicht zu gebrauchen sind, und daß die Zukunftsflügel wahrscheinlich aus Weidenruten mit leichter Stoffbespannung bestehen werden". Zwischen Meßergebnissen, Zeichnungen und Diagrammen findet sich mancher unwissenschaftliche Stoßseufzer: "O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch du?"
Das Buch stand schon eine Weile verstaubt in den Regalen, als Lilienthal 1891 mit praktischen Flugversuchen begann. Seine brüchigen Weidenrutenflügel brachten ihm den Ruhm des ersten Fliegers, aber auch den Tod. Vor hundert Jahren, 1896, brach er sich das Genick. Die 2. Auflage erreichte dann schon eine Leserschaft, die das Knattern der Motorflugzeuge im Ohr hatte und Lilienthals Leistung zu würdigen begann. In zwei neuen Kapiteln stellte der Bruder Gustav Lilienthal seine Mitwirkung an den Flugversuchen wohl etwas zu groß heraus. Gustav sollte zur tragikomischen Figur werden, als er noch in den dreißiger Jahren an einem riesigen vogelartigen Flugzeug mit schlagenden Flügeln bastelte.
Der niederländische Hochschullehrer Henk Tennekes hat dem suchenden Anfänger Otto Lilienthal vieles voraus - er weiß alles vom Fliegen und alles vom Flugzeugbau, denn das ist sein Fach, und am Leben ist er auch noch. Ein paar seiner Studenten sollen sich beschwert haben: Statt Flugzeugbau liest er immer nur Biologie! "The Simple Science of Flight - From Insects to Jumbo Jets" heißt das Buch, in das etwas von jenem Charme eingeflossen ist, der des Professors Vorlesungen auszuzeichnen scheint. Tennekes hat die Eigenart, die Unterschiede zwischen fliegenden Tieren und fliegenden Maschinen zu vernachlässigen, um ihre Gemeinsamkeiten vorzuführen.
Er vergleicht Spannweite, Flächenbelastung, Energieverbrauch und rechnet vor, warum sie langsame oder schnelle, gute oder schlechte Flieger sind. Seine Artenvielfalt reicht von der Fruchtfliege bis zur Boeing 747, die 500 Milliarden mal so schwer ist, aber nur hundertmal so schnell fliegt. Übrigens ein sparsames Flugzeug: Es verbraucht 12000 Liter Kerosin in der Stunde, etwa drei Prozent seines eigenen Gewichts; dagegen kommt der nektarsaugende Kolibri, dieser Verschwender, auf 4 Prozent, ohne ein Gramm Nutzlast zu befördern. Fehlt nur, daß der Zahlenkünstler auch noch den Preis eines Flugtickets für den Fall berechnet, daß Jumbo-Jets mit Nektar angetrieben werden.
Aber Vorsicht! Der geistreiche Autor ist eben doch Lehrer, nicht Unterhaltungsschriftsteller. Wer da meint, Flugwissenschaft lasse sich ganz ohne Physik, ganz ohne Formeln verstehen, der fällt auch bei Tennekes durch. DIETER VOGT
Otto Lilienthal: "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst".Reprint der 2. Auflage von 1910. R. Oldenbourg Verlag, München 1996. 202 S., zahlreiche Abb., geb., 48,- DM.
Henk Tennekes: "The Simple Science of Flight - From Insects to Jumbo Jets". The MIT Press, Cambridge/Massachusetts, London 1996. 138 S., geb., 13,95 brit.Pfund.
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