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Neun Aufsätze über die Ähnlichkeit von Borcherts Beckmann mit John Rambo, Walter Benjamins Karl-Kraus-Lektüre, das Ende der westdeutschen Linken, die Art und Weise, wie das deutsche Feuilleton Robert Gernhardt liest, den Gebrauch des Wortes "Ich" bei Jean Amery, Helmut Kohls Versuch, eine nationale Gedenkstätte zu schaffen, das Erleben des Krieges und seine ästhetische Konsequenz im Werk Arno Schmidts, Ulrich Sonnemanns Übersetzung von Barbara Garsons "Macbird" - und eine realexistierende Rezension eines fiktiven Wenderomans.

Produktbeschreibung
Neun Aufsätze über die Ähnlichkeit von Borcherts Beckmann mit John Rambo, Walter Benjamins Karl-Kraus-Lektüre, das Ende der westdeutschen Linken, die Art und Weise, wie das deutsche Feuilleton Robert Gernhardt liest, den Gebrauch des Wortes "Ich" bei Jean Amery, Helmut Kohls Versuch, eine nationale Gedenkstätte zu schaffen, das Erleben des Krieges und seine ästhetische Konsequenz im Werk Arno Schmidts, Ulrich Sonnemanns Übersetzung von Barbara Garsons "Macbird" - und eine realexistierende Rezension eines fiktiven Wenderomans.
Autorenporträt
Jan Philipp Reemtsma, geboren 1952 in Bonn, ist unter Geisteswissenschaftlern und Intellektuellen ein fester Begriff. Er lebt und lehrt in Hamburg, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und der Arno-Schmidt-Stiftung. Er ist Mitherausgeber der Werke Arno Schmidts und Autor zahlreicher Bücher. 1997 erhielt er den Lessing-Preis der Freien Hansestadt Hamburg, im Jahr 2015 den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.1996

Der viele, viele Schnee
Jan Philipp Reemtsmas Essays über Literatur und Schuld

In Jan Philipp Reemtsmas Aufsatz "Deutsche Linke 91" stehen zwei Sätze, die für seine Haltung charakteristisch sind und das Grundmuster seiner kritischen, essayistischen Schreibweise bestimmen: "Weder ist ja die Behauptung richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland mit der NS-Vergangenheit radikal gebrochen habe (man denke an personale und ökonomische Kontinuitäten), noch ist es richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland nur die Fortsetzung des NS-Staates mit anderen Mitteln sei. Es liegt die Wahrheit auch nicht irgendwo in der Mitte, sondern sie ist eine widersprüchliche Einheit aus beidem."

Im ersten Satz spiegeln sich Formen der eigenen Sozialisation und deren konkrete Folgen: Die Erfahrung eines nationalsozialistisch belasteten Elternhauses führte erst zur Verabschiedung aus der autoritären Erziehung, dann zur Veräußerung der geerbten väterlichen Ökonomie (unter Beibehaltung von deren Ertrag) und zur Zerstörung des elterlichen Hauses, um schließlich auf demselben Grund ein eigenes (dem Jugendstil nachempfundenes) Haus zu errichten, dessen Erscheinung vor jene Zeit reicht, da der Vater (die Eltern?) schuldig werden konnte.

Der zweite Satz erschließt gleichsam die intellektuellen Forderungen, die mit solchem konkreten Handeln in Einklang stehen: Suche nach Wahrheit, und zwar nicht als preiswerter Kompromiß, mit dem die meisten sich durchs Leben schlagen, sondern als Entschlüsselung komplexer Zusammenhänge, als Erkenntnis, die schmerzt. (Weshalb denn im Hintergrund von Reemtsmas Aufsätzen, neben Benjamin und Adorno, auch Freud ein wichtiger Spiritus rector ist).

Der Aufsatz (mit dem Untertitel "Sozialpsychologische Gedanken zur Architektur einer Ruine"), in dem die beiden zitierten Sätze stehen, ist selbst ein Muster für Reemtsmas komplexes Erkenntnisinteresse. Er analysiert das Verschwinden der bundesrepublikanischen Linken nach der "Neuvereinigung" als Folge ihrer unselbständigen, deshalb von vornherein ruinösen Disposition in der Geschichte der Bundesrepublik: abhängig, weil nicht autark einer eigenen "Architektur" vertrauend, sondern jeweils als negierende Ambivalenz-Alternative der traditionellen deutschen Mentalität angeschmiegt, die von der offiziellen Politik vertreten, weil demokratisch verordnet wurde.

Dahinter erkennt Reemtsma das komplexe Verhaltensmuster einer widersprüchlichen Versöhnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit: "Die mentale Gründungsbedingung der Bundesrepublik Deutschland wird von dem Eingeständnis eines zumindest säkularen Verbrechens und dem Dispens seiner Ahndung geprägt." Weshalb die autoritätsgewohnten Deutschen sich mit dem "stärksten Sieger" identifizierten - "man liebt die Macht, die zu strafen das Recht / die Macht hatte und die man darum fürchtete". Und die diese Strafe aussetzte und zugleich den "Strafdispens" weltweit garantierte.

Die antiautoritäre Kritik an der autoritären deutschen Mentalität, wie sie sich in den fünfziger Jahren politisch herausbildete (und die in den Sechzigern zur Krise geriet), richtete sich damit wie selbstverständlich auch gegen die mit der Bundesrepublik verbündete Siegermacht Amerika.

Reemtsma kritisiert die Linke, weil sie sich nicht radikal gelöst habe aus der Schuld-Sühne-Ambivalenz und also in der autoritären Mentalität verharrte - ihr Verhalten: "Camouflage und Rollenspiel". Denn die ",Linke' blieb den Inhalten des sozialen Unbewußten der Bundesrepublik Deutschland verhaftet". Und ist deshalb also auch der wirklichen Auseinandersetzung mit den "zivilen Massenmorden der Deutschen zwischen 1933 und 1945" aus dem Wege gegangen, mit jenem Völkermord, der von der offiziellen Bundesrepublik Deutschland in einer "Aura der Unwirklichkeit", "zwischen ideologischer Ächtung und praktischer Nicht-Ahndung", belassen wurde und im ",Faschismusbegriff der ,Linken'" "so etwas wie ein regionalspezifisches Beiwerk gewesen ist".

In der Erkenntnis dieser nationalen Unterlassung - und vielleicht sogar im Leiden daran - liegt ein wesentlicher Kern von Reemtsmas Verantwortungsbewußtsein als Publizist, seines Engagements als Gründer und Lenker des Hamburger Instituts für Sozialforschung, als Helfer vieler wichtiger kultureller und sozialer Initiativen. Diese Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und danach, solche Wahrheit wenigstens ansatzweise ins Bewußtsein zu heben, diese Obsession, die sein Leben richtete, liest man in fast allen Aufsätzen Reemtsmas - nicht nur in diesem Band - mit. Und man vernahm sie jüngst in Reemtsmas Einlassungen zur Goldhagen-ebatte.

Freilich ist Reemtsma, vielleicht beschwert mit dem Versuch, seine Argumente theoretisch wasserdicht zu sichern, häufig nicht eben leicht lesbar. Vorträge wie jener, der diesem Band den merkwürdigen Titel gab, eine Analyse von "Nationalsozialismus und Nachkrieg als Textmerkmale bei Arno Schmidt", möchte man lieber lesen als hören. Wogegen ein Text aus der, so Reemtsma, "Linkspostille ,konkret'" zur widersprüchlich-komplexen Auseinandersetzung um die Gedenkstätte in der Berliner Neuen Wache, "Der viele viele Schnee", pointiert und humorvoll politische und intellektuelle Mentalitätsgeschichte des neuen größeren Landes schreibt.

Auch der Vortrag "Generation ohne Abschied", der sich "Wolfgang Borchert als Angebot" vornimmt, zeichnet zwei ineinander verschlungene Spuren: eine der Mentalität seiner Leser und Adepten und eine andere, die jenen Seelenkitsch herausarbeitet, dem Borcherts Kunstbemühen häufig auf den Leim geht.

Auch in diesem Text wie in fast allen Arbeiten Jan Philipp Reemtsmas liest man moralisch fordernde Entwürfe, die sich mit Reemtsmas Herkunft begründen lassen; und seine obsessiven Auseinandersetzungen mit der Mentalität des Vergessens und Leugnens von Schuld sind stringente anthropologische Ableitungen und Ideologie-Analysen, die durchaus auch spekulative und hypothetische Anteile haben - wie sonst käme Denken in Gang!

Nur wird man bei aller moralischen Unerbittlichkeit, die Reemtsmas Texte häufig ausstrahlen, ihnen eine ideologische Selbstinfizierung, der radikale Ideologiekritik mitunter verfällt, nicht nachsagen dürfen - die Immunität davor bewahrt, im Zusammenhang des Borchert-Vortrags, eine Erinnerung an Adornos "Schuld und Abwehr"-Kapitel aus "Gruppenexperiment", die zu der Erkenntnis Reemtsmas führt: "Der moralische Anspruch, der an der Realität dessen, was Menschen psychisch leisten können, vorbeisieht, wird ein ideologischer. Er macht sich nicht nur latent lächerlich, sondern lügt auch über die Wirklichkeit." HEINZ LUDWIG ARNOLD

Jan Philipp Reemtsma: "Der Vorgang des Ertaubens nach dem Urknall". Essays und Aufsätze. Haffmans Verlag, Zürich 1996. 270 S., geb., 48,- DM.

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