Das Jahr 1989 bedeutete für die osteuropäischen Staaten Polen, Ungarn, DDR, CSSR, Bulgarien und Rumänien nach jahrzehntenlanger Abhängigkeit von der UdSSR und Herrschaft der kommunistischen Diktatur einen tiefen Einschnitt: endlich konnten diese Länder ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, demokratische Strukturen aufbauen und den Anschluß an das westliche Europa suchen. Der Schriftsteller György Dalos erzählt, wie der Prozeß der Loslösung in Gang kam, welche Zufälle und Details eine Rolle spielten und welche Widerstände überwunden werden mussten, bevor aus dem Ostblock hinter dem Eisernen Vorhang ein östliches Europa werden konnte. Die Massenflucht der DDR-Bürger über die ungarische Grenze oder der gemeinsame Auftritt von Václav Havel und Aleksander Dubcek auf dem Prager Wenzelsplatz - diese Ereignisse bezeugen eindrucksvoll eine historische Massenaktivität, einen euphorischen und ungebremsten Freiheitsdrang. Diese sich beschleunigende Befreiungsbewegung erhielt in den betreffenden Ländern Namen wie "Systemwechsel", "Wende" oder auch "Revolution" - in jedem Fall leitete sie einen Prozeß ein, der zu Demokratie, nationaler Souveränität und einem neuen europäischen Selbstverständnis führte.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2009Von Plauen bis Plovdiv
György Dalos erzählt vom Ende der osteuropäischen Dikaturen
Man kann lange darüber streiten, ob das osteuropäische Revolutionsjahr 1989, das sechs kommunistische Diktaturen beendete, in Polen oder Ungarn begann. Am 10. Januar beschloss das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) die Zulassung politischer Parteien, wenige Tage später folgten die polnischen Genossen und akzeptierten den politischen Pluralismus. In Budapest wie Warschau sanktionierte der Beschluss Entwicklungen, die Monate vorher begonnen hatten. Die Polen aber bereiteten den Machtwechsel mit besonderem Stilgefühl vor: Bereits im Spätsommer 1988 erhielt die Möbelwerkstatt Henryków, die bis heute zu den besten Europas gehört, den Auftrag, einen runden Tisch nebst 58 Stühlen zu fabrizieren. Die private Firma hatte bereits die Kammern im wiedererstandenen Warschauer Königsschloss eingerichtet und den Papstthron für Johannes Paul II. gefertigt. Den runden Tisch lieferte sie rechtzeitig. Er war aus vierzehn Elementen zusammengesetzt und besaß einen Durchmesser von neun Metern. Nirgendwo sonst in Osteuropa blieb den Machthabern ausreichend Zeit, sich um Formfragen zu kümmern. In Prag, Ost-Berlin und Sofia würde man sie hilflos und getrieben erleben.
Aber nicht nur aus Stilgründen gebührt wohl den Polen der Vortritt. Sie fanden mit dem Runden Tisch eine Institution, die sich andere zum Vorbild nahmen; und auch die Teilung der Macht für eine Übergangszeit – „Wasz prezydent, nasz premier” (Euer Präsident, unser Premier) – gewann Modellcharakter. Angesichts der polnischen Geschichte, der dichten Folge niedergeschlagener Aufstände und Streiks, des Kriegsrechts und der unversöhnlichen Feindschaften kann man die zivile Kraft nur bewundern, mit der dieser friedliche Wandel in Szene gesetzt wurde.
Dennoch beginnt der ungarische Schriftsteller György Dalos seine Geschichte der osteuropäischen Befreiung weder in Warschau noch in Budapest. Er führt die Leser zunächst in das Moskau des Jahres 1985. Konstantin Ustinowitsch Tschernenko war, nach nur einem Jahr im Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 10. März verstorben. Am folgenden Tag übernahm Michail Sergejewitsch Gorbatschow die Führung des Imperiums. Bewährtem Ritual folgend, organisierte er die Beerdigung seines Vorgängers, zu der die Spitzenpolitiker der Bruderländer sämtlich erschienen. Der neue Mann im Kreml war gerade 54 Jahre alt geworden, mithin der jüngste in der Runde der Ostblock-Chefs. Unveröffentlicht blieb damals seine Bemerkung, dass die Sowjetunion nicht wenige wirtschaftliche Sorgen habe, „aber wir wissen, dass auch die Lage der anderen sozialistischen Länder nicht einfach ist. Mit den ökonomischen Problemen der befreundeten Länder beschäftigen wir uns so wie mit den eigenen.”
Ungarn war 1985 mit 14 Milliarden US-Dollar verschuldet, Polen mit 30 Milliarden; Bulgarien stand vor dem Kollaps und begann eben damals mit einer so schäbigen wie verhängnisvollen Kampagne zur „Bulgarisierung”, die bald in die Vertreibung der türkischen Bürger des Landes münden sollte; Ceausescu ruinierte sein Land durch den Versuch, in kürzester Zeit und ohne Rücksicht auf die notleidende Bevölkerung sämtliche Auslandskredite zurückzuzahlen; die Tschechoslowakei wie die DDR waren zwar wirtschaftlich leistungsfähiger, wurden aber von besonders uneinsichtigen Betonköpfen geführt. Mochte Gorbatschow auch die weitere Fürsorge des Lehnsherren versprechen, er konnte die Länder des Warschauer Vertrages, deren Schuldenberg auf insgesamt achtzig Milliarden Dollar angewachsen war, nicht sanieren. Dazu fehlte ihm die Kraft und bald auch der Wille.
Die Bruderländer gehörten – wie der Afghanistan-Krieg und die Rüstungsausgaben – zu den Belastungen des Reformprogramms, das unter dem Namen Perestrojka der Sowjetunion verordnet wurde. Im Juli 1986 sprach Gorbatschow Klartext, freilich ohne dies mit Honecker, Husák oder Kádár abzusprechen: „Uns allen ist bewusst, dass unsere Beziehungen zu den sozialistischen Ländern in eine neue Etappe eingetreten sind. Wie es war, kann es nicht weitergehen. Die Methoden, die wir gegenüber der Tschechoslowakei und Ungarn anwendeten, sind unannehmbar (. . .) Wir können keine administrative Methode in der Führung anwenden (. . .) Im Grunde brauchen wir diese Führung über sie gar nicht. Dass bedeutet nämlich, dass wir sie uns auf den Hals laden.”
Es brauchte seine Zeit, bis die Ostblock-Gerontokratie die neue Moskauer Linie verstand. Sie sollte den Kurswechsel nicht lange überleben. Wie sie im einzelnen zu Zugeständnissen gezwungen und schließlich entmachtet wurde – als letzter im Jahr 1989 der Conducator Ceausescu –, schildert György Dalos in sechs hinreißenden Kapiteln. So wie er die Geschichte des Durchbruchs in Polen mit dem Möbelstück der Firma Henryków beginnt, so findet er in jedem Fall ein überraschendes Detail. Dass etwa Spaniens Abschied von Franco für polnische Intellektuelle ein Vorbild abgab, ist wenig bekannt. Und wer weiß schon auf Anhieb, dass die DDR 1967 mehr Fernsehgeräte pro 1000 Einwohner besaß als alle Bruderländer – aber auch als die Bundesrepublik? Dieser Erfolg in der „Schlacht gegen den Klassenfeind” brachte es allerdings mit sich, dass die Ostdeutschen in zwei Welten lebten: der eigenen, alltäglichen und der Fernsehwelt West.
Zum Blick für sprechende Details, zur Vorliebe für politische Witze und surreale Szenen tritt als weiterer Vorzug ein mit Ironie durchtränkter Erzählton, ein Stil, eine Haltung, die zum republikanischen Augenblick der Selbstermächtigung bestens passen. Über Todor Schiwkow und die anderen Ostblockführer heißt es, sie seien zweite Garnitur gewesen und zeugten „von einem gewissen ,Niveauverlust’ der Tyrannei”. Knapp und treffend wird darauf hingewiesen, dass „alle kommunistischen Regimes” immun waren, gegenüber „der Anklage, undemokratisch zu sein”, aber sehr sensibel reagierten, „wenn die Treue zu ihrer Nation in Zweifel gezogen wurde”. Den sich Emanzipierenden bescheinigt Dalos: „In der Tat stellten sich die von der Diktatur befreiten ehemaligen Ostblockstaaten voll infantiler Hoffnungen, die Hand aufhaltend, in die Warteschlange vor ihrer Zukunft.”
Dieser Autor kennt die Welt, über die er schreibt, aus eigenem Erleben sehr genau. Dalos hat in Moskau studiert, die demokratische Opposition in Ungarn mitbegründet, Repressalien erlitten, die Warschauer-Pakt-Staaten vielfach bereist. Sein Buch ist eine arge Enttäuschung für alle Revolutionsromantiker. Oft wirkt es wie ein Gegengift zur Heroisierung der jüngsten Vergangenheit. An seinen Sympathien für Bürger- und Menschenrechtler lässt Dalos keinen Zweifel, aber er arbeitet nicht an Marmorstandbildern. Zufälle, Illusionen, verdrängte Konflikte und Lebenslügen finden ihren angemessenen Platz. Der Spott über die Kopflosigkeit und den Starrsinn der Gestürzten wirkt urban, ganz frei vom Beigeschmack des Nachtretens.
Ohne zu belehren, entfaltet Dalos auf wenigen Seiten, mit großem kompositorischen Geschick ein Panorama Osteuropas, das auch die Gegenwart erschließt, jedem auf die Sprünge hilft, der sich über aktuelle Absonderlichkeiten wundert. Man kann nur bedauern, dass für die baltischen Staaten in diesem Buch kein Platz war. Statt dessen schließt es mit einem Text, einer Utopie aus dem Jahr 1985: „Die Befreiung der Sowjetunion von ihren Satelliten”. Gewiss „unrealistisches Gerede”, heißt es da, wozu es führe wisse man noch nicht. „Wozu aber die jahrzehntelange Tätigkeit der Verantwortlichen und Realisten geführt hat, das wissen wir bereits”. Es kann nicht schaden, die Europäer im Jubiläums- und Krisenjahr 2009 an diesen Geist zu erinnern. JENS BISKY
GYÖRGY DALOS: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. Verlag C.H. Beck, München 2009. 272 Seiten, 19,90 Euro.
Im Juli 1986 wollte Gorbatschow die „Bruderländer” nicht länger am Hals haben
Schiwkow, Honecker und Husák zeugten vom „Niveauverlust” der Tyrannei
Der Held des Prager Frühlings, Alexander Dubcek, vor den demonstrierenden Massen der „samtenen Revolution”. Foto: dpa
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György Dalos erzählt vom Ende der osteuropäischen Dikaturen
Man kann lange darüber streiten, ob das osteuropäische Revolutionsjahr 1989, das sechs kommunistische Diktaturen beendete, in Polen oder Ungarn begann. Am 10. Januar beschloss das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) die Zulassung politischer Parteien, wenige Tage später folgten die polnischen Genossen und akzeptierten den politischen Pluralismus. In Budapest wie Warschau sanktionierte der Beschluss Entwicklungen, die Monate vorher begonnen hatten. Die Polen aber bereiteten den Machtwechsel mit besonderem Stilgefühl vor: Bereits im Spätsommer 1988 erhielt die Möbelwerkstatt Henryków, die bis heute zu den besten Europas gehört, den Auftrag, einen runden Tisch nebst 58 Stühlen zu fabrizieren. Die private Firma hatte bereits die Kammern im wiedererstandenen Warschauer Königsschloss eingerichtet und den Papstthron für Johannes Paul II. gefertigt. Den runden Tisch lieferte sie rechtzeitig. Er war aus vierzehn Elementen zusammengesetzt und besaß einen Durchmesser von neun Metern. Nirgendwo sonst in Osteuropa blieb den Machthabern ausreichend Zeit, sich um Formfragen zu kümmern. In Prag, Ost-Berlin und Sofia würde man sie hilflos und getrieben erleben.
Aber nicht nur aus Stilgründen gebührt wohl den Polen der Vortritt. Sie fanden mit dem Runden Tisch eine Institution, die sich andere zum Vorbild nahmen; und auch die Teilung der Macht für eine Übergangszeit – „Wasz prezydent, nasz premier” (Euer Präsident, unser Premier) – gewann Modellcharakter. Angesichts der polnischen Geschichte, der dichten Folge niedergeschlagener Aufstände und Streiks, des Kriegsrechts und der unversöhnlichen Feindschaften kann man die zivile Kraft nur bewundern, mit der dieser friedliche Wandel in Szene gesetzt wurde.
Dennoch beginnt der ungarische Schriftsteller György Dalos seine Geschichte der osteuropäischen Befreiung weder in Warschau noch in Budapest. Er führt die Leser zunächst in das Moskau des Jahres 1985. Konstantin Ustinowitsch Tschernenko war, nach nur einem Jahr im Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 10. März verstorben. Am folgenden Tag übernahm Michail Sergejewitsch Gorbatschow die Führung des Imperiums. Bewährtem Ritual folgend, organisierte er die Beerdigung seines Vorgängers, zu der die Spitzenpolitiker der Bruderländer sämtlich erschienen. Der neue Mann im Kreml war gerade 54 Jahre alt geworden, mithin der jüngste in der Runde der Ostblock-Chefs. Unveröffentlicht blieb damals seine Bemerkung, dass die Sowjetunion nicht wenige wirtschaftliche Sorgen habe, „aber wir wissen, dass auch die Lage der anderen sozialistischen Länder nicht einfach ist. Mit den ökonomischen Problemen der befreundeten Länder beschäftigen wir uns so wie mit den eigenen.”
Ungarn war 1985 mit 14 Milliarden US-Dollar verschuldet, Polen mit 30 Milliarden; Bulgarien stand vor dem Kollaps und begann eben damals mit einer so schäbigen wie verhängnisvollen Kampagne zur „Bulgarisierung”, die bald in die Vertreibung der türkischen Bürger des Landes münden sollte; Ceausescu ruinierte sein Land durch den Versuch, in kürzester Zeit und ohne Rücksicht auf die notleidende Bevölkerung sämtliche Auslandskredite zurückzuzahlen; die Tschechoslowakei wie die DDR waren zwar wirtschaftlich leistungsfähiger, wurden aber von besonders uneinsichtigen Betonköpfen geführt. Mochte Gorbatschow auch die weitere Fürsorge des Lehnsherren versprechen, er konnte die Länder des Warschauer Vertrages, deren Schuldenberg auf insgesamt achtzig Milliarden Dollar angewachsen war, nicht sanieren. Dazu fehlte ihm die Kraft und bald auch der Wille.
Die Bruderländer gehörten – wie der Afghanistan-Krieg und die Rüstungsausgaben – zu den Belastungen des Reformprogramms, das unter dem Namen Perestrojka der Sowjetunion verordnet wurde. Im Juli 1986 sprach Gorbatschow Klartext, freilich ohne dies mit Honecker, Husák oder Kádár abzusprechen: „Uns allen ist bewusst, dass unsere Beziehungen zu den sozialistischen Ländern in eine neue Etappe eingetreten sind. Wie es war, kann es nicht weitergehen. Die Methoden, die wir gegenüber der Tschechoslowakei und Ungarn anwendeten, sind unannehmbar (. . .) Wir können keine administrative Methode in der Führung anwenden (. . .) Im Grunde brauchen wir diese Führung über sie gar nicht. Dass bedeutet nämlich, dass wir sie uns auf den Hals laden.”
Es brauchte seine Zeit, bis die Ostblock-Gerontokratie die neue Moskauer Linie verstand. Sie sollte den Kurswechsel nicht lange überleben. Wie sie im einzelnen zu Zugeständnissen gezwungen und schließlich entmachtet wurde – als letzter im Jahr 1989 der Conducator Ceausescu –, schildert György Dalos in sechs hinreißenden Kapiteln. So wie er die Geschichte des Durchbruchs in Polen mit dem Möbelstück der Firma Henryków beginnt, so findet er in jedem Fall ein überraschendes Detail. Dass etwa Spaniens Abschied von Franco für polnische Intellektuelle ein Vorbild abgab, ist wenig bekannt. Und wer weiß schon auf Anhieb, dass die DDR 1967 mehr Fernsehgeräte pro 1000 Einwohner besaß als alle Bruderländer – aber auch als die Bundesrepublik? Dieser Erfolg in der „Schlacht gegen den Klassenfeind” brachte es allerdings mit sich, dass die Ostdeutschen in zwei Welten lebten: der eigenen, alltäglichen und der Fernsehwelt West.
Zum Blick für sprechende Details, zur Vorliebe für politische Witze und surreale Szenen tritt als weiterer Vorzug ein mit Ironie durchtränkter Erzählton, ein Stil, eine Haltung, die zum republikanischen Augenblick der Selbstermächtigung bestens passen. Über Todor Schiwkow und die anderen Ostblockführer heißt es, sie seien zweite Garnitur gewesen und zeugten „von einem gewissen ,Niveauverlust’ der Tyrannei”. Knapp und treffend wird darauf hingewiesen, dass „alle kommunistischen Regimes” immun waren, gegenüber „der Anklage, undemokratisch zu sein”, aber sehr sensibel reagierten, „wenn die Treue zu ihrer Nation in Zweifel gezogen wurde”. Den sich Emanzipierenden bescheinigt Dalos: „In der Tat stellten sich die von der Diktatur befreiten ehemaligen Ostblockstaaten voll infantiler Hoffnungen, die Hand aufhaltend, in die Warteschlange vor ihrer Zukunft.”
Dieser Autor kennt die Welt, über die er schreibt, aus eigenem Erleben sehr genau. Dalos hat in Moskau studiert, die demokratische Opposition in Ungarn mitbegründet, Repressalien erlitten, die Warschauer-Pakt-Staaten vielfach bereist. Sein Buch ist eine arge Enttäuschung für alle Revolutionsromantiker. Oft wirkt es wie ein Gegengift zur Heroisierung der jüngsten Vergangenheit. An seinen Sympathien für Bürger- und Menschenrechtler lässt Dalos keinen Zweifel, aber er arbeitet nicht an Marmorstandbildern. Zufälle, Illusionen, verdrängte Konflikte und Lebenslügen finden ihren angemessenen Platz. Der Spott über die Kopflosigkeit und den Starrsinn der Gestürzten wirkt urban, ganz frei vom Beigeschmack des Nachtretens.
Ohne zu belehren, entfaltet Dalos auf wenigen Seiten, mit großem kompositorischen Geschick ein Panorama Osteuropas, das auch die Gegenwart erschließt, jedem auf die Sprünge hilft, der sich über aktuelle Absonderlichkeiten wundert. Man kann nur bedauern, dass für die baltischen Staaten in diesem Buch kein Platz war. Statt dessen schließt es mit einem Text, einer Utopie aus dem Jahr 1985: „Die Befreiung der Sowjetunion von ihren Satelliten”. Gewiss „unrealistisches Gerede”, heißt es da, wozu es führe wisse man noch nicht. „Wozu aber die jahrzehntelange Tätigkeit der Verantwortlichen und Realisten geführt hat, das wissen wir bereits”. Es kann nicht schaden, die Europäer im Jubiläums- und Krisenjahr 2009 an diesen Geist zu erinnern. JENS BISKY
GYÖRGY DALOS: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. Verlag C.H. Beck, München 2009. 272 Seiten, 19,90 Euro.
Im Juli 1986 wollte Gorbatschow die „Bruderländer” nicht länger am Hals haben
Schiwkow, Honecker und Husák zeugten vom „Niveauverlust” der Tyrannei
Der Held des Prager Frühlings, Alexander Dubcek, vor den demonstrierenden Massen der „samtenen Revolution”. Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2009Blättern in Beitrittsgebieten
Zwanzig Jahre Mauerfall - wer soll das bitte alles lesen? Ein Eilmarsch durch das Buchgebirge
Plötzlich war die Mauer wieder da. Aufgebaut aus Büchern zu zwanzig Jahren Mauerfall, DDR-Agonie, Wiedervereinigung. Und wer sitzt dahinter, ganz alleine, während alle anderen sich sonst wo rumtreiben dürfen: ich natürlich. Warum interessiert das eigentlich sonst keinen, frag' ich mich manchmal. Und dann muss ich mich aber auch fragen: Interessiert es denn mich überhaupt? Feministische Schriften werden im Wesentlichen auch nur von Frauen gelesen und oft nicht mal von denen. Nennen wir es also Pflichtbewusstsein aus Betroffenheit, gelegentlich dann aber doch wieder übergehend in brennendes Interesse: Das alles hat schließlich mit einem zu tun, man war dabei, es hat alles verändert; und direkt darauf wieder dieser entsetzliche Überdruss: Man war ja, wie gesagt, dabei, hat alles tausendmal gelesen und noch öfter selbst erzählt, es hat einem das Leben verändert - und das spricht ja im Zweifel schon mal gegen einen. Es ist mit diesen Büchern, kurz gesagt, wie mit der Sache selbst.
Fangen wir mal mit dem Erfreulichen an: Christian Saehrendt: "Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation. Studien zur Rolle der bildenden Kunst in der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR" (Franz-Steiner-Verlag). Diese schöne konzise Studie steht nun in einer Reihe mit "Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990" (Nicolai) von Eckhard Gillen, einem westdeutschen Fachmann für ostdeutsche Kunst; daneben steht der Katalog der entschlossen einseitigen Westkunst-Ausstellung "60 Jahre, 60 Werke" (Wienand) - und dem antwortet natürlich kämpferisch die große Mappe "40 Werke aus der DDR" aus dem Verlag Neues Leben, herausgegeben von Elfriede Brüning, einer Kommunistin wirklich alten Schlags (Jahrgang 1910): "Nichts bleibt so, wie es ist. Das ist die Erfahrung meines langen Lebens. Darum blicke ich hoffnungsvoll in die Zukunft. Trotz alledem."
Herrlich breit aufgestellt unser Land, auch auf den Büchertischen, oder? Und so verhält sich das mit den anderen Titeln im Grunde auch: Das reicht von Egon Krenz' "Gefängnis-Notizen" (Edition Ost) bis zu Pfarrer Uwe Holmers Bekenntnisbuch "Der Mann, bei dem Honecker wohnte" (Hänssler): "Frau Honecker wischte, während draußen geschimpft wurde, bei uns zu Hause die Treppe."
Wer braucht da Romane?
Es sind in diesem Herbst vor allem die Zeithistoriker, die ihre Ernte präsentieren können, gereift in zwanzig Jahren Forschung. Und das alles kann man auch lesen wie einen einzigen, großen polyfokalen Achtziger-Jahre-Roman: Alle diese Bücher greifen dauernd ineinander über, sie behandeln ja auch die gleichen Themen, bieten nur verschiedene Perspektiven und setzen andere Schwerpunkte. Eine Geschichte der Mauer gibt es aus britischer Sicht und als künftiges Standardwerk (Frederick Taylor: "Die Mauer - 13. August 1961 bis 9. November 1989", Siedler) sowie als handliches Überblicksbuch (Edgar Wolfrum: "Die Mauer - Geschichte einer Teilung", C. H. Beck); Andreas Rödder erzählt in "Deutschland einig Vaterland" die "Geschichte der Wiedervereinigung" (auch C. H. Beck), während Ilko-Sascha Kowalczuk in "Endspiel" eine Geschichte der "Revolution von 1989 in der DDR" (ebenfalls C. H. Beck) vorlegt, die er zur Abwechslung einmal nicht mit den Montagsdemonstrationen beginnen lässt (oder mit Biermanns Ausbürgerung oder mit Honeckers Machtergreifung und so weiter); für ihn keimt der Umsturz stattdessen am 1. Oktober 1987, als nach dem Ausscheiden von BFC, Lok Leipzig und Dynamo Dresden in den europäischen Pokalturnieren der Platz für den Sportkommentar in der "Jungen Welt" aus Protest weiß blieb; und der Studienband "Das Land ist still - noch. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971-1989)" (Böhlau) weiß da von noch weit renitenteren Umtrieben zu berichten, wogegen Bernd Stöver, in "Zuflucht DDR" (schon wieder C. H. Beck), wissen lässt, weshalb trotzdem verblüffend viele Leute auch in dieser Richtung über die Mauer kamen - und wenn der ungarische Schriftsteller György Dalos das am Ende alles in einem noch viel größeren Panorama aufgehen lässt, indem er, Satellitenstaat für Satellitenstaat, den Zerfall und das Zertrudeln des Ostblocks beschreibt ("Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa", bei C. H. Beck, wo sonst?): Dann möchte man das eigentlich fast am liebsten einmal im Theater inszeniert sehen.
Das Angenehme an diesen Büchern ist natürlich ihre Distanz, ihre professionelle Abgeklärtheit. Selbst ein Beteiligter, ein sogenannter Bürgerrechtler wie der Pfarrer Erhard Neubert ("Unsere Revolution - Die Geschichte der Jahre 1989/90", Piper) schiebt den Jargon strenger Wissenschaftlichkeit wie eine Unterlegscheibe zwischen Stoff und Leser. Heikel wird es ja immer erst dann, wenn die berüchtigten Befindlichkeiten ins Spiel kommen und die Leute sich, wie Wolfgang Thierse das unvorsichtigerweise einmal gefordert hat, ihre Geschichten erzählen. Bei Böhlau ist in diesem Frühjahr schon ein Buch erschienen, das sich liest wie Maxi Wanders "Guten Morgen, du Schöne", nur mit Westdeutschen. Es heißt "Die Wessis - Westdeutsche Führungskräfte beim Aufbau Ost" und versammelt die zum Teil erschütternden Berichte derer, die man im Osten oft zu Unrecht als zweite Wahl, Desperados und Verbannte gebrandmarkt hat.
Wann wir schreien Seit' an Seit'
Nicht weniger erschütternd und aufschlussreich ist allerdings das, was ihre ostdeutschen Vorgänger zu berichten haben, denn schon wer Schivelbuschs "Kultur der Niederlage" gelesen hat, dem mussten ja bei der Beschreibung des amerikanischen Bürgerkriegs die Parallelen ins Auge springen; eine Studie von Stefan Zahlmann brachte beides (ebenfalls bei Böhlau) nun endlich zusammen: "Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989" ist seine Studie unterschrieben, und ihr Titel lautet: "Autobiografische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns", was im Übrigen auch über allem anderen stehen könnte, was über den Osten seit 1990 so zu lesen ist, manchmal allerdings auch mit umgekehrter Verteilung der Adjektive - und wenn da, wie Wolfgang Engler das einmal vorgeschlagen hat, am besten schon von einem Gescheitert-Werden gesprochen werden muss: Welchen Begriff nimmt man dann eigentlich für die Biographien, die der Gesellschaft zum Opfer fielen, als diese sich noch eine entwickelte sozialistische nannte? Das sechzehnjährige Mädchen, das sich regelmäßig in verschwiegenen Wochenendhäuschen unter der Bluse befummeln lassen muss von dem Mann, der es währenddessen über seine Mitschüler ausfragt; die Frau, die später wegen Verdachts auf "Republikflucht" im Gefängnis sitzt, nach der Wende eine Ausbildung zur Logopädin schafft, Patientenberichte schreiben muss, von ihrem Trauma eingeholt wird und jetzt Invalide ist: Das sind so die Geschichten aus "Black Box DDR: Unerzählte Leben unterm SED-Regime" (Marix), das unter anderem von ebenjener Ines Geipel herausgegeben wurde, die, weil sie nicht nur als Leistungssportlerin in der DDR zum Dopingopfer wurde, sondern als solches den von ihr als solche betrachteten Dopingopfern von heute auf den Wecker geht, wie ihr nicht zuletzt der ostdeutsche Diskuswerfer Robert Harting bei den Leichtathletikweltmeisterschaften in Berlin recht deutlich zu erkennen gegeben hat, jene notorische Ines Geipel also, die schon selbst wissen dürfte, dass es Schwarzbücher wie diese sind, die auf der anderen Seite die farbigen Erinnerungsfibeln an den Palast der Republik und das Sandmännchen bedingen - wenn nicht sogar den Einsatz einer Jana Hensel: "Achtung Zone - Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten" sieht genauso aus wie damals "Zonenkinder", es steht im Grunde auch das Gleiche drin, nur der Verlag heißt anders, nämlich Piper statt Rowohlt, es ist eine Art Fortsetzung mit gleichen Mitteln: Sofort ist da wieder dieses engagierte Pionierleiterinnen-Wir, dieser als nachdenklich gelten wollende Tonfall, sofort fühlt man sich sozusagen ganz wie zu Hause, und sofort muss man ihr unbedingt zustimmen, gerade dann, wenn man natürlich am liebsten auf jeder Seite einen Ausreiseantrag stellen möchte aus dieser Zwangsgemeinschaft wegen geistiger Enge, Sprachverlust und allgemeiner Muffigkeit - man muss ihr einfach zustimmen und sagen: Ja, ganz genau, bitte "anders bleiben" dürfen, das wäre über die Maßen wichtig und angenehm.
Denn wenn es etwas gibt, das einem wirklich so richtig auf den Wecker geht seit zwanzig Jahren in Deutschland, dann ist das selbstverständlich das Gejammer und das Genöle, das nostalgische Genörgel, das Ressentiment der Zukurzgekommenen, ganz allgemein also das gebückte Gehechel, das eben immer genau jene Veteranen des Westdeutschen am lautesten bewehklagen, bei denen es am ausgeprägtesten vorkommt. Der offenbar nicht ohne Grund sich so nennende Klaus Bittermann vom Tiamat-Verlag zum Beispiel, der aus dem Umschlagfoto der von ihm selbst herausgegebenen Humoristenanthologie "Unter Zonis - Zwanzig Jahre reichen jetzt so langsam mal wieder" herausschaut wie eine verlotterte Oma, die man nach all den Jahren mal von ihrem Kreuzberger Schwafelstammtisch wegschleppen und auf die Straße, in die Wirklichkeit, in die Gegenwart stellen müsste, zum Auslüften und Farbekriegen. Denn wenn selbst Kräfte wie Jenny Zylka so kilometertief unter ihren Möglichkeiten bleiben, dann stimmt vielleicht mit dem ganzen Konzept etwas nicht, und wenn das Konzept darin besteht, auch den ganz besonders Verklemmten mal ein Ventil zu öffnen, denen, die sich sonst nirgendwo trauen, ihren niederen chauvinistischen Instinkten mal ein bisschen Raum zu geben, einen durch Stahlgitter der Ironie bewehrten Raum, versteht sich, denn wir reden wie gesagt von Extremformen der Verdruckstheit, obwohl die Ossibeschimpfung ja nun wirklich das unriskanteste Gelände ist, auf dem man sich überhaupt bewegen kann, dann ist das, wenn man es recht bedenkt, noch einmal eine ganze Stufe erbärmlicher, als Negerwitze zu erzählen und dabei zur Distanzierung von Negerwitzenerzählern mit den Augen zu zwinkern.
Die alten Lieder singen
Der Osten, das kann man mal so festhalten, tut dem Westen nicht nur nicht gut, manchmal holt er auch das Schlimmste aus ihm heraus, wie diese komplexgebeutelte Jammerei von Maxim Biller über die "Deutsche Deprimierende Republik", die, vor ein paar Monaten, ausgerechnet in dieser Zeitung hier erscheinen musste, wofür ich persönlich mich bis heute schäme, weil eine derartig halt- und hemmungslose Anhäufung von ethnischen Charakterzuschreibungen seit siebzig Jahren in keiner deutschen Zeitung mehr gestanden haben dürfte; aber das alles wäre gar nicht der Rede wert, wenn die spektakuläre Dumpfheit dieses Textes nicht dummerweise so nachhaltig überdeckt hätte, dass sein Thema durchaus eins war, über das zu sprechen wäre: das Verschwinden der Bundesrepublik, wie sie vermutlich zwar auch nie war, aber wie sie jetzt in den Erinnerungen wächst - und wie man sie eben gerade im Osten kannte oder jedenfalls imaginierte und begehrte. Daniela Dahn hat über diesen Punkt allerdings ein ganzes Buch geschrieben ("Wehe dem Sieger - Ohne Osten kein Westen", Rowohlt), und in Ingo Schulzes Essaysammlung "Was wollen wir" (Berlin) kommt er ebenfalls nicht gerade zu kurz.
Mir persönlich stach er ins Auge, als jetzt der Suhrkamp-Verlag Thomas Rosenlöchers Wendetagebuch "Die verkauften Pflastersteine" wieder herausbrachte, ein Protokoll der Angst, der Euphorie, der Unsicherheit, der Freude über die Freiheit und des Erschreckens über das Deutschlandgebrüll und alles, was dann kam, der Live-Mitschnitt einer Desillusionierung, und gleichzeitig der Beleg, dem Weltgeist gewissermaßen in den Mantel geholfen zu haben, wofür man sich ja nun wirklich nicht entschuldigen muss, schon gar nicht gegenüber den Westdeutschen, die nun wirklich noch nie bei etwas dabei waren, schon gar nicht bei sich selbst.
Was wäre das für ein triumphales Suhrkamp-Taschenbuch gewesen, dachte ich mir, wenn die noch so farbig und begehrenswert sein dürften, wie sie und der Westen einmal waren. Heute sehen die Dinger ja leider sehr grau und ängstlich aus, wie ein Billig-Imprint des Aufbau-Verlags. Aber Jammern bringt ja nichts.
PETER RICHTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwanzig Jahre Mauerfall - wer soll das bitte alles lesen? Ein Eilmarsch durch das Buchgebirge
Plötzlich war die Mauer wieder da. Aufgebaut aus Büchern zu zwanzig Jahren Mauerfall, DDR-Agonie, Wiedervereinigung. Und wer sitzt dahinter, ganz alleine, während alle anderen sich sonst wo rumtreiben dürfen: ich natürlich. Warum interessiert das eigentlich sonst keinen, frag' ich mich manchmal. Und dann muss ich mich aber auch fragen: Interessiert es denn mich überhaupt? Feministische Schriften werden im Wesentlichen auch nur von Frauen gelesen und oft nicht mal von denen. Nennen wir es also Pflichtbewusstsein aus Betroffenheit, gelegentlich dann aber doch wieder übergehend in brennendes Interesse: Das alles hat schließlich mit einem zu tun, man war dabei, es hat alles verändert; und direkt darauf wieder dieser entsetzliche Überdruss: Man war ja, wie gesagt, dabei, hat alles tausendmal gelesen und noch öfter selbst erzählt, es hat einem das Leben verändert - und das spricht ja im Zweifel schon mal gegen einen. Es ist mit diesen Büchern, kurz gesagt, wie mit der Sache selbst.
Fangen wir mal mit dem Erfreulichen an: Christian Saehrendt: "Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation. Studien zur Rolle der bildenden Kunst in der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR" (Franz-Steiner-Verlag). Diese schöne konzise Studie steht nun in einer Reihe mit "Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990" (Nicolai) von Eckhard Gillen, einem westdeutschen Fachmann für ostdeutsche Kunst; daneben steht der Katalog der entschlossen einseitigen Westkunst-Ausstellung "60 Jahre, 60 Werke" (Wienand) - und dem antwortet natürlich kämpferisch die große Mappe "40 Werke aus der DDR" aus dem Verlag Neues Leben, herausgegeben von Elfriede Brüning, einer Kommunistin wirklich alten Schlags (Jahrgang 1910): "Nichts bleibt so, wie es ist. Das ist die Erfahrung meines langen Lebens. Darum blicke ich hoffnungsvoll in die Zukunft. Trotz alledem."
Herrlich breit aufgestellt unser Land, auch auf den Büchertischen, oder? Und so verhält sich das mit den anderen Titeln im Grunde auch: Das reicht von Egon Krenz' "Gefängnis-Notizen" (Edition Ost) bis zu Pfarrer Uwe Holmers Bekenntnisbuch "Der Mann, bei dem Honecker wohnte" (Hänssler): "Frau Honecker wischte, während draußen geschimpft wurde, bei uns zu Hause die Treppe."
Wer braucht da Romane?
Es sind in diesem Herbst vor allem die Zeithistoriker, die ihre Ernte präsentieren können, gereift in zwanzig Jahren Forschung. Und das alles kann man auch lesen wie einen einzigen, großen polyfokalen Achtziger-Jahre-Roman: Alle diese Bücher greifen dauernd ineinander über, sie behandeln ja auch die gleichen Themen, bieten nur verschiedene Perspektiven und setzen andere Schwerpunkte. Eine Geschichte der Mauer gibt es aus britischer Sicht und als künftiges Standardwerk (Frederick Taylor: "Die Mauer - 13. August 1961 bis 9. November 1989", Siedler) sowie als handliches Überblicksbuch (Edgar Wolfrum: "Die Mauer - Geschichte einer Teilung", C. H. Beck); Andreas Rödder erzählt in "Deutschland einig Vaterland" die "Geschichte der Wiedervereinigung" (auch C. H. Beck), während Ilko-Sascha Kowalczuk in "Endspiel" eine Geschichte der "Revolution von 1989 in der DDR" (ebenfalls C. H. Beck) vorlegt, die er zur Abwechslung einmal nicht mit den Montagsdemonstrationen beginnen lässt (oder mit Biermanns Ausbürgerung oder mit Honeckers Machtergreifung und so weiter); für ihn keimt der Umsturz stattdessen am 1. Oktober 1987, als nach dem Ausscheiden von BFC, Lok Leipzig und Dynamo Dresden in den europäischen Pokalturnieren der Platz für den Sportkommentar in der "Jungen Welt" aus Protest weiß blieb; und der Studienband "Das Land ist still - noch. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971-1989)" (Böhlau) weiß da von noch weit renitenteren Umtrieben zu berichten, wogegen Bernd Stöver, in "Zuflucht DDR" (schon wieder C. H. Beck), wissen lässt, weshalb trotzdem verblüffend viele Leute auch in dieser Richtung über die Mauer kamen - und wenn der ungarische Schriftsteller György Dalos das am Ende alles in einem noch viel größeren Panorama aufgehen lässt, indem er, Satellitenstaat für Satellitenstaat, den Zerfall und das Zertrudeln des Ostblocks beschreibt ("Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa", bei C. H. Beck, wo sonst?): Dann möchte man das eigentlich fast am liebsten einmal im Theater inszeniert sehen.
Das Angenehme an diesen Büchern ist natürlich ihre Distanz, ihre professionelle Abgeklärtheit. Selbst ein Beteiligter, ein sogenannter Bürgerrechtler wie der Pfarrer Erhard Neubert ("Unsere Revolution - Die Geschichte der Jahre 1989/90", Piper) schiebt den Jargon strenger Wissenschaftlichkeit wie eine Unterlegscheibe zwischen Stoff und Leser. Heikel wird es ja immer erst dann, wenn die berüchtigten Befindlichkeiten ins Spiel kommen und die Leute sich, wie Wolfgang Thierse das unvorsichtigerweise einmal gefordert hat, ihre Geschichten erzählen. Bei Böhlau ist in diesem Frühjahr schon ein Buch erschienen, das sich liest wie Maxi Wanders "Guten Morgen, du Schöne", nur mit Westdeutschen. Es heißt "Die Wessis - Westdeutsche Führungskräfte beim Aufbau Ost" und versammelt die zum Teil erschütternden Berichte derer, die man im Osten oft zu Unrecht als zweite Wahl, Desperados und Verbannte gebrandmarkt hat.
Wann wir schreien Seit' an Seit'
Nicht weniger erschütternd und aufschlussreich ist allerdings das, was ihre ostdeutschen Vorgänger zu berichten haben, denn schon wer Schivelbuschs "Kultur der Niederlage" gelesen hat, dem mussten ja bei der Beschreibung des amerikanischen Bürgerkriegs die Parallelen ins Auge springen; eine Studie von Stefan Zahlmann brachte beides (ebenfalls bei Böhlau) nun endlich zusammen: "Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989" ist seine Studie unterschrieben, und ihr Titel lautet: "Autobiografische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns", was im Übrigen auch über allem anderen stehen könnte, was über den Osten seit 1990 so zu lesen ist, manchmal allerdings auch mit umgekehrter Verteilung der Adjektive - und wenn da, wie Wolfgang Engler das einmal vorgeschlagen hat, am besten schon von einem Gescheitert-Werden gesprochen werden muss: Welchen Begriff nimmt man dann eigentlich für die Biographien, die der Gesellschaft zum Opfer fielen, als diese sich noch eine entwickelte sozialistische nannte? Das sechzehnjährige Mädchen, das sich regelmäßig in verschwiegenen Wochenendhäuschen unter der Bluse befummeln lassen muss von dem Mann, der es währenddessen über seine Mitschüler ausfragt; die Frau, die später wegen Verdachts auf "Republikflucht" im Gefängnis sitzt, nach der Wende eine Ausbildung zur Logopädin schafft, Patientenberichte schreiben muss, von ihrem Trauma eingeholt wird und jetzt Invalide ist: Das sind so die Geschichten aus "Black Box DDR: Unerzählte Leben unterm SED-Regime" (Marix), das unter anderem von ebenjener Ines Geipel herausgegeben wurde, die, weil sie nicht nur als Leistungssportlerin in der DDR zum Dopingopfer wurde, sondern als solches den von ihr als solche betrachteten Dopingopfern von heute auf den Wecker geht, wie ihr nicht zuletzt der ostdeutsche Diskuswerfer Robert Harting bei den Leichtathletikweltmeisterschaften in Berlin recht deutlich zu erkennen gegeben hat, jene notorische Ines Geipel also, die schon selbst wissen dürfte, dass es Schwarzbücher wie diese sind, die auf der anderen Seite die farbigen Erinnerungsfibeln an den Palast der Republik und das Sandmännchen bedingen - wenn nicht sogar den Einsatz einer Jana Hensel: "Achtung Zone - Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten" sieht genauso aus wie damals "Zonenkinder", es steht im Grunde auch das Gleiche drin, nur der Verlag heißt anders, nämlich Piper statt Rowohlt, es ist eine Art Fortsetzung mit gleichen Mitteln: Sofort ist da wieder dieses engagierte Pionierleiterinnen-Wir, dieser als nachdenklich gelten wollende Tonfall, sofort fühlt man sich sozusagen ganz wie zu Hause, und sofort muss man ihr unbedingt zustimmen, gerade dann, wenn man natürlich am liebsten auf jeder Seite einen Ausreiseantrag stellen möchte aus dieser Zwangsgemeinschaft wegen geistiger Enge, Sprachverlust und allgemeiner Muffigkeit - man muss ihr einfach zustimmen und sagen: Ja, ganz genau, bitte "anders bleiben" dürfen, das wäre über die Maßen wichtig und angenehm.
Denn wenn es etwas gibt, das einem wirklich so richtig auf den Wecker geht seit zwanzig Jahren in Deutschland, dann ist das selbstverständlich das Gejammer und das Genöle, das nostalgische Genörgel, das Ressentiment der Zukurzgekommenen, ganz allgemein also das gebückte Gehechel, das eben immer genau jene Veteranen des Westdeutschen am lautesten bewehklagen, bei denen es am ausgeprägtesten vorkommt. Der offenbar nicht ohne Grund sich so nennende Klaus Bittermann vom Tiamat-Verlag zum Beispiel, der aus dem Umschlagfoto der von ihm selbst herausgegebenen Humoristenanthologie "Unter Zonis - Zwanzig Jahre reichen jetzt so langsam mal wieder" herausschaut wie eine verlotterte Oma, die man nach all den Jahren mal von ihrem Kreuzberger Schwafelstammtisch wegschleppen und auf die Straße, in die Wirklichkeit, in die Gegenwart stellen müsste, zum Auslüften und Farbekriegen. Denn wenn selbst Kräfte wie Jenny Zylka so kilometertief unter ihren Möglichkeiten bleiben, dann stimmt vielleicht mit dem ganzen Konzept etwas nicht, und wenn das Konzept darin besteht, auch den ganz besonders Verklemmten mal ein Ventil zu öffnen, denen, die sich sonst nirgendwo trauen, ihren niederen chauvinistischen Instinkten mal ein bisschen Raum zu geben, einen durch Stahlgitter der Ironie bewehrten Raum, versteht sich, denn wir reden wie gesagt von Extremformen der Verdruckstheit, obwohl die Ossibeschimpfung ja nun wirklich das unriskanteste Gelände ist, auf dem man sich überhaupt bewegen kann, dann ist das, wenn man es recht bedenkt, noch einmal eine ganze Stufe erbärmlicher, als Negerwitze zu erzählen und dabei zur Distanzierung von Negerwitzenerzählern mit den Augen zu zwinkern.
Die alten Lieder singen
Der Osten, das kann man mal so festhalten, tut dem Westen nicht nur nicht gut, manchmal holt er auch das Schlimmste aus ihm heraus, wie diese komplexgebeutelte Jammerei von Maxim Biller über die "Deutsche Deprimierende Republik", die, vor ein paar Monaten, ausgerechnet in dieser Zeitung hier erscheinen musste, wofür ich persönlich mich bis heute schäme, weil eine derartig halt- und hemmungslose Anhäufung von ethnischen Charakterzuschreibungen seit siebzig Jahren in keiner deutschen Zeitung mehr gestanden haben dürfte; aber das alles wäre gar nicht der Rede wert, wenn die spektakuläre Dumpfheit dieses Textes nicht dummerweise so nachhaltig überdeckt hätte, dass sein Thema durchaus eins war, über das zu sprechen wäre: das Verschwinden der Bundesrepublik, wie sie vermutlich zwar auch nie war, aber wie sie jetzt in den Erinnerungen wächst - und wie man sie eben gerade im Osten kannte oder jedenfalls imaginierte und begehrte. Daniela Dahn hat über diesen Punkt allerdings ein ganzes Buch geschrieben ("Wehe dem Sieger - Ohne Osten kein Westen", Rowohlt), und in Ingo Schulzes Essaysammlung "Was wollen wir" (Berlin) kommt er ebenfalls nicht gerade zu kurz.
Mir persönlich stach er ins Auge, als jetzt der Suhrkamp-Verlag Thomas Rosenlöchers Wendetagebuch "Die verkauften Pflastersteine" wieder herausbrachte, ein Protokoll der Angst, der Euphorie, der Unsicherheit, der Freude über die Freiheit und des Erschreckens über das Deutschlandgebrüll und alles, was dann kam, der Live-Mitschnitt einer Desillusionierung, und gleichzeitig der Beleg, dem Weltgeist gewissermaßen in den Mantel geholfen zu haben, wofür man sich ja nun wirklich nicht entschuldigen muss, schon gar nicht gegenüber den Westdeutschen, die nun wirklich noch nie bei etwas dabei waren, schon gar nicht bei sich selbst.
Was wäre das für ein triumphales Suhrkamp-Taschenbuch gewesen, dachte ich mir, wenn die noch so farbig und begehrenswert sein dürften, wie sie und der Westen einmal waren. Heute sehen die Dinger ja leider sehr grau und ängstlich aus, wie ein Billig-Imprint des Aufbau-Verlags. Aber Jammern bringt ja nichts.
PETER RICHTER
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Der Berliner Ungar György Dalos arbeitet sich nüchtern und analytisch durch die jüngere Geschichte der sowjetischen Satellitenstaaten, die die Vorarbeit zum Fall der Mauer geleistet haben, informiert uns Rudolf Walther, der das Buch uneingeschränkt empfiehlt. Dass er hierbei Phrasen und Tunnelblick gleichermaßen meidet, empfindet der Rezensent als wahre Wohltat. Wie Solidarnosc, die bereits 1981 zehn Millionen Mitglieder hatte, Gorbatschows Amtsantritt 1985, der "Gulaschkommunismus" ungarischer Prägung mit erweiterter Reisefreiheit Mitte der Achtziger, die enormen Schulden der "Bruderländer" und Vaclav Havel als tschechischer Präsident miteinander zusammenhängen, wird von Dalos in seinen "jeweils spezifischen Voraussetzungen" dargelegt. Dalos macht deutlich, was Walther zufolge aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet wird: "Alle diese Ereignisse lagen zeitlich Jahre oder mindestens Monate vor der Wende in der DDR im November 1989."
© Perlentaucher Medien GmbH
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