Produktdetails
- Verlag: Mentor
- ISBN-13: 9783580633448
- Artikelnr.: 24227599
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.1995Die Schaffnerin
Bernhard Schlink läßt vorlesen Von Michael Stolleis
Am Anfang scheint es nur eine kleine, leichte und pikante Geschichte zu sein, eine etwas ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen einem Fünfzehnjährigen und einer fünfunddreißigjährigen Straßenbahnschaffnerin. Der Junge: ein Professorenkind mit älteren Geschwistern; die Szenerie: Heidelberg etwa 1958-1961. Die Beziehung ist mehr oder weniger asymmetrisch und trägt ihr Ende in sich, der Ich-Erzähler ist noch zu jung, sie ist verschlossen und verbirgt ein Geheimnis. Aber sie mag es, wenn er ihr vorliest, und er tut es mit Hingabe. Langsam verdunkelt sich die Geschichte und wird schwerer. Die ungleiche Beziehung löst sich auf, die Frau verschwindet eines Tages spurlos. Der Junge wird erwachsen, studiert dann "aus Verlegenheit" Rechtswissenschaft. Die Erinnerungen an die Erlebnisse der Schulzeit verblassen.
Nun jedoch wendet sich die Sache in die Zeitgeschichte und berichtet vom Jurastudium um 1965 in Heidelberg. Die NS-Vergangenheit wird "aufgearbeitet", die Universitäten sind in Aufregung, die Studenten nehmen an einem Seminar über NS-Verbrechen teil und fahren zu einem der KZ-Prozesse, "an der Bergstraße entlang" in eine große Stadt. Dort sieht der Ich-Erzähler die Frau wieder, angeklagt als ehemalige Aufseherin in Auschwitz. Schlink schildert den Prozeß als professioneller Jurist, und er sucht dabei die Perspektive des tief irritierten Studenten, des seiner Gefühle nicht sicheren Liebhabers der Angeklagten und die heutige distanzierte Reflexion miteinander zu verbinden. Das ist schwierig; denn dieser Text ist kein mehrstimmig angelegter Roman, eher ein Monolog der Erinnerung, ein persönliches und politisches Grübel- und vielleicht sogar Bekenntnisbuch, geschrieben aus dreißig Jahren Abstand. Ist der Weg dieser Arbeiterin Hanna Schmitz, der 1922 in Siebenbürgen beginnt, nach Berlin zur Siemens AG und anschließend zur SS führt, ein "deutsches Schicksal", von dem der wohlbehütete bürgerliche Junge nur gestreift wird? Oder ist dieser junge Mann Michael, der gewissermaßen auch aus Verlegenheit später Professor für Rechtsgeschichte mit speziellem Interesse am NS-Recht wird, in irgendeiner Weise generationstypisch?
Hanna ist Analphabetin. Das ist ihre krampfhaft gehütete Schwäche, die sich stufenweise und recht kunstvoll offenbart. Überall hat sie sich vorlesen lassen, schon im KZ von jungen weiblichen Häftlingen, dann von ihrem jungen Freund. In der achtzehnjährigen Haft erhält sie Kassetten mit Literatur, die der nunmehrige Professor ein Jahrzehnt lang für sie aufgenommen und ins Gefängnis gesandt hat. Mit großer Anstrengung lernt sie in der Haft lesen und schreiben, studiert Fachliteratur über Konzentrationslager, setzt sich mit ihrer Lebensgeschichte auseinander, und am Ende, als sie entlassen werden soll, bringt sie sich um. Also doch ein idealistischer Entwicklungsroman, ein Prozeß der Bewußtwerdung und Reifung, ein Akzeptieren der Schuld durch den eigenen Tod?
Diese unlösbaren Fragen werden in der Schwebe gehalten. Ihr Gewicht wird nur erträglich durch Schlinks einfühlsame und transparente Sprache. Auch in den Andeutungen der Details ist sie von oft erstaunlicher Präzision. Der über sich und seinen Werdegang, über die Abgründe von Strafprozessen, über Schuld und Schuldgefühle kritisch und selbstkritisch reflektierende Jurist überdeckt gelegentlich den genuinen Schriftsteller, der hier ans Licht kommt. Und doch ist diese "traurige Geschichte" am Ende eine runde Geschichte geworden. Nach drei spannenden Kriminalromanen, die wohl von manchen Kollegen des Staatsrechts als nicht ganz "leitbildkonform" registriert worden waren, ist dies nun Schlinks persönlichstes Buch. Nicht alles in ihm ist erfunden, aber woher ein Autor seinen Stoff nimmt, ist seine Sache, nicht die des neugierigen Lesers.
Bernhard Schlink: "Der Vorleser". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 208 Seiten, geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernhard Schlink läßt vorlesen Von Michael Stolleis
Am Anfang scheint es nur eine kleine, leichte und pikante Geschichte zu sein, eine etwas ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen einem Fünfzehnjährigen und einer fünfunddreißigjährigen Straßenbahnschaffnerin. Der Junge: ein Professorenkind mit älteren Geschwistern; die Szenerie: Heidelberg etwa 1958-1961. Die Beziehung ist mehr oder weniger asymmetrisch und trägt ihr Ende in sich, der Ich-Erzähler ist noch zu jung, sie ist verschlossen und verbirgt ein Geheimnis. Aber sie mag es, wenn er ihr vorliest, und er tut es mit Hingabe. Langsam verdunkelt sich die Geschichte und wird schwerer. Die ungleiche Beziehung löst sich auf, die Frau verschwindet eines Tages spurlos. Der Junge wird erwachsen, studiert dann "aus Verlegenheit" Rechtswissenschaft. Die Erinnerungen an die Erlebnisse der Schulzeit verblassen.
Nun jedoch wendet sich die Sache in die Zeitgeschichte und berichtet vom Jurastudium um 1965 in Heidelberg. Die NS-Vergangenheit wird "aufgearbeitet", die Universitäten sind in Aufregung, die Studenten nehmen an einem Seminar über NS-Verbrechen teil und fahren zu einem der KZ-Prozesse, "an der Bergstraße entlang" in eine große Stadt. Dort sieht der Ich-Erzähler die Frau wieder, angeklagt als ehemalige Aufseherin in Auschwitz. Schlink schildert den Prozeß als professioneller Jurist, und er sucht dabei die Perspektive des tief irritierten Studenten, des seiner Gefühle nicht sicheren Liebhabers der Angeklagten und die heutige distanzierte Reflexion miteinander zu verbinden. Das ist schwierig; denn dieser Text ist kein mehrstimmig angelegter Roman, eher ein Monolog der Erinnerung, ein persönliches und politisches Grübel- und vielleicht sogar Bekenntnisbuch, geschrieben aus dreißig Jahren Abstand. Ist der Weg dieser Arbeiterin Hanna Schmitz, der 1922 in Siebenbürgen beginnt, nach Berlin zur Siemens AG und anschließend zur SS führt, ein "deutsches Schicksal", von dem der wohlbehütete bürgerliche Junge nur gestreift wird? Oder ist dieser junge Mann Michael, der gewissermaßen auch aus Verlegenheit später Professor für Rechtsgeschichte mit speziellem Interesse am NS-Recht wird, in irgendeiner Weise generationstypisch?
Hanna ist Analphabetin. Das ist ihre krampfhaft gehütete Schwäche, die sich stufenweise und recht kunstvoll offenbart. Überall hat sie sich vorlesen lassen, schon im KZ von jungen weiblichen Häftlingen, dann von ihrem jungen Freund. In der achtzehnjährigen Haft erhält sie Kassetten mit Literatur, die der nunmehrige Professor ein Jahrzehnt lang für sie aufgenommen und ins Gefängnis gesandt hat. Mit großer Anstrengung lernt sie in der Haft lesen und schreiben, studiert Fachliteratur über Konzentrationslager, setzt sich mit ihrer Lebensgeschichte auseinander, und am Ende, als sie entlassen werden soll, bringt sie sich um. Also doch ein idealistischer Entwicklungsroman, ein Prozeß der Bewußtwerdung und Reifung, ein Akzeptieren der Schuld durch den eigenen Tod?
Diese unlösbaren Fragen werden in der Schwebe gehalten. Ihr Gewicht wird nur erträglich durch Schlinks einfühlsame und transparente Sprache. Auch in den Andeutungen der Details ist sie von oft erstaunlicher Präzision. Der über sich und seinen Werdegang, über die Abgründe von Strafprozessen, über Schuld und Schuldgefühle kritisch und selbstkritisch reflektierende Jurist überdeckt gelegentlich den genuinen Schriftsteller, der hier ans Licht kommt. Und doch ist diese "traurige Geschichte" am Ende eine runde Geschichte geworden. Nach drei spannenden Kriminalromanen, die wohl von manchen Kollegen des Staatsrechts als nicht ganz "leitbildkonform" registriert worden waren, ist dies nun Schlinks persönlichstes Buch. Nicht alles in ihm ist erfunden, aber woher ein Autor seinen Stoff nimmt, ist seine Sache, nicht die des neugierigen Lesers.
Bernhard Schlink: "Der Vorleser". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 208 Seiten, geb., 34,- DM.
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