Sie ist reizbar, rätselhaft und viel älter als er... und sie wird seine erste Leidenschaft. Sie hütet verzweifelt ein Geheimnis. Eines Tages ist sie spurlos verschwunden. Erst Jahre später sieht er sie wieder. Die fast kriminalistische Erforschung einer sonderbaren Liebe und bedrängenden Vergangenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.1995Die Schaffnerin
Bernhard Schlink läßt vorlesen Von Michael Stolleis
Am Anfang scheint es nur eine kleine, leichte und pikante Geschichte zu sein, eine etwas ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen einem Fünfzehnjährigen und einer fünfunddreißigjährigen Straßenbahnschaffnerin. Der Junge: ein Professorenkind mit älteren Geschwistern; die Szenerie: Heidelberg etwa 1958-1961. Die Beziehung ist mehr oder weniger asymmetrisch und trägt ihr Ende in sich, der Ich-Erzähler ist noch zu jung, sie ist verschlossen und verbirgt ein Geheimnis. Aber sie mag es, wenn er ihr vorliest, und er tut es mit Hingabe. Langsam verdunkelt sich die Geschichte und wird schwerer. Die ungleiche Beziehung löst sich auf, die Frau verschwindet eines Tages spurlos. Der Junge wird erwachsen, studiert dann "aus Verlegenheit" Rechtswissenschaft. Die Erinnerungen an die Erlebnisse der Schulzeit verblassen.
Nun jedoch wendet sich die Sache in die Zeitgeschichte und berichtet vom Jurastudium um 1965 in Heidelberg. Die NS-Vergangenheit wird "aufgearbeitet", die Universitäten sind in Aufregung, die Studenten nehmen an einem Seminar über NS-Verbrechen teil und fahren zu einem der KZ-Prozesse, "an der Bergstraße entlang" in eine große Stadt. Dort sieht der Ich-Erzähler die Frau wieder, angeklagt als ehemalige Aufseherin in Auschwitz. Schlink schildert den Prozeß als professioneller Jurist, und er sucht dabei die Perspektive des tief irritierten Studenten, des seiner Gefühle nicht sicheren Liebhabers der Angeklagten und die heutige distanzierte Reflexion miteinander zu verbinden. Das ist schwierig; denn dieser Text ist kein mehrstimmig angelegter Roman, eher ein Monolog der Erinnerung, ein persönliches und politisches Grübel- und vielleicht sogar Bekenntnisbuch, geschrieben aus dreißig Jahren Abstand. Ist der Weg dieser Arbeiterin Hanna Schmitz, der 1922 in Siebenbürgen beginnt, nach Berlin zur Siemens AG und anschließend zur SS führt, ein "deutsches Schicksal", von dem der wohlbehütete bürgerliche Junge nur gestreift wird? Oder ist dieser junge Mann Michael, der gewissermaßen auch aus Verlegenheit später Professor für Rechtsgeschichte mit speziellem Interesse am NS-Recht wird, in irgendeiner Weise generationstypisch?
Hanna ist Analphabetin. Das ist ihre krampfhaft gehütete Schwäche, die sich stufenweise und recht kunstvoll offenbart. Überall hat sie sich vorlesen lassen, schon im KZ von jungen weiblichen Häftlingen, dann von ihrem jungen Freund. In der achtzehnjährigen Haft erhält sie Kassetten mit Literatur, die der nunmehrige Professor ein Jahrzehnt lang für sie aufgenommen und ins Gefängnis gesandt hat. Mit großer Anstrengung lernt sie in der Haft lesen und schreiben, studiert Fachliteratur über Konzentrationslager, setzt sich mit ihrer Lebensgeschichte auseinander, und am Ende, als sie entlassen werden soll, bringt sie sich um. Also doch ein idealistischer Entwicklungsroman, ein Prozeß der Bewußtwerdung und Reifung, ein Akzeptieren der Schuld durch den eigenen Tod?
Diese unlösbaren Fragen werden in der Schwebe gehalten. Ihr Gewicht wird nur erträglich durch Schlinks einfühlsame und transparente Sprache. Auch in den Andeutungen der Details ist sie von oft erstaunlicher Präzision. Der über sich und seinen Werdegang, über die Abgründe von Strafprozessen, über Schuld und Schuldgefühle kritisch und selbstkritisch reflektierende Jurist überdeckt gelegentlich den genuinen Schriftsteller, der hier ans Licht kommt. Und doch ist diese "traurige Geschichte" am Ende eine runde Geschichte geworden. Nach drei spannenden Kriminalromanen, die wohl von manchen Kollegen des Staatsrechts als nicht ganz "leitbildkonform" registriert worden waren, ist dies nun Schlinks persönlichstes Buch. Nicht alles in ihm ist erfunden, aber woher ein Autor seinen Stoff nimmt, ist seine Sache, nicht die des neugierigen Lesers.
Bernhard Schlink: "Der Vorleser". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 208 Seiten, geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernhard Schlink läßt vorlesen Von Michael Stolleis
Am Anfang scheint es nur eine kleine, leichte und pikante Geschichte zu sein, eine etwas ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen einem Fünfzehnjährigen und einer fünfunddreißigjährigen Straßenbahnschaffnerin. Der Junge: ein Professorenkind mit älteren Geschwistern; die Szenerie: Heidelberg etwa 1958-1961. Die Beziehung ist mehr oder weniger asymmetrisch und trägt ihr Ende in sich, der Ich-Erzähler ist noch zu jung, sie ist verschlossen und verbirgt ein Geheimnis. Aber sie mag es, wenn er ihr vorliest, und er tut es mit Hingabe. Langsam verdunkelt sich die Geschichte und wird schwerer. Die ungleiche Beziehung löst sich auf, die Frau verschwindet eines Tages spurlos. Der Junge wird erwachsen, studiert dann "aus Verlegenheit" Rechtswissenschaft. Die Erinnerungen an die Erlebnisse der Schulzeit verblassen.
Nun jedoch wendet sich die Sache in die Zeitgeschichte und berichtet vom Jurastudium um 1965 in Heidelberg. Die NS-Vergangenheit wird "aufgearbeitet", die Universitäten sind in Aufregung, die Studenten nehmen an einem Seminar über NS-Verbrechen teil und fahren zu einem der KZ-Prozesse, "an der Bergstraße entlang" in eine große Stadt. Dort sieht der Ich-Erzähler die Frau wieder, angeklagt als ehemalige Aufseherin in Auschwitz. Schlink schildert den Prozeß als professioneller Jurist, und er sucht dabei die Perspektive des tief irritierten Studenten, des seiner Gefühle nicht sicheren Liebhabers der Angeklagten und die heutige distanzierte Reflexion miteinander zu verbinden. Das ist schwierig; denn dieser Text ist kein mehrstimmig angelegter Roman, eher ein Monolog der Erinnerung, ein persönliches und politisches Grübel- und vielleicht sogar Bekenntnisbuch, geschrieben aus dreißig Jahren Abstand. Ist der Weg dieser Arbeiterin Hanna Schmitz, der 1922 in Siebenbürgen beginnt, nach Berlin zur Siemens AG und anschließend zur SS führt, ein "deutsches Schicksal", von dem der wohlbehütete bürgerliche Junge nur gestreift wird? Oder ist dieser junge Mann Michael, der gewissermaßen auch aus Verlegenheit später Professor für Rechtsgeschichte mit speziellem Interesse am NS-Recht wird, in irgendeiner Weise generationstypisch?
Hanna ist Analphabetin. Das ist ihre krampfhaft gehütete Schwäche, die sich stufenweise und recht kunstvoll offenbart. Überall hat sie sich vorlesen lassen, schon im KZ von jungen weiblichen Häftlingen, dann von ihrem jungen Freund. In der achtzehnjährigen Haft erhält sie Kassetten mit Literatur, die der nunmehrige Professor ein Jahrzehnt lang für sie aufgenommen und ins Gefängnis gesandt hat. Mit großer Anstrengung lernt sie in der Haft lesen und schreiben, studiert Fachliteratur über Konzentrationslager, setzt sich mit ihrer Lebensgeschichte auseinander, und am Ende, als sie entlassen werden soll, bringt sie sich um. Also doch ein idealistischer Entwicklungsroman, ein Prozeß der Bewußtwerdung und Reifung, ein Akzeptieren der Schuld durch den eigenen Tod?
Diese unlösbaren Fragen werden in der Schwebe gehalten. Ihr Gewicht wird nur erträglich durch Schlinks einfühlsame und transparente Sprache. Auch in den Andeutungen der Details ist sie von oft erstaunlicher Präzision. Der über sich und seinen Werdegang, über die Abgründe von Strafprozessen, über Schuld und Schuldgefühle kritisch und selbstkritisch reflektierende Jurist überdeckt gelegentlich den genuinen Schriftsteller, der hier ans Licht kommt. Und doch ist diese "traurige Geschichte" am Ende eine runde Geschichte geworden. Nach drei spannenden Kriminalromanen, die wohl von manchen Kollegen des Staatsrechts als nicht ganz "leitbildkonform" registriert worden waren, ist dies nun Schlinks persönlichstes Buch. Nicht alles in ihm ist erfunden, aber woher ein Autor seinen Stoff nimmt, ist seine Sache, nicht die des neugierigen Lesers.
Bernhard Schlink: "Der Vorleser". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 208 Seiten, geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.04.2002Die Sehnsucht nach einer ungeschehenen Geschichte
Warum Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser” ein so schlechtes Buch ist und allein sein Erfolg einen tieferen Sinn hat / Von Lawrence Norfolk
Günter Grass hat einen Roman über die Vertreibung von Deutschen aus Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben, und alle sind wütend. Dem Spiegel zufolge sind die deutschen Rezensenten wütend (auf Grass), weil sein Buch mit den Polendeutschen sympathisiert. Der Spiegel ist wütend – auf die deutsche Kritik, weil sie Grass allein wegen seiner angeblich politisch nicht korrekten Haltung kritisiere. Die deutsche Kritik ist wütend auf den Spiegel, weil das, sagt sie, Blödsinn sei: Die Kritiker sind nicht deshalb wütend auf Grass, weil sein Buch politisch nicht korrekt ist, sondern weil es – ad libitum – schlecht geschrieben, langweilig, langstielig und so weiter ist. Der Spiegel verwechselt ästhetische Kritik mit der moralischen oder politischen und verteidigt insofern Grass gegen einen Vorwurf, der überhaupt nicht erhoben wurde.
Wie üblich ergibt sich, wenn alle entschlossen sind, alle anderen misszuverstehen, eine allgemeine Verwirrung – moralisch, ästhetisch, gesellschaftlich, politisch. Wie verzweifelt die Situation ist, mag darin seinen Ausdruck finden, dass ich bei dem Versuch, die jüngsten Turbulenzen der deutschen Seele zu analysieren, Hilfe auf bizarr unerwarteter Seite suchen möchte: bei den britischen Kritikern. Grass ist ein ziemlich schwieriger Patient (komplexe Themen, letztes Buch noch unübersetzt), aber sein Zustand ist bereits am Beispiel eines anderen Falles diagnostiziert worden, der dem britischen Geschmack näher liegt: dem von Bernhard Schlink.
Bewusster Falschmünzer
Man hat die Berechnung angestellt, dass sämtliche Leser, die Schlinks Roman „Der Vorleser” als „bewegend” bezeichnet haben, aneinander gelegt von der Erde bis zum Jupiter und zurück reichen würden. Wie das Buch ist diese Behauptung fast wahr. „Der Vorleser” erzählt die Geschichte eines Jungen, der kurz ein Verhältnis mit einer älteren Frau hat. Ein paar Jahre später erfährt er, dass sie erstens eine KZ-Aufseherin war und zweitens Analphabetin ist (und sich insofern bei ihrem Prozess nicht verteidigen kann). Sie kommt ins Gefängnis, und er schickt ihr Tonbänder, auf denen er ihr klassische Literatur vorliest. Es wäre aber unfair, das Ende zu verraten. „Der Vorleser” war in Deutschland ein ziemlicher Erfolg, in Großbritannien und Amerika ein riesiger.
Im März dieses Jahres wurden auf der Leserbriefseite einiger Nummern des Times Literary Supplement die Meriten von „Der Vorleser” diskutiert. Eine zornige Intervention des Romanciers und Philologen Frederic Raphael verdammte die „Ausgewogenheit zwischen den Belangen des Mörders und seines Opfers” in Schlinks Roman als eine „Form der Kollaboration mit dem Bösen”, und Schlink selbst als einen „bewussten Falschmünzer”.
Von drei Briefen im TLS der nächsten Woche teilten zwei Raphaels Ansicht, was den „Vorleser” betrifft („widerlich, weil es so gefällig gebastelt und so lesbar ist”, „ein schlecht geschriebenes, sentimentales und moralisch unsägliches Buch”), während der dritte den auf dieser Leserbriefseite eher üblichen Standard olympischer Irrelevanz wahrte und sich auf Sokrates bezog. In der Woche darauf folgte Jeremy Adler mit einer Analyse von „Der Vorleser” als „kulturelle Pornographie” und legte im einzelnen dar, wie der Roman seine literarischen Vorbilder verzerrt und mit welch kruden Verallgemeinerungen über Opfer und Unterdrücker er arbeitet: beides notwendige Voraussetzungen, damit die angeblichen moralischen Einsichten des Buches plausibel wirken.
Die Leser des „Vorlesers” sind reingelegt worden. Das ist, implizit oder ausdrücklich, die Behauptung von Schlinks Kritikern. Die begeisterten Leser glauben, sie würden das große moralische Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts jetzt begreifen, aber tatsächlich wird ihnen nur erlaubt, ihre eigenen Selbstgefälligkeit zu genießen. Doch wenn „Der Vorleser” nun etwas „Gefälschtes” ist, „widerlich”, „schlecht geschrieben”, wenn es sich bloß um eine Dosis Holocaust Light handelt - warum gefällt das Buch so vielen Leuten?
Ich glaube, dieser Umstand ist es, der den Zorn der schärfsten Kritiker des Buches nährt. Es ist schwer vorstellbar, dass dasselbe Buch dieselbe Empörung auslösen könnte, wenn es das Schicksal der meisten Romane (auch authentischer, wunderbarer, gut geschriebener Romane) geteilt hätte: spurlos zu versinken. Das tat es nicht. Aber weshalb?
Das Rückgrat des Buches bildet die Liebesgeschichte, und sie ist auch seine größte technische Leistung. Hier lag Schlinks Problem. Er muss das Liebesverhältnis so weit vorantreiben, dass die Sympathien des Lesers stark genug geworden sind, um sie nicht zurückzuziehen, wenn er erkennt, dass die Geliebte eine KZ-Mörderin ist. Also ist das Buch eine Übung in Verzögerungstaktik und erzählerischer Zeitplanung. Wann soll die Explosion erfolgen? Die plötzliche Distanzierung von der Frau bei der Enthüllung ihrer Wahrheit ist natürlich ein Täuschungsmanöver. Der Rest des Buches dient der Wiederannäherung an die Heldin in ihrer neuen Inkarnation als Analphabetin im Büßergewand. Dass sie ins Gefängnis kommt, ist hilfreich, aber ihr innerer Opferstatus kann erst mit dem Höhepunkt des Buches überzeugend behauptet werden.
Die strukturelle Integrität von „Der Vorleser” ist so solide wie die des Parthenon, aber das ist die einzige Integrität, die das Buch besitzt. Es ist, wie die Kritiker im einzelnen dargelegt haben, historisch ungenau und moralisch unwahrscheinlich. Es manipuliert uns Leser an einen Punkt, wo wir Mitleid für ein Ungeheuer empfinden, und fordert uns dann heraus: Wagt ihr es, euch moralisch überlegen zu fühlen? Aber wer sind wir denn, dass wir diese Frau verurteilen dürften? Wir haben den Vorteil, dass wir lesen können. Wenn sie nur auch hätte lesen können, dann wäre nichts von all dem Schlimmen geschehen. Dieser verführerische Gedanke spielt brillant-zynisch mit der liberalen Lieblingsvorstellung, dass eine gute Bildung den Menschen moralisch besser macht.
Ich muss gestehen, dass ich ebenfalls in Versuchung bin. Mir gefällt der Gedanke einer Revision der Geschichte, die brutale SS-Offiziere zu Heiligen werden lässt, indem sie lernen, die Odyssee zu lesen. Das ist das eigentliche Thema des Romans: Es hätte doch alles auch ganz anders sein können. Er handelt von der Sehnsucht eines Millionenpublikums am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts nach einer ungeschehenen Zeitgeschichte. Hier ist Schlinks Buch absolut wahr. Die einzige Lüge steckt im Titel: Er hätte „Die Leser” lauten müssen.
Oder „Die englischen Leser”. Großbritannien ging voran, die Amerikaner folgten. Wir haben das, was das Buch ist, verwechselt mit dem, was es sagt. Es ist offenkundig eine Satire auf die moralische Naivität seiner englischsprachigen Fans. So muss es sein. Sonst gibt es keinen Sinn. Aber weder die Fans noch die Kritiker haben es so gelesen. Daher die Verwirrung und die Wut. Und nun zurück zu Grass, seinen Kritikern und den Kritikern der Kritiker. Ich habe keine Ahnung, wer bei der Debatte recht hat, aber es scheint klar, wohin sie führt: weiter und weiter weg von Grass' Buch. Es ist immer leichter, definitive Aussagen über die Realität zu machen, die einem Roman zugrunde liegt, als über diesen selbst.
Ein schwerer Tod
Ich kann hierin nichts Verdächtigeres erkennen als Trägheit – Faktenhuberei und inszenierte Empörung sollen an die Stelle engagierter Phantasie treten. Diese aber wäre für einen schlechten Roman viel verheerender – er zerfällt bei jedem Versuch, ihn wirklich zu begreifen. Die faktischen Unwahrscheinlichkeiten in „Der Vorleser” haben als Köder von einem solchen Engagement der Phantasie abgelenkt, und man hat nicht bemerkt, wie schlecht das Buch ist. Wovon kann eine Satire auf die moralische Leichtgläubigkeit des englischsprachigen Lesepublikums denn handeln außer von den eigenen Umsatzzahlen? Nur die Popularität des Buches hat einen tieferen Sinn.
Diese beiden kritischen Auseinandersetzungen sind Ausdruck derselben, zunehmend verbreiteten kritischen Haltung: der Verweisung ästhetischer Fragen an nicht-ästhetische Kriterien, politische, historische, soziale, moralische oder was auch immer. Alte Gewohnheiten sterben einen schweren Tod. Grass' Buch mag der erste Schritt in der jüngsten deutschen Kampagne zur Eroberung Polens sein, ich kann das nicht beurteilen. Aber selbst wenn es stimmte, wäre das noch keine Aussage über das Buch, sondern nur über den Zusammenhang, in dem es gelesen wird.
Oder nicht gelesen. „Der Vorleser” sagt nichts über die moralische Gleichwertigkeit von Opfer und Unterdrücker, nicht einmal etwas über die Erlösung durch Bildung. Indem sie das Buch wie oder geradezu als jene Geschichte behandeln, die es nicht evoziert, haben die wütenden Kritiker und begeisterten Fans von Schlinks Roman den einzigen Punkt gefunden, in dem sie übereinstimmen: Beide haben sich dafür entschieden, das Buch nicht zu lesen.
Der Schriftsteller Lawrence Norfolk wurde 1963 in London geboren. Auf deutsch erschien von ihm bei Knaus zuletzt der Roman „In Gestalt eines Ebers” (2001).
Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Sieben Jahre nach Erscheinen des Buches ist eine Debatte um Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser” entbrannt. Sie geht von britischen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus, die sich fragen, warum dieses Buch ein so großer internationaler Bestseller geworden ist (siehe SZ vom 30. März und vom 20. April). Vor allem sentimentale Geschichtsfälschung werfen die britischen Kritiker dem Roman vor. Gegen diese Vorwürfe wurden von deutscher Seite zwei Einwände geltend gemacht. Zum einen der Einwand, bei den britischen Kritikern handele es sich um ewig Gestrige, die nicht von den ethischen Überzeugungen der sechziger Jahre, von der Forderung nach einer moralischen Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne, lassen wollten. Zum anderen der Einwand, hinter der Kritik verberge sich nichts anderes als der Neid gegenüber dem Erfolg. Beide Einwände verfehlen ihr Ziel: Zumindest ein Teil der Kritiker ist, wie man an der heutigen Seite leicht erkennen kann, in den sechziger Jahren überhaupt erst geboren. Zum anderen ist „Neid”, wenn es um Bestseller geht, stets ein bequemes, nicht weiter begründungspflichtiges Argument, in dem sich der Kritiker der Kritiker zum Richter über deren Seelenzustand erhebt. Statt dessen belehren die britischen Kritiker auch die deutschen Leser, dass jede Debatte um einen „Schlussstrich” in der Auseinandersetzung um das „Dritte Reich” und den Holocaust Unfug ist: Denn es gibt einen Normalzustand der Literatur. Dazu gehört, dass sich Schriftsteller, gleich welchen Alters, über die Geschichte beugen. Und auch, dass Romane nicht nur der historischen, sondern auch der literarischen Kritik unterzogen werden.
Unsere Abbildung zeigt ein im März 1943 entstandenes Porträt von geringem künstlerischen Wert. Der unbekannte Maler hat für sein Werk ein Stück einer Tora-Rolle verwendet, die vermutlich aus einer osteuropäischen Synagoge stammt. Auf der Rückseite des Bildes ist ein Stück aus dem Pentateuch in hebräischer Quadratschrift erkennbar.
Foto: Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum”
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Warum Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser” ein so schlechtes Buch ist und allein sein Erfolg einen tieferen Sinn hat / Von Lawrence Norfolk
Günter Grass hat einen Roman über die Vertreibung von Deutschen aus Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben, und alle sind wütend. Dem Spiegel zufolge sind die deutschen Rezensenten wütend (auf Grass), weil sein Buch mit den Polendeutschen sympathisiert. Der Spiegel ist wütend – auf die deutsche Kritik, weil sie Grass allein wegen seiner angeblich politisch nicht korrekten Haltung kritisiere. Die deutsche Kritik ist wütend auf den Spiegel, weil das, sagt sie, Blödsinn sei: Die Kritiker sind nicht deshalb wütend auf Grass, weil sein Buch politisch nicht korrekt ist, sondern weil es – ad libitum – schlecht geschrieben, langweilig, langstielig und so weiter ist. Der Spiegel verwechselt ästhetische Kritik mit der moralischen oder politischen und verteidigt insofern Grass gegen einen Vorwurf, der überhaupt nicht erhoben wurde.
Wie üblich ergibt sich, wenn alle entschlossen sind, alle anderen misszuverstehen, eine allgemeine Verwirrung – moralisch, ästhetisch, gesellschaftlich, politisch. Wie verzweifelt die Situation ist, mag darin seinen Ausdruck finden, dass ich bei dem Versuch, die jüngsten Turbulenzen der deutschen Seele zu analysieren, Hilfe auf bizarr unerwarteter Seite suchen möchte: bei den britischen Kritikern. Grass ist ein ziemlich schwieriger Patient (komplexe Themen, letztes Buch noch unübersetzt), aber sein Zustand ist bereits am Beispiel eines anderen Falles diagnostiziert worden, der dem britischen Geschmack näher liegt: dem von Bernhard Schlink.
Bewusster Falschmünzer
Man hat die Berechnung angestellt, dass sämtliche Leser, die Schlinks Roman „Der Vorleser” als „bewegend” bezeichnet haben, aneinander gelegt von der Erde bis zum Jupiter und zurück reichen würden. Wie das Buch ist diese Behauptung fast wahr. „Der Vorleser” erzählt die Geschichte eines Jungen, der kurz ein Verhältnis mit einer älteren Frau hat. Ein paar Jahre später erfährt er, dass sie erstens eine KZ-Aufseherin war und zweitens Analphabetin ist (und sich insofern bei ihrem Prozess nicht verteidigen kann). Sie kommt ins Gefängnis, und er schickt ihr Tonbänder, auf denen er ihr klassische Literatur vorliest. Es wäre aber unfair, das Ende zu verraten. „Der Vorleser” war in Deutschland ein ziemlicher Erfolg, in Großbritannien und Amerika ein riesiger.
Im März dieses Jahres wurden auf der Leserbriefseite einiger Nummern des Times Literary Supplement die Meriten von „Der Vorleser” diskutiert. Eine zornige Intervention des Romanciers und Philologen Frederic Raphael verdammte die „Ausgewogenheit zwischen den Belangen des Mörders und seines Opfers” in Schlinks Roman als eine „Form der Kollaboration mit dem Bösen”, und Schlink selbst als einen „bewussten Falschmünzer”.
Von drei Briefen im TLS der nächsten Woche teilten zwei Raphaels Ansicht, was den „Vorleser” betrifft („widerlich, weil es so gefällig gebastelt und so lesbar ist”, „ein schlecht geschriebenes, sentimentales und moralisch unsägliches Buch”), während der dritte den auf dieser Leserbriefseite eher üblichen Standard olympischer Irrelevanz wahrte und sich auf Sokrates bezog. In der Woche darauf folgte Jeremy Adler mit einer Analyse von „Der Vorleser” als „kulturelle Pornographie” und legte im einzelnen dar, wie der Roman seine literarischen Vorbilder verzerrt und mit welch kruden Verallgemeinerungen über Opfer und Unterdrücker er arbeitet: beides notwendige Voraussetzungen, damit die angeblichen moralischen Einsichten des Buches plausibel wirken.
Die Leser des „Vorlesers” sind reingelegt worden. Das ist, implizit oder ausdrücklich, die Behauptung von Schlinks Kritikern. Die begeisterten Leser glauben, sie würden das große moralische Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts jetzt begreifen, aber tatsächlich wird ihnen nur erlaubt, ihre eigenen Selbstgefälligkeit zu genießen. Doch wenn „Der Vorleser” nun etwas „Gefälschtes” ist, „widerlich”, „schlecht geschrieben”, wenn es sich bloß um eine Dosis Holocaust Light handelt - warum gefällt das Buch so vielen Leuten?
Ich glaube, dieser Umstand ist es, der den Zorn der schärfsten Kritiker des Buches nährt. Es ist schwer vorstellbar, dass dasselbe Buch dieselbe Empörung auslösen könnte, wenn es das Schicksal der meisten Romane (auch authentischer, wunderbarer, gut geschriebener Romane) geteilt hätte: spurlos zu versinken. Das tat es nicht. Aber weshalb?
Das Rückgrat des Buches bildet die Liebesgeschichte, und sie ist auch seine größte technische Leistung. Hier lag Schlinks Problem. Er muss das Liebesverhältnis so weit vorantreiben, dass die Sympathien des Lesers stark genug geworden sind, um sie nicht zurückzuziehen, wenn er erkennt, dass die Geliebte eine KZ-Mörderin ist. Also ist das Buch eine Übung in Verzögerungstaktik und erzählerischer Zeitplanung. Wann soll die Explosion erfolgen? Die plötzliche Distanzierung von der Frau bei der Enthüllung ihrer Wahrheit ist natürlich ein Täuschungsmanöver. Der Rest des Buches dient der Wiederannäherung an die Heldin in ihrer neuen Inkarnation als Analphabetin im Büßergewand. Dass sie ins Gefängnis kommt, ist hilfreich, aber ihr innerer Opferstatus kann erst mit dem Höhepunkt des Buches überzeugend behauptet werden.
Die strukturelle Integrität von „Der Vorleser” ist so solide wie die des Parthenon, aber das ist die einzige Integrität, die das Buch besitzt. Es ist, wie die Kritiker im einzelnen dargelegt haben, historisch ungenau und moralisch unwahrscheinlich. Es manipuliert uns Leser an einen Punkt, wo wir Mitleid für ein Ungeheuer empfinden, und fordert uns dann heraus: Wagt ihr es, euch moralisch überlegen zu fühlen? Aber wer sind wir denn, dass wir diese Frau verurteilen dürften? Wir haben den Vorteil, dass wir lesen können. Wenn sie nur auch hätte lesen können, dann wäre nichts von all dem Schlimmen geschehen. Dieser verführerische Gedanke spielt brillant-zynisch mit der liberalen Lieblingsvorstellung, dass eine gute Bildung den Menschen moralisch besser macht.
Ich muss gestehen, dass ich ebenfalls in Versuchung bin. Mir gefällt der Gedanke einer Revision der Geschichte, die brutale SS-Offiziere zu Heiligen werden lässt, indem sie lernen, die Odyssee zu lesen. Das ist das eigentliche Thema des Romans: Es hätte doch alles auch ganz anders sein können. Er handelt von der Sehnsucht eines Millionenpublikums am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts nach einer ungeschehenen Zeitgeschichte. Hier ist Schlinks Buch absolut wahr. Die einzige Lüge steckt im Titel: Er hätte „Die Leser” lauten müssen.
Oder „Die englischen Leser”. Großbritannien ging voran, die Amerikaner folgten. Wir haben das, was das Buch ist, verwechselt mit dem, was es sagt. Es ist offenkundig eine Satire auf die moralische Naivität seiner englischsprachigen Fans. So muss es sein. Sonst gibt es keinen Sinn. Aber weder die Fans noch die Kritiker haben es so gelesen. Daher die Verwirrung und die Wut. Und nun zurück zu Grass, seinen Kritikern und den Kritikern der Kritiker. Ich habe keine Ahnung, wer bei der Debatte recht hat, aber es scheint klar, wohin sie führt: weiter und weiter weg von Grass' Buch. Es ist immer leichter, definitive Aussagen über die Realität zu machen, die einem Roman zugrunde liegt, als über diesen selbst.
Ein schwerer Tod
Ich kann hierin nichts Verdächtigeres erkennen als Trägheit – Faktenhuberei und inszenierte Empörung sollen an die Stelle engagierter Phantasie treten. Diese aber wäre für einen schlechten Roman viel verheerender – er zerfällt bei jedem Versuch, ihn wirklich zu begreifen. Die faktischen Unwahrscheinlichkeiten in „Der Vorleser” haben als Köder von einem solchen Engagement der Phantasie abgelenkt, und man hat nicht bemerkt, wie schlecht das Buch ist. Wovon kann eine Satire auf die moralische Leichtgläubigkeit des englischsprachigen Lesepublikums denn handeln außer von den eigenen Umsatzzahlen? Nur die Popularität des Buches hat einen tieferen Sinn.
Diese beiden kritischen Auseinandersetzungen sind Ausdruck derselben, zunehmend verbreiteten kritischen Haltung: der Verweisung ästhetischer Fragen an nicht-ästhetische Kriterien, politische, historische, soziale, moralische oder was auch immer. Alte Gewohnheiten sterben einen schweren Tod. Grass' Buch mag der erste Schritt in der jüngsten deutschen Kampagne zur Eroberung Polens sein, ich kann das nicht beurteilen. Aber selbst wenn es stimmte, wäre das noch keine Aussage über das Buch, sondern nur über den Zusammenhang, in dem es gelesen wird.
Oder nicht gelesen. „Der Vorleser” sagt nichts über die moralische Gleichwertigkeit von Opfer und Unterdrücker, nicht einmal etwas über die Erlösung durch Bildung. Indem sie das Buch wie oder geradezu als jene Geschichte behandeln, die es nicht evoziert, haben die wütenden Kritiker und begeisterten Fans von Schlinks Roman den einzigen Punkt gefunden, in dem sie übereinstimmen: Beide haben sich dafür entschieden, das Buch nicht zu lesen.
Der Schriftsteller Lawrence Norfolk wurde 1963 in London geboren. Auf deutsch erschien von ihm bei Knaus zuletzt der Roman „In Gestalt eines Ebers” (2001).
Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Sieben Jahre nach Erscheinen des Buches ist eine Debatte um Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser” entbrannt. Sie geht von britischen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus, die sich fragen, warum dieses Buch ein so großer internationaler Bestseller geworden ist (siehe SZ vom 30. März und vom 20. April). Vor allem sentimentale Geschichtsfälschung werfen die britischen Kritiker dem Roman vor. Gegen diese Vorwürfe wurden von deutscher Seite zwei Einwände geltend gemacht. Zum einen der Einwand, bei den britischen Kritikern handele es sich um ewig Gestrige, die nicht von den ethischen Überzeugungen der sechziger Jahre, von der Forderung nach einer moralischen Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne, lassen wollten. Zum anderen der Einwand, hinter der Kritik verberge sich nichts anderes als der Neid gegenüber dem Erfolg. Beide Einwände verfehlen ihr Ziel: Zumindest ein Teil der Kritiker ist, wie man an der heutigen Seite leicht erkennen kann, in den sechziger Jahren überhaupt erst geboren. Zum anderen ist „Neid”, wenn es um Bestseller geht, stets ein bequemes, nicht weiter begründungspflichtiges Argument, in dem sich der Kritiker der Kritiker zum Richter über deren Seelenzustand erhebt. Statt dessen belehren die britischen Kritiker auch die deutschen Leser, dass jede Debatte um einen „Schlussstrich” in der Auseinandersetzung um das „Dritte Reich” und den Holocaust Unfug ist: Denn es gibt einen Normalzustand der Literatur. Dazu gehört, dass sich Schriftsteller, gleich welchen Alters, über die Geschichte beugen. Und auch, dass Romane nicht nur der historischen, sondern auch der literarischen Kritik unterzogen werden.
Unsere Abbildung zeigt ein im März 1943 entstandenes Porträt von geringem künstlerischen Wert. Der unbekannte Maler hat für sein Werk ein Stück einer Tora-Rolle verwendet, die vermutlich aus einer osteuropäischen Synagoge stammt. Auf der Rückseite des Bildes ist ein Stück aus dem Pentateuch in hebräischer Quadratschrift erkennbar.
Foto: Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum”
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"Arresting, philosophically elegant, morally complex. Mr. Schlink tells his story with marvelous directness and simplicity.'"(The New York Times) "A formally beautiful, disturbing and finally morally devastating novel."(Los Angeles Times) "Moving, suggestive and ultimately hopeful. The Reader leaps national boundaries and speaks straight to the heart."(The New York Times Book Review)