»Viel gelebt und wenig geschrieben! Besser als umgekehrt.«Der wagemutigste Klassiker und erste Reporter DeutschlandsDieser Mann hat mehr erlebt als fast jeder seiner Zeitgenossen: das Glück, als hochbegabtes Bauernkind gefördert zu werden; das Unglück, mittelloser Stipendiat und damit Student zweiter Klasse zu sein, von dem ewige Dankbarkeit erwartet wird; das Pech, als zwangsrekrutierter Soldat in den Krieg nach Amerika verschifft zu werden, dreimal zu desertieren, um zweimal wieder eingefangen und zum Spießrutenlaufen verurteilt zu werden. Den polnischen Aufstand in Warschau überlebte er nur mit Glück, drei Tage hungernd, hinter Fässern versteckt auf einem Dachboden.Berühmt wurde Johann Gottfried Seume durch eine waghalsige Reise: Ohne Geld brach er im Winter 1801 zu Fuß auf und wanderte bis Syrakus. Einem Mitreisenden wurde es bald zu gefährlich, doch Seume ging weiter. Zweimal wurde er überfallen und ausgeraubt, das Messer am Hals. Wieder daheim, schrieb er den Spaziergang nach Syrakus. Die erste große Reportage Deutschlands wurde zum bestaunten Erfolg und inspirierte unzählige Nachahmer, z. B. unlängst erst Wolfgang Büscher, der bis nach Moskau lief.Aber auch andere seiner Bücher haben das Zeug zum Klassiker: Ob in Schreiben aus America, in Aufstand in Polen, in Mein Sommer oder in Mein Leben - über sich, seine Erlebnisse, seine Mitmenschen und die Welt, in der er lebte, schrieb Seume so ungeniert, direkt und offen, dass er vielen unbequem, ja mitunter unheimlich wurde. Nicht wenige seiner Schriften waren verboten.Ein Mann, dessen Lebensprinzip es war, sich auszusetzen und darüber zu schreiben. Ein Mann von unten, der kam, sah und sich einmischte - einen wie ihn gab es vorher in Deutschland nicht und hinterher lange nicht mehr.Nun schreibt der Autor Bruno Preisendörfer zu Seumes 250. Geburtstag ein Buch über dessen abenteuerliches Leben - und was für eins.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2013Mit Horaz in der Hand auf nach Kanada
Die Existenz als Druckfehler, die Johann Gottfried Seume befürchtet hatte, blieb ihm erspart. Bruno Preisendörfer zeichnet die Lebensreise des kantigen Einzelgängers nach.
Die "Menschheit hat an ihm eine ihrer größten und leider! unerkannten Zierden verloren", klagte Wieland im Juni 1810 in seinem Nachruf auf Johann Gottfried Seume. Die von ihm beschworene Größe an Geist, Herz und Charakter steht heute, am 250. Geburtstag von Seume, außer Frage. Relativ unbekannt, wenn auch nicht unerkannt, ist er gleichwohl geblieben. Und das trotz dreibändiger Klassikerausgabe mit einem überreichen Briefband (F.A.Z. vom 8. Mai 2002), neuerer Biographie (F.A.Z. vom 24. Mai 2006) und jüngsten detektivischen Lebensrecherchen des Seume-Forschers Dirk Sangmeister (F.A.Z. vom 12. Juni 2010).
Der Publizist Bruno Preisendörfer greift diese fleißigen Vorarbeiten jetzt auf, um den kantigen Einzelgänger endlich einem größeren Publikum nahezubringen. Das Buch ist eigenwillig: keine klassische Biographie, kein erzählender Essay, keine wissenschaftliche Abhandlung und doch von alldem etwas. "Der waghalsige Reisende" ist ein flotter und passender Titel, denn über den Fußmarsch nach Syrakus 1802, die Umrundung der Ostsee 1805 und andere Abenteuer hinaus geht es um die geistige Lebensfahrt eines rastlosen Homo viator.
Seume kommt aus einer Bauernfamilie, seine Intelligenz öffnet ihm über die Lateinschule und das Gymnasium 1780 den Zugang zum Theologiestudium in Leipzig. Skeptizismus und Freigeisterei bringen ihn, wie seine ebenfalls aus kleinen Verhältnissen stammenden Kommilitonen Jean Paul und Johann Karl Wezel, vom vorgezeichneten Weg ab. In der Hoffnung auf eine Offizierslaufbahn flieht er nach Frankreich, fällt unterwegs Werbern in die Hände, wird nach Halifax in den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg verschifft und versucht nach der Rückkehr erfolglos zu desertieren. Freigelassen auf Kaution und ausgestattet mit einem Stipendium, nimmt er 1787 das Studium wieder auf, promoviert mit einer Arbeit über antike Waffen, zieht wieder in den Krieg und gerät 1794 im Warschauer Aufstand in polnische Gefangenschaft. Nach der Heimkehr dient er dem Verleger Göschen als Lektor - oder vielmehr als getretener "Buchstabeninspektor" Klopstocks -, bis er verzweifelt ausruft: "Mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden." Am 6. Dezember 1801 nimmt Seume Abschied von Göschen und begibt sich auf seinen legendären Selbstbefreiungsweg nach Sizilien.
Preisendörfer erzählt diese von rasanten Glückswechseln geprägte Lebensgeschichte auf schlanken achtzig Seiten, um sie dann in thematischen Kreisbewegungen weiter zu vertiefen. Die großen Reisen bilden dabei eine wichtige Einheit: Auch wenn Seume den "Spaziergang" in den Süden stilisierte - "Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft" - und nur zweitausend der mehr als viertausend Kilometer wirklich marschierte (mit einem Paar Stiefel - Sohlenwechsel in Palermo), ist die Leistung gewaltig. Das Vorsatzblatt zeigt die Route über Prag, Wien, Laibach, Venedig, Rom, Neapel und auf dem Rückweg gar über Zürich und Paris. Die Behauptung des scharfsichtigen Beobachters, ein Wanderer sehe "anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt", bestätigt sich allenthalben. Seumes Erschütterung über den wirtschaftlichen Niedergang der italienischen Gesellschaft wirkt sogar fast aktuell: Die "Minister an ihrer Spitze" wünscht er "vor die Kartätsche" zu stellen.
Seume ist kein Bildungsreisender à la Goethe, aber auch er bildet sich, wo er geht und steht. Im Tornister führt er statt Geld und Gut griechische und römische Autoren mit sich. Zwei Überfällen von Räubern kann er so fast ungeschoren entgehen. Schon auf der mörderischen Überfahrt nach Kanada verschafft ihm der Horaz in der Hand das Wohlwollen des Kapitäns, und später rettet sich der Deserteur durch einen klugen Disput über einige an die Zellenwand gekritzelte lateinische Hexameter. Natürlich ist hier zugleich ein nicht immer zuverlässiger, schelmischer Erzähler am Werk, dem Preisendörfer wiederholt auf den Zahn fühlt. Noch mehr interessiert der Biograph sich aber für sozialgeschichtliche Kontexte wie das Militärwesen oder den Literaturbetrieb, vor allem aber für Gesellschaftskritik.
Seumes Werk erregte in den politisch bewegten siebziger Jahren große Aufmerksamkeit. Damit hing seine Wiederentdeckung zusammen. Heute würde man diesen frühen Reisereporter wohl eher nach seiner kritischen Sicht auf eigene und fremde Kulturen fragen, nach nordamerikanischen Indianern, nach baltischen und skandinavischen Völkern oder den Bewohnern Siziliens. Und den Schriftsteller nach seinen literarischen Formexperimenten, etwa mit der Reisebeschreibung im "Spaziergang nach Syrakus" oder in "Mein Sommer 1805", der Autobiographie in "Mein Leben" oder seinen Briefen und Tagebüchern, schließlich der Aphoristik in den "Apokryphen". Auch dazu weiß Preisendörfer hier und da Erhellendes zu sagen, der Fokus liegt indes anderswo. Sein Buch ist flüssig und anregend geschrieben, durch die Kreuzung der biographischen und thematischen Linien enthält es aber gelegentlich Wiederholungen. Befeuert wird es durch die Liebe zum Gegenstand, die auch den Leser erfasst. Nichts anderes hat Seume verdient.
ALEXANDER KOSENINA
Bruno Preisendörfer: "Der waghalsige Reisende".
Johann Gottfried Seume und das ungeschützte
Leben.
Verlag Galiani, Berlin 2012. 380 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Existenz als Druckfehler, die Johann Gottfried Seume befürchtet hatte, blieb ihm erspart. Bruno Preisendörfer zeichnet die Lebensreise des kantigen Einzelgängers nach.
Die "Menschheit hat an ihm eine ihrer größten und leider! unerkannten Zierden verloren", klagte Wieland im Juni 1810 in seinem Nachruf auf Johann Gottfried Seume. Die von ihm beschworene Größe an Geist, Herz und Charakter steht heute, am 250. Geburtstag von Seume, außer Frage. Relativ unbekannt, wenn auch nicht unerkannt, ist er gleichwohl geblieben. Und das trotz dreibändiger Klassikerausgabe mit einem überreichen Briefband (F.A.Z. vom 8. Mai 2002), neuerer Biographie (F.A.Z. vom 24. Mai 2006) und jüngsten detektivischen Lebensrecherchen des Seume-Forschers Dirk Sangmeister (F.A.Z. vom 12. Juni 2010).
Der Publizist Bruno Preisendörfer greift diese fleißigen Vorarbeiten jetzt auf, um den kantigen Einzelgänger endlich einem größeren Publikum nahezubringen. Das Buch ist eigenwillig: keine klassische Biographie, kein erzählender Essay, keine wissenschaftliche Abhandlung und doch von alldem etwas. "Der waghalsige Reisende" ist ein flotter und passender Titel, denn über den Fußmarsch nach Syrakus 1802, die Umrundung der Ostsee 1805 und andere Abenteuer hinaus geht es um die geistige Lebensfahrt eines rastlosen Homo viator.
Seume kommt aus einer Bauernfamilie, seine Intelligenz öffnet ihm über die Lateinschule und das Gymnasium 1780 den Zugang zum Theologiestudium in Leipzig. Skeptizismus und Freigeisterei bringen ihn, wie seine ebenfalls aus kleinen Verhältnissen stammenden Kommilitonen Jean Paul und Johann Karl Wezel, vom vorgezeichneten Weg ab. In der Hoffnung auf eine Offizierslaufbahn flieht er nach Frankreich, fällt unterwegs Werbern in die Hände, wird nach Halifax in den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg verschifft und versucht nach der Rückkehr erfolglos zu desertieren. Freigelassen auf Kaution und ausgestattet mit einem Stipendium, nimmt er 1787 das Studium wieder auf, promoviert mit einer Arbeit über antike Waffen, zieht wieder in den Krieg und gerät 1794 im Warschauer Aufstand in polnische Gefangenschaft. Nach der Heimkehr dient er dem Verleger Göschen als Lektor - oder vielmehr als getretener "Buchstabeninspektor" Klopstocks -, bis er verzweifelt ausruft: "Mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden." Am 6. Dezember 1801 nimmt Seume Abschied von Göschen und begibt sich auf seinen legendären Selbstbefreiungsweg nach Sizilien.
Preisendörfer erzählt diese von rasanten Glückswechseln geprägte Lebensgeschichte auf schlanken achtzig Seiten, um sie dann in thematischen Kreisbewegungen weiter zu vertiefen. Die großen Reisen bilden dabei eine wichtige Einheit: Auch wenn Seume den "Spaziergang" in den Süden stilisierte - "Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft" - und nur zweitausend der mehr als viertausend Kilometer wirklich marschierte (mit einem Paar Stiefel - Sohlenwechsel in Palermo), ist die Leistung gewaltig. Das Vorsatzblatt zeigt die Route über Prag, Wien, Laibach, Venedig, Rom, Neapel und auf dem Rückweg gar über Zürich und Paris. Die Behauptung des scharfsichtigen Beobachters, ein Wanderer sehe "anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt", bestätigt sich allenthalben. Seumes Erschütterung über den wirtschaftlichen Niedergang der italienischen Gesellschaft wirkt sogar fast aktuell: Die "Minister an ihrer Spitze" wünscht er "vor die Kartätsche" zu stellen.
Seume ist kein Bildungsreisender à la Goethe, aber auch er bildet sich, wo er geht und steht. Im Tornister führt er statt Geld und Gut griechische und römische Autoren mit sich. Zwei Überfällen von Räubern kann er so fast ungeschoren entgehen. Schon auf der mörderischen Überfahrt nach Kanada verschafft ihm der Horaz in der Hand das Wohlwollen des Kapitäns, und später rettet sich der Deserteur durch einen klugen Disput über einige an die Zellenwand gekritzelte lateinische Hexameter. Natürlich ist hier zugleich ein nicht immer zuverlässiger, schelmischer Erzähler am Werk, dem Preisendörfer wiederholt auf den Zahn fühlt. Noch mehr interessiert der Biograph sich aber für sozialgeschichtliche Kontexte wie das Militärwesen oder den Literaturbetrieb, vor allem aber für Gesellschaftskritik.
Seumes Werk erregte in den politisch bewegten siebziger Jahren große Aufmerksamkeit. Damit hing seine Wiederentdeckung zusammen. Heute würde man diesen frühen Reisereporter wohl eher nach seiner kritischen Sicht auf eigene und fremde Kulturen fragen, nach nordamerikanischen Indianern, nach baltischen und skandinavischen Völkern oder den Bewohnern Siziliens. Und den Schriftsteller nach seinen literarischen Formexperimenten, etwa mit der Reisebeschreibung im "Spaziergang nach Syrakus" oder in "Mein Sommer 1805", der Autobiographie in "Mein Leben" oder seinen Briefen und Tagebüchern, schließlich der Aphoristik in den "Apokryphen". Auch dazu weiß Preisendörfer hier und da Erhellendes zu sagen, der Fokus liegt indes anderswo. Sein Buch ist flüssig und anregend geschrieben, durch die Kreuzung der biographischen und thematischen Linien enthält es aber gelegentlich Wiederholungen. Befeuert wird es durch die Liebe zum Gegenstand, die auch den Leser erfasst. Nichts anderes hat Seume verdient.
ALEXANDER KOSENINA
Bruno Preisendörfer: "Der waghalsige Reisende".
Johann Gottfried Seume und das ungeschützte
Leben.
Verlag Galiani, Berlin 2012. 380 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Alexander Kosenina sieht Bruno Preisendörfers Buch über den frühen Reisereporter Gottfried Seume vor allem von der Liebe zu seinem Gegenstand getragen. Etwas eigensinnig schwankt "Der waghalsige Reisende" zwischen Essay, Biografie und wissenschaftlicher Abhandlung, was Koseninas Vergnügen an der Lektüre keinen Abbruch tat. Er folgt freudig dem freigeistigen Abenteurer Seume, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kämpft und seiner Stelle als Lektor ("Klopstocks Buchstabeninspektor") durch seinen berühmten Spaziergang nach Syrakus entflieht, über Prag, Wien und Venedig, zurück über Zürich und Paris, mit "Sohlenwechsel in Palermo". Kosenina bemerkt zufrieden, dass Preisendörfer Seume durchaus auf den Zahn fühlt, denn nicht immer zeige sich der Reporter als verlässlicher Erzähler. Dass Seume aber nur 2000 von 4000 Kilometern wirklich zu Fuß gegangen ist, schmälert in Koseninas Augen aber keineswegs seine Verdienste. Hinzu kommt ja schließlich auch die Umrundung der Ostsee!
© Perlentaucher Medien GmbH
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