Der Garten, in dem diese Geschichte spielt, ist groß und wild. Es ist ein sehr alter Garten. Riesige Bäume und seltsame Blumen wachsen hier; es gibt winzige Käfer und große Spinnen, wilde Katzen und freche Vögel. In der Mitte des Gartens steht ein altes, kleines Haus. In diesem Haus lebt Lille mit ihrer Oma. Und dann, eines Morgens, liegt da ein riesiger Wal. Ausgerechnet auf Lilles Fahrrad! Und schlechte Laune hat er auch noch ... In Sabine Rufeners Bilderbuchdebüt lernen das Mädchen und der Wal nach und nach miteinander auszukommen. Bis die Sehnsucht nach dem Meer immer größer und der Wal immer kleiner wird.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Ulrike Schultheis hat viel Freude beim Lesen und Betrachten von Sabine Rufeners erstem Bilderbuch "Der Wal im Garten". Rufener lässt hier Text und Bild in einen wunderbaren Dialog treten. Während der Text recht nüchtern und knapp die Geschichte vom gestrandeten Wal im Garten von Lilles Oma erzählt, schaffen die meist in gedeckten Farben gehaltenen Illustrationen eine dunkel-erdige, teilweise leicht surreale Atmosphäre, beschreibt Schultheis. An einigen Stellen wird es sogar richtig düster, stellt die Rezensentin fest, wobei Rufener stets darauf achtet, diese Finsternis wieder auszugleichen durch einen hellen, lakonischen Ton "und die unerschrockene Schlagfertigkeit" der jungen Protagonistin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2021Doppelt verwundert hält besser
Man sehe und staune: Sabine Rufener erzählt die Geschichte eines gestrandeten Wals und des Mädchens, das ihn rettet. Alles andere an diesem Bilderbuch ist noch ungewöhnlicher.
Es gibt zwei besonders verblüffende Momente in diesem Bilderbuch. Nein, nicht dass plötzlich ein Wal im Garten eines Einfamilienhauses liegt und die Aussicht verdunkelt. Und auch nicht, dass dieser Wal im Laufe der folgenden Wochen weiterlebt, aber zu schrumpfen beginnt, bis er in der Vogeltränke Platz findet. Das ist eigentümlich genug, aber kommt an Überraschung nicht jenen beiden Doppelseiten gleich, auf denen das Meer in die Handlung eintritt. Bei der ersten setzt die Schweizer Illustratorin Sabine Rufener eine Erzählung des Wals ins Bild, mit der die junge Lille, eine Bewohnerin des Hauses, über den üblichen Lebensraum ihres unfreiwilligen Gartengastes ins Bild gesetzt wird: "Wenn man dem Wal glauben konnte, war die Tiefsee eine geheimnisvolle und fremde Welt." Und dementsprechend geheimnisvoll und fremd ist, was uns Lesern auf der Doppelseite erwartet. Wir müssen das Buch nämlich hochkant halten, um die Passage lesen zu können. Und dadurch wird die sonst querformatige Bildgestaltung zu einem Hochformat, das uns die Tiefsee anschaulich vorführt: in Gestalt des Wals, der als hellgrauer Schemen in einen dunkelgrauen Abgrund hinabtaucht, dem nur einige Laternenfische spärliches Licht schenken. Im Auge des Wals erkennen wir gleichfalls schemenhaft Lille, denn der letzte Satz des zugehörigen Textes lautet: "Und als der Wal so erzählte, konnte Lille sich sehr genau vorstellen, wie es war, in einem U-Boot durch die Tiefe zu schweben . . ."
Der zweite verblüffende Moment kommt kurz vor Schluss, als Lille sich ein Herz fasst, den mittlerweile winzigen Wal in einen Eimer packt und mit ihm ans Meer radelt. Eine lange Fahrt, aber was das für die Geschichte bedeutet, wird gar nicht thematisiert - Sabine Rufener berichtet von dem seltsamen Geschehen derart unprätentiös und selbstverständlich, dass man keinmal in Plausibilitätserwägungen verfällt. Man wird vor dieser Geschichte wieder zum Kind, das alles für bare Münze nimmt - nicht aus Naivität, sondern aus gutem Glauben, wie ihn nur eine gute Geschichte begründen kann.
Aber das ist immer noch nicht der zweite verblüffende Moment. Der ist erst auf der vorletzten Doppelseite erreicht, der einzigen im ganzen Buch ohne jeden Text. Der letzte Satz zuvor beschreibt den Effekt des sich intensivierenden Meeresgeruchs beim Radfahren auf den Wal: "Als Lille sich zu ihm umdrehte, glaubte sie zum ersten Mal so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen." Und jeder würde wohl erwarten, auf der Folgeseite dann dieses Lächeln vorgeführt zu bekommen. Es wäre ja spektakulär genug, denn wie lächelt denn so ein Wal?
Doch das ist es dann gar nicht, was folgt. Stattdessen sitzt auf der wortlosen Doppelseite, die sprachlos macht vor Glück, Lille am Strand vor dem weiten ins Abendrot getauchten Meer, und neben ihr steht der leere Eimer. Kein Wort ist nötig, um zu wissen, was passiert ist: Der Wal ist wieder im Wasser. Was ihm dort passieren wird, ob er wieder wachsen wird, das werden wir nicht erfahren. Aber wir können es uns denken angesichts dieser lebenszugewandten Freundschaftsgeschichte, die noch eine Doppelseite weiter so unaufgeregt endet, wie man es sich nur wünschen kann: "Nur noch ein paar Muscheln und ein Seestern lagen im Gras." Sonst nichts.
Ein Maximum an Stimmung und Gefühl aus wenig Worten und schönen Bildern in gedeckten Farben, die eine eigene Betrachtung verdient hätten. Dafür taugt dann die zweite, dritte, x-fache Lektüre. Und dabei wird man auch merken, wie viel in diesem Bilderwunderbuch sich dem Geschick seiner deutschen Gestalterin Franziska Walther verdankt. War sie es, die auf die Idee mit dem gekippten Buch gekommen ist und auf das Schweigen am Strande? Es ist egal, weil es perfekt ist. Aber dass dieses Bilderbuch ein Muster an Schönheit und Druckqualität darstellt, das verdankt sich ganz gewiss Franziska Walther.
ANDREAS PLATTHAUS
Sabine Rufener: "Der Wal im Garten".
Verlag Kunstanstifter, Mannheim 2021. 36 S., geb., 22,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man sehe und staune: Sabine Rufener erzählt die Geschichte eines gestrandeten Wals und des Mädchens, das ihn rettet. Alles andere an diesem Bilderbuch ist noch ungewöhnlicher.
Es gibt zwei besonders verblüffende Momente in diesem Bilderbuch. Nein, nicht dass plötzlich ein Wal im Garten eines Einfamilienhauses liegt und die Aussicht verdunkelt. Und auch nicht, dass dieser Wal im Laufe der folgenden Wochen weiterlebt, aber zu schrumpfen beginnt, bis er in der Vogeltränke Platz findet. Das ist eigentümlich genug, aber kommt an Überraschung nicht jenen beiden Doppelseiten gleich, auf denen das Meer in die Handlung eintritt. Bei der ersten setzt die Schweizer Illustratorin Sabine Rufener eine Erzählung des Wals ins Bild, mit der die junge Lille, eine Bewohnerin des Hauses, über den üblichen Lebensraum ihres unfreiwilligen Gartengastes ins Bild gesetzt wird: "Wenn man dem Wal glauben konnte, war die Tiefsee eine geheimnisvolle und fremde Welt." Und dementsprechend geheimnisvoll und fremd ist, was uns Lesern auf der Doppelseite erwartet. Wir müssen das Buch nämlich hochkant halten, um die Passage lesen zu können. Und dadurch wird die sonst querformatige Bildgestaltung zu einem Hochformat, das uns die Tiefsee anschaulich vorführt: in Gestalt des Wals, der als hellgrauer Schemen in einen dunkelgrauen Abgrund hinabtaucht, dem nur einige Laternenfische spärliches Licht schenken. Im Auge des Wals erkennen wir gleichfalls schemenhaft Lille, denn der letzte Satz des zugehörigen Textes lautet: "Und als der Wal so erzählte, konnte Lille sich sehr genau vorstellen, wie es war, in einem U-Boot durch die Tiefe zu schweben . . ."
Der zweite verblüffende Moment kommt kurz vor Schluss, als Lille sich ein Herz fasst, den mittlerweile winzigen Wal in einen Eimer packt und mit ihm ans Meer radelt. Eine lange Fahrt, aber was das für die Geschichte bedeutet, wird gar nicht thematisiert - Sabine Rufener berichtet von dem seltsamen Geschehen derart unprätentiös und selbstverständlich, dass man keinmal in Plausibilitätserwägungen verfällt. Man wird vor dieser Geschichte wieder zum Kind, das alles für bare Münze nimmt - nicht aus Naivität, sondern aus gutem Glauben, wie ihn nur eine gute Geschichte begründen kann.
Aber das ist immer noch nicht der zweite verblüffende Moment. Der ist erst auf der vorletzten Doppelseite erreicht, der einzigen im ganzen Buch ohne jeden Text. Der letzte Satz zuvor beschreibt den Effekt des sich intensivierenden Meeresgeruchs beim Radfahren auf den Wal: "Als Lille sich zu ihm umdrehte, glaubte sie zum ersten Mal so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen." Und jeder würde wohl erwarten, auf der Folgeseite dann dieses Lächeln vorgeführt zu bekommen. Es wäre ja spektakulär genug, denn wie lächelt denn so ein Wal?
Doch das ist es dann gar nicht, was folgt. Stattdessen sitzt auf der wortlosen Doppelseite, die sprachlos macht vor Glück, Lille am Strand vor dem weiten ins Abendrot getauchten Meer, und neben ihr steht der leere Eimer. Kein Wort ist nötig, um zu wissen, was passiert ist: Der Wal ist wieder im Wasser. Was ihm dort passieren wird, ob er wieder wachsen wird, das werden wir nicht erfahren. Aber wir können es uns denken angesichts dieser lebenszugewandten Freundschaftsgeschichte, die noch eine Doppelseite weiter so unaufgeregt endet, wie man es sich nur wünschen kann: "Nur noch ein paar Muscheln und ein Seestern lagen im Gras." Sonst nichts.
Ein Maximum an Stimmung und Gefühl aus wenig Worten und schönen Bildern in gedeckten Farben, die eine eigene Betrachtung verdient hätten. Dafür taugt dann die zweite, dritte, x-fache Lektüre. Und dabei wird man auch merken, wie viel in diesem Bilderwunderbuch sich dem Geschick seiner deutschen Gestalterin Franziska Walther verdankt. War sie es, die auf die Idee mit dem gekippten Buch gekommen ist und auf das Schweigen am Strande? Es ist egal, weil es perfekt ist. Aber dass dieses Bilderbuch ein Muster an Schönheit und Druckqualität darstellt, das verdankt sich ganz gewiss Franziska Walther.
ANDREAS PLATTHAUS
Sabine Rufener: "Der Wal im Garten".
Verlag Kunstanstifter, Mannheim 2021. 36 S., geb., 22,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main