Es gab eine Zeit, in der der Wald vom Atlantik bis zu den Karpaten unseren ganzen Kontinent bedeckte. Der Wald ist ein Mythos, ein Natur- und Kulturraum, der einzigartig ist, unermesslich sein Reichtum an Sagen und Geschichten. Kerstin Ekmans lebenslange Beschäftigung mit dem Wald mündet in diesem gewaltigen Werk: Sie erzählt darin von der jahrtausendealten Begegnung zwischen Mensch und Wald, schreibt von Waldgeistern, Volksmärchen, Räubern, Wölfen und Dichtern. Ihre Betrachtungen reichen vom Mittelalter bis heute, von der Urbarmachung über das Jagen bis zum Wirtschaftsraum Wald. Kerstin Ekman streift durch die Kiefernwälder ihrer nordschwedischen Heimat, erzählt von der Heilkraft der Nadelbäume und dem Reichtum von Flora und Fauna. Reich bebildert und mit zahlreichen Zitaten versehen ist »Der Wald« ein eindrucks volles Zeugnis einer Welt, die bald verschwunden sein wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2008Dunkler Glanz
Die neuen Verhältnisse bringen den alten Wald zurück
An der Bushaltestelle von Visseltofta, einem Dorf auf der Grenze zwischen den Provinzen Schonen und Småland in Südschweden, in einer idyllischen Landschaft in tiefen Wäldern, durch die sich Flüsse und Seen ziehen, steht eine hölzerne Anschlagtafel. Bis vor dreißig Jahren befand sich dahinter der Lebensmittelladen. Doch das Schaufenster ist längst mit einer Gardine verhängt. Die Treffen des Heimatvereins sind auf der Tafel angezeigt und die Termine des Fußballclubs, ein Rockkonzert in der Turnhalle einer Nachbargemeinde und das bebilderte Angebot, es seien junge Katzen zu verschenken. Doch es hängt dort auch der Aufruf eines niederländischen Maklers, der für eine sicherlich solvente Klientel nach Immobilien sucht: auch nach roten Holzhäusern mit weißen Eckpfosten, die auf einer Wiese an einem See oder an einem Fluss stehen, gewiss. Aber vor allem nach Waldgrundstücken in allen Größen, mit und ohne Haus.
Dieses Interesse ist neu: Die Dänen, die in diesen Wäldern in den sechziger Jahren alte Häuser in Südschweden kauften, die Deutschen, die ihnen in den achtziger und neunziger Jahren nachzogen, verfolgten keine wirtschaftlichen Absichten, sondern gestalteten ihre Freizeit. Noch immer suchen sie die Stille, die Einsamkeit, die Wiesen und Bäume. Mit dem benzingetriebenen Rasenmäher verteidigen sie ihr Land in jedem Frühjahr aufs Neue gegen den herandrängenden Wald. Es gibt in dieser Gegend Landstriche, in denen jedes zweite Haus einem Ausländer gehört, und wenn all diese Hütten und Höfe nicht längst verfault und halb im Erdreich versunken sind, so liegt es an ihnen. Die neuen Siedler jedoch verfolgen ökonomische und strategische Interessen. Sie wollen nicht die Wiese, sondern den Wald besitzen und ihn bewirtschaften lassen, in der Überzeugung, dass sein Preis nur steigen kann – und zugleich wollen sie eine Ressource erwerben, die ihnen auf Generationen hinaus ein Auskommen verspricht, fernab von steigenden Meeresspiegeln und knappen Ölvorräten. Zumindest gelegentlich werden sie daran denken, dass man auf einem solchen Hof, wenn man es nur halbwegs geschickt anstellt, auch autark leben kann. Und weil die Idee mit dem Waldbesitz gegenwärtig auch vielen wohlhabenden Schweden einleuchtet, Managern, Werbern und sogar Politikern auf dem Weg hinaus aus ihrem Beruf, haben sich die entsprechenden Grundstückspreise in Südschweden in den vergangenen zehn Jahren ungefähr verdoppelt.
An diesem Wochenende ist auf deutsch ein Buch erschienen, das zu dieser Bewegung passt. Es ist eine gewaltige, einzigartige Huldigung an den Wald im allgemeinen und den schwedischen Wald im besonderen. Kerstin Ekmans „Der Wald” (Piper Verlag, München 2008, 24,90 Euro), über fünfhundert Seiten stark, ist eine Anstrengung in enzyklopädischem Maßstab, dem Wald in all seinen Gestalten gerecht zu werden, in seiner Geschichte und in seinen Legenden, in der Vielfalt seiner Flora und Fauna, in Erzählungen von der Jagd und von Wanderung und Verbreitung der Pflanzen, in Berichten über die Ökonomie des Kahlschlags und in der traurigen Beschwörung verschwundener Baumriesen. Das Buch gleicht einem langen Spaziergang, auf dem das Auge hierhin und dorthin schweift, die Gedanken sich an einem Behaarten Hainsims oder am Preiselbeerkompott der Kindheit entspinnen und Stella, der Spitzhund, die eine oder andere Überraschung aufstöbert, einen Birkhahn zum Beispiel oder ein Mauswiesel. Knapp hundert Essays hat Kerstin Ekman, eine der erfolgreichsten schwedischen Schriftstellerinnen, die in Roslagen, hundert Kilometer nördlich von Stockholm, einen kleinen Hof bewirtschaftet, zu dieser Gesamtdarstellung des schwedischen Waldes miteinander verbunden. Sie alle werden mit großer Ruhe vorgetragen, so als wäre die Stimmung der langen Dauer, der sechzig oder achtzig oder hundert Jahre, die zwischen dem Setzen eines jungen Baumes und dem Fällen des alten vergehen, auf das Werk selbst übergegangen.
Es steckt ein Pamphlet in dieser Huldigung, ein heftiges Plädoyer für einen Naturzustand, den es, was Kerstin Ekman sehr wohl weiß, nie gegeben hat und nie gegeben haben kann, der aber als Ort der Sehnsucht und der Furcht durchaus gegenwärtig ist. Wenn Herr Olof auf seinem Pferd im Unterholz verschwindet und eine Elfe ihn berührt, so dass er, kaum heimgekommen, niedersinkt und stirbt, wenn Selma Lagerlöf in ihrer Erzählung „Die Neujahrsnacht der Tiere” einen Probst erleben lässt, wie der Waldgeist darüber richtet, welches Tier im kommenden Jahr sterben wird, dann wird hier noch einmal die Mystik des Waldes zelebriert – weniger, um daran zu glauben, als sich zu dem Zweck, sich an ihrem dunklen Glanz zu erfreuen. Kerstin Ekman erzählt zwar auch, dass der schwedische Wald einst ganz anders aussah, als er es heute tut, dass ganz Südschweden von Eichen- und Buchenwäldern bedeckt war, dass vor ihnen Erlen und Ulmen die Landschaft beherrschten, dass die Fichte einst selten war und ihr Siegeszug erst im 19. Jahrhundert begann. Aber in welcher Gestalt der Wald dasteht, scheint ihr, den modernen Wald ausgenommen, von zweitrangiger Bedeutung zu sein. Er begeistert sie als solcher. Der romantische Wehrwald, den die Deutschen im frühen 19. Jahrhundert für ihre Fantasie erfanden, um Napoleons Truppen darin verschwinden zu lassen so wie die römischen Legionen unter Varus einst im Teutoburger Wald untergegangen sein sollen, kehrt hier als ökologische Utopie zurück. Und wenn sie, eifriger als Carl von Linné je war, jedem Gewächs und jedem Tier seinen richtigen Namen entgegenruft, wenn in einem fort von Augentrost und rostrandigen Feuerschwämmen, von Siebensternen und Birkenzipfenfaltern die Rede ist, dann verbirgt sich darin auch die Hoffnung, die Utopie durch die Kraft der Sprache wirklich werden zu lassen.
Es ist also nicht die Sorge um das Verschwinden das Waldes, die Kerstin Ekman mit Macht ins Gehölz treibt, sondern seine Verwandlung in einen modernen Industriebetrieb – tatsächlich ist ein Drittel der europäischen Landfläche von Wald bedeckt, und seit fünfzig Jahren wächst dieser Anteil. Aber der industriell bewirtschaftete Wald ist keine Heimat mehr. Die schweren Maschinen reißen tiefe Wunden in den Waldboden. Als im Januar 2005 der Sturm „Gudrun” über Südschweden zog, fielen dort 250 Millionen Bäume. Ganze Landstriche lagen flach, Tausende von Waldbauern waren um ihre Existenz gebracht. Schon einmal hatte es einen solchen Sturm gegeben, rechnet Kerstin Ekman vor, im Jahr 1969. Damals aber war der Schaden nicht halb so groß gewesen. Zu jener Zeit hatte es viel mehr Mischwald gegeben, die Waldränder waren mit Eichen und Birken gesäumt, die Fichte, die schnell wächst, aber leicht herauszureißen ist und zudem in Reihen steht, durch die der Wind mit wachsender Macht hindurchtobt, beherrschte noch nicht allein die schwedischen Wälder.
Der Lauf der Dinge scheint indessen dem Widerstand gegen die industrialisierte Waldwirtschaft entgegenzuarbeiten. Im Jahr 2005 erschien ein Bericht der FAO, der mit Landwirtschaft befassten Organisation der Vereinten Nationen, die sich unter dem Titel „European Forest Sector Outlook Study” mit der Entwicklung des Waldes in den kommenden Jahrzehnten auseinandersetzt. Es ist die erste großangelegte Studie, die den Wald nicht nur als Holzlieferanten betrachtet, sondern die Gesamtheit seiner ökonomischen wie kulturellen Bedeutung in den Blick nimmt. Vor allem wird dem Wald darin entschieden eine ökologische Rechnung aufgemacht: Kahlschläge, so die Kalkulation, seien unwirtschaftlich, weil sie große Mengen Kohlendioxid freisetzten. In Schweden hat man aus diesem Bericht Konsequenzen gezogen: Der Staat fördert die Entstehung von „gammalskog”, „Altwald”, aus dem nur noch einzelne Bäume geholt werden dürfen, er unterstützt das Anpflanzen von Mischwald und prämiert den ökologischen Anbau mit einem höheren Preis pro Kubikmeter Holz. Selbstverständlich wird der schwedische Wald auch in zwanzig oder fünfzig Jahren nicht wieder so aussehen, wie er das vor zweihundert Jahren tat. Aber es wird mehr Ähnlichkeiten geben.
Der Wald hat, ökonomisch betrachtet, eine Eigenschaft, die ihn von allen anderen Wirtschaftsgütern unterscheidet: Er wächst, indem er lagert, und indem er lagert, wächst er. Der Waldbauer hat zwanzig oder gar dreißig Jahre Zeit, seine Bäume zu schlagen, und je länger er wartet, desto größer werden sie, und wenn er auch nur halbwegs vorsichtig wirtschaftet, wächst immer mehr nach, als er schlägt.
Es gäbe Ekmans Pamphlet vom großen, tiefen Wald nicht, wenn nicht auch noch eine andere, dunkle Idee darin steckte. Wenn Kerstin Ekman davon erzählt, dass man in einem richtigen Wald keine Menschen trifft, dass man darin verschwindet wie Herr Olof und nur als tödlich Verwundeter wiederkehrt, dann geht es um mehr als ein Verlangen nach Ruhe. Wer „so viel über seinen Wald und dessen Bewohner weiß, blickt in das Dunkel und erkennt dort keine Widersacher”. Es ist ein Überdruss an der Zivilisation, der sich hier ausspricht, ein Widerwille gegen alle Formen von Gemeinschaft, und das historische Wissen, die ganze Waldbildung, die Kerstin Ekman in diesem Buch anhäuft, dient am Ende den Zweck, den Weg in die Finsternis unter den großen Bäumen, in eine Welt ohne Horizont, leichten Herzens und entschlossenen Schrittes anzutreten.
In Visseltofta auf der Grenze zwischen Schonen und Småland hat sich das Bild einer alten, noch nicht industriell bewirtschaften Landschaft übrigens über viele Kilometer erhalten. Auf einer Anhöhe steht die weiße Kirche aus dem achtzehnten Jahrhundert. Der Fluss wurde nie begradigt. Die Äcker und Wiesen sind durch Wälle aus Feldsteinen voneinander getrennt. In den Laubbäumen am Fluss haben Graureiher ihre großen, losen Nester gebaut. In diesem Frühjahr wurde sogar das Sägewerk wiedereröffnet, das viele Jahre stillgelegen hatte. Es arbeitet im privaten Auftrag und nur auf Bestellung. Sie kommen von den neuen Waldbauern.THOMAS STEINFELD
Die neuen Siedler verfolgen strategische Ziele – sie wollen den Wald besitzen
Was sich hier ausspricht, ist ein Überdruss an der Zivilisation
Der industriell bewirtschaftete Wald ist keine Heimat mehr
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Die neuen Verhältnisse bringen den alten Wald zurück
An der Bushaltestelle von Visseltofta, einem Dorf auf der Grenze zwischen den Provinzen Schonen und Småland in Südschweden, in einer idyllischen Landschaft in tiefen Wäldern, durch die sich Flüsse und Seen ziehen, steht eine hölzerne Anschlagtafel. Bis vor dreißig Jahren befand sich dahinter der Lebensmittelladen. Doch das Schaufenster ist längst mit einer Gardine verhängt. Die Treffen des Heimatvereins sind auf der Tafel angezeigt und die Termine des Fußballclubs, ein Rockkonzert in der Turnhalle einer Nachbargemeinde und das bebilderte Angebot, es seien junge Katzen zu verschenken. Doch es hängt dort auch der Aufruf eines niederländischen Maklers, der für eine sicherlich solvente Klientel nach Immobilien sucht: auch nach roten Holzhäusern mit weißen Eckpfosten, die auf einer Wiese an einem See oder an einem Fluss stehen, gewiss. Aber vor allem nach Waldgrundstücken in allen Größen, mit und ohne Haus.
Dieses Interesse ist neu: Die Dänen, die in diesen Wäldern in den sechziger Jahren alte Häuser in Südschweden kauften, die Deutschen, die ihnen in den achtziger und neunziger Jahren nachzogen, verfolgten keine wirtschaftlichen Absichten, sondern gestalteten ihre Freizeit. Noch immer suchen sie die Stille, die Einsamkeit, die Wiesen und Bäume. Mit dem benzingetriebenen Rasenmäher verteidigen sie ihr Land in jedem Frühjahr aufs Neue gegen den herandrängenden Wald. Es gibt in dieser Gegend Landstriche, in denen jedes zweite Haus einem Ausländer gehört, und wenn all diese Hütten und Höfe nicht längst verfault und halb im Erdreich versunken sind, so liegt es an ihnen. Die neuen Siedler jedoch verfolgen ökonomische und strategische Interessen. Sie wollen nicht die Wiese, sondern den Wald besitzen und ihn bewirtschaften lassen, in der Überzeugung, dass sein Preis nur steigen kann – und zugleich wollen sie eine Ressource erwerben, die ihnen auf Generationen hinaus ein Auskommen verspricht, fernab von steigenden Meeresspiegeln und knappen Ölvorräten. Zumindest gelegentlich werden sie daran denken, dass man auf einem solchen Hof, wenn man es nur halbwegs geschickt anstellt, auch autark leben kann. Und weil die Idee mit dem Waldbesitz gegenwärtig auch vielen wohlhabenden Schweden einleuchtet, Managern, Werbern und sogar Politikern auf dem Weg hinaus aus ihrem Beruf, haben sich die entsprechenden Grundstückspreise in Südschweden in den vergangenen zehn Jahren ungefähr verdoppelt.
An diesem Wochenende ist auf deutsch ein Buch erschienen, das zu dieser Bewegung passt. Es ist eine gewaltige, einzigartige Huldigung an den Wald im allgemeinen und den schwedischen Wald im besonderen. Kerstin Ekmans „Der Wald” (Piper Verlag, München 2008, 24,90 Euro), über fünfhundert Seiten stark, ist eine Anstrengung in enzyklopädischem Maßstab, dem Wald in all seinen Gestalten gerecht zu werden, in seiner Geschichte und in seinen Legenden, in der Vielfalt seiner Flora und Fauna, in Erzählungen von der Jagd und von Wanderung und Verbreitung der Pflanzen, in Berichten über die Ökonomie des Kahlschlags und in der traurigen Beschwörung verschwundener Baumriesen. Das Buch gleicht einem langen Spaziergang, auf dem das Auge hierhin und dorthin schweift, die Gedanken sich an einem Behaarten Hainsims oder am Preiselbeerkompott der Kindheit entspinnen und Stella, der Spitzhund, die eine oder andere Überraschung aufstöbert, einen Birkhahn zum Beispiel oder ein Mauswiesel. Knapp hundert Essays hat Kerstin Ekman, eine der erfolgreichsten schwedischen Schriftstellerinnen, die in Roslagen, hundert Kilometer nördlich von Stockholm, einen kleinen Hof bewirtschaftet, zu dieser Gesamtdarstellung des schwedischen Waldes miteinander verbunden. Sie alle werden mit großer Ruhe vorgetragen, so als wäre die Stimmung der langen Dauer, der sechzig oder achtzig oder hundert Jahre, die zwischen dem Setzen eines jungen Baumes und dem Fällen des alten vergehen, auf das Werk selbst übergegangen.
Es steckt ein Pamphlet in dieser Huldigung, ein heftiges Plädoyer für einen Naturzustand, den es, was Kerstin Ekman sehr wohl weiß, nie gegeben hat und nie gegeben haben kann, der aber als Ort der Sehnsucht und der Furcht durchaus gegenwärtig ist. Wenn Herr Olof auf seinem Pferd im Unterholz verschwindet und eine Elfe ihn berührt, so dass er, kaum heimgekommen, niedersinkt und stirbt, wenn Selma Lagerlöf in ihrer Erzählung „Die Neujahrsnacht der Tiere” einen Probst erleben lässt, wie der Waldgeist darüber richtet, welches Tier im kommenden Jahr sterben wird, dann wird hier noch einmal die Mystik des Waldes zelebriert – weniger, um daran zu glauben, als sich zu dem Zweck, sich an ihrem dunklen Glanz zu erfreuen. Kerstin Ekman erzählt zwar auch, dass der schwedische Wald einst ganz anders aussah, als er es heute tut, dass ganz Südschweden von Eichen- und Buchenwäldern bedeckt war, dass vor ihnen Erlen und Ulmen die Landschaft beherrschten, dass die Fichte einst selten war und ihr Siegeszug erst im 19. Jahrhundert begann. Aber in welcher Gestalt der Wald dasteht, scheint ihr, den modernen Wald ausgenommen, von zweitrangiger Bedeutung zu sein. Er begeistert sie als solcher. Der romantische Wehrwald, den die Deutschen im frühen 19. Jahrhundert für ihre Fantasie erfanden, um Napoleons Truppen darin verschwinden zu lassen so wie die römischen Legionen unter Varus einst im Teutoburger Wald untergegangen sein sollen, kehrt hier als ökologische Utopie zurück. Und wenn sie, eifriger als Carl von Linné je war, jedem Gewächs und jedem Tier seinen richtigen Namen entgegenruft, wenn in einem fort von Augentrost und rostrandigen Feuerschwämmen, von Siebensternen und Birkenzipfenfaltern die Rede ist, dann verbirgt sich darin auch die Hoffnung, die Utopie durch die Kraft der Sprache wirklich werden zu lassen.
Es ist also nicht die Sorge um das Verschwinden das Waldes, die Kerstin Ekman mit Macht ins Gehölz treibt, sondern seine Verwandlung in einen modernen Industriebetrieb – tatsächlich ist ein Drittel der europäischen Landfläche von Wald bedeckt, und seit fünfzig Jahren wächst dieser Anteil. Aber der industriell bewirtschaftete Wald ist keine Heimat mehr. Die schweren Maschinen reißen tiefe Wunden in den Waldboden. Als im Januar 2005 der Sturm „Gudrun” über Südschweden zog, fielen dort 250 Millionen Bäume. Ganze Landstriche lagen flach, Tausende von Waldbauern waren um ihre Existenz gebracht. Schon einmal hatte es einen solchen Sturm gegeben, rechnet Kerstin Ekman vor, im Jahr 1969. Damals aber war der Schaden nicht halb so groß gewesen. Zu jener Zeit hatte es viel mehr Mischwald gegeben, die Waldränder waren mit Eichen und Birken gesäumt, die Fichte, die schnell wächst, aber leicht herauszureißen ist und zudem in Reihen steht, durch die der Wind mit wachsender Macht hindurchtobt, beherrschte noch nicht allein die schwedischen Wälder.
Der Lauf der Dinge scheint indessen dem Widerstand gegen die industrialisierte Waldwirtschaft entgegenzuarbeiten. Im Jahr 2005 erschien ein Bericht der FAO, der mit Landwirtschaft befassten Organisation der Vereinten Nationen, die sich unter dem Titel „European Forest Sector Outlook Study” mit der Entwicklung des Waldes in den kommenden Jahrzehnten auseinandersetzt. Es ist die erste großangelegte Studie, die den Wald nicht nur als Holzlieferanten betrachtet, sondern die Gesamtheit seiner ökonomischen wie kulturellen Bedeutung in den Blick nimmt. Vor allem wird dem Wald darin entschieden eine ökologische Rechnung aufgemacht: Kahlschläge, so die Kalkulation, seien unwirtschaftlich, weil sie große Mengen Kohlendioxid freisetzten. In Schweden hat man aus diesem Bericht Konsequenzen gezogen: Der Staat fördert die Entstehung von „gammalskog”, „Altwald”, aus dem nur noch einzelne Bäume geholt werden dürfen, er unterstützt das Anpflanzen von Mischwald und prämiert den ökologischen Anbau mit einem höheren Preis pro Kubikmeter Holz. Selbstverständlich wird der schwedische Wald auch in zwanzig oder fünfzig Jahren nicht wieder so aussehen, wie er das vor zweihundert Jahren tat. Aber es wird mehr Ähnlichkeiten geben.
Der Wald hat, ökonomisch betrachtet, eine Eigenschaft, die ihn von allen anderen Wirtschaftsgütern unterscheidet: Er wächst, indem er lagert, und indem er lagert, wächst er. Der Waldbauer hat zwanzig oder gar dreißig Jahre Zeit, seine Bäume zu schlagen, und je länger er wartet, desto größer werden sie, und wenn er auch nur halbwegs vorsichtig wirtschaftet, wächst immer mehr nach, als er schlägt.
Es gäbe Ekmans Pamphlet vom großen, tiefen Wald nicht, wenn nicht auch noch eine andere, dunkle Idee darin steckte. Wenn Kerstin Ekman davon erzählt, dass man in einem richtigen Wald keine Menschen trifft, dass man darin verschwindet wie Herr Olof und nur als tödlich Verwundeter wiederkehrt, dann geht es um mehr als ein Verlangen nach Ruhe. Wer „so viel über seinen Wald und dessen Bewohner weiß, blickt in das Dunkel und erkennt dort keine Widersacher”. Es ist ein Überdruss an der Zivilisation, der sich hier ausspricht, ein Widerwille gegen alle Formen von Gemeinschaft, und das historische Wissen, die ganze Waldbildung, die Kerstin Ekman in diesem Buch anhäuft, dient am Ende den Zweck, den Weg in die Finsternis unter den großen Bäumen, in eine Welt ohne Horizont, leichten Herzens und entschlossenen Schrittes anzutreten.
In Visseltofta auf der Grenze zwischen Schonen und Småland hat sich das Bild einer alten, noch nicht industriell bewirtschaften Landschaft übrigens über viele Kilometer erhalten. Auf einer Anhöhe steht die weiße Kirche aus dem achtzehnten Jahrhundert. Der Fluss wurde nie begradigt. Die Äcker und Wiesen sind durch Wälle aus Feldsteinen voneinander getrennt. In den Laubbäumen am Fluss haben Graureiher ihre großen, losen Nester gebaut. In diesem Frühjahr wurde sogar das Sägewerk wiedereröffnet, das viele Jahre stillgelegen hatte. Es arbeitet im privaten Auftrag und nur auf Bestellung. Sie kommen von den neuen Waldbauern.THOMAS STEINFELD
Die neuen Siedler verfolgen strategische Ziele – sie wollen den Wald besitzen
Was sich hier ausspricht, ist ein Überdruss an der Zivilisation
Der industriell bewirtschaftete Wald ist keine Heimat mehr
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2008Ein Wissen wie leuchtende Herbstblätter
Kerstin Ekman hat ein faszinierendes Buch über den Wald geschrieben, das wie eine große Wanderkarte zu alten Geschichten, nachdenklichen Betrachtungen und hinein ins tiefe Schweden führt.
Der erste Impuls war gewesen, hinzufahren und mit ihr zu reden, nach Schweden, dorthin, wo die Schriftstellerin Kerstin Ekman lebt, um zu sehen, wie sie ist und wie sie wohnt, und vielleicht hätte sie ja auch Zeit gehabt für einen Spaziergang durch den Wald. Über ihn, den Wald, hat sie ein Buch geschrieben, von dem man jetzt schon sagen kann, dass es ein Klassiker ist, nicht nur ein schwedischer, sondern ein Waldbeschreibungs-, ein Naturbeschreibungsklassiker. Aber so schön und herzerhebend wahrscheinlich ein solcher Besuch in Schweden nördlich von Stockholm gewesen wäre, er ist wirklich nicht notwendig, um dieses Buch zu verstehen. Und wahrscheinlich ist so ein Besuch grundsätzlich auch zu laut für dieses Buch, das ein stilles Buch ist und deswegen vielleicht hierzulande gar nicht in dem Maße wahrgenommen wird, wie es wahrgenommen zu werden verdient.
Hierzulande gibt es wahrscheinlich auch nicht allzu viele Menschen, die sich für den schwedischen Wald interessieren. Was soll daran interessant sein, mögen sie denken, aber vielleicht stimmt das gar nicht, es fahren doch immer noch viele Menschen - zugegeben, es sind Eltern mit ihren Kindern oder Ältere - in den Sommerferien von hier nach Schweden. Vor allem deshalb, weil sie hoffen, dort in die Arme der Natur zu sinken und einmal im Jahr in das einfache Leben zu geraten, von denen die schwedischen Kinderbücher erzählen, allen voran Bullerbü, das nicht untergehen wird und in diesem Bücherherbst gerade mal wieder die Titel zweier Erziehungsbücher ziert.
Wer je in Schweden gewesen ist und nicht nur an der Südküste in der Sonne am Strand gelegen hat, was auch sehr angenehm ist, sondern weiter hinauf ins Land gefahren ist, dorthin, wo die Seen anfangen und die Wälder kein Ende zu nehmen scheinen, und man muss dahin gar nicht so lange fahren, den nun wird, wenn er Ekmans Buch daheim liest, eine große Sehnsucht ereilen: nicht nur nach jenem weiten Land, sondern auch nach dem, was dieses Land, das man eben nicht zu einer Landschaft zusammenschnurren lassen kann wie die Toskana, in einem wachruft. Diese Sehnsucht wird dann glücklicherweise von diesem Buch auch noch gestillt, man bleibt also nach der Lektüre nicht unerlöst auf dem Sofa oder sonst wo wunschdick kleben. Und man behält dieses Buch auch nicht nur in guter Erinnerung wie einen erfüllten Urlaub, sondern man hat den Eindruck, dass es zu jenen Büchern gehört, in denen man immer wieder mal lesen wird, um sich an eine bestimmte Einstellung den Dingen der Welt gegenüber zu erinnern. Es hat ein wenig von einem Stundenbuch, man kann auf diesen Seiten und in diesen Geschichten nicht nur über etwas nachdenken und etwas bedenken, sondern man kann hier gedenken - was eine bedächtige und stabile, ordnunggebende Form des inneren Sehens ist. Ekman kommt selbst einmal auf ihren mittelschwedischen Ordnungssinn zu sprechen.
Die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman schreibt normalerweise Romane, aber dieses Buch, das im vergangenen Jahr in Schweden erschien, ist kein Roman - und ein Sachbuch ist es auch nicht. Es ist etwas dazwischen, eine erzählende Reflexion, worunter man ein Genre verstehen kann, das im Grunde genommen der landläufigen Lebenserfahrung entspricht, die sich in der gefühlten Fremde von Theorien und Geschichten, welche sich als geschlossene Räume präsentieren, nicht ganz aufgehoben fühlt und im Alltag gerne zu Wort findet, wenn zwei oder drei zusammensitzen und sich etwas erzählen. Ganz sicher ist dieses Buch typisch schwedisch, wenn sich darunter eine Form von Heimatkunde fassen lässt, in die ein gewisser Stolz auf das eigene Land fließt, in dem Natur und Kultur eng ineinander verwoben sind, so eng, dass die naturkundliche Expedition die angemessene Art und Weise scheint, Schweden kennenzulernen - in anderen Ländern geht man in die Städte und schaut sich die Kirchen und Museen an, oder man landet gleich in der Küche.
Diesen Eindruck, in die Tiefen des Landes hineinzugehen, dessen Eigenart die Tiefen des Landes sind, erweckt Ekmans Buch über den Wald sofort. Wie eine große Wanderkarte verzeichnet es Wege, die alle in und durch den Wald verlaufen, von dem man einfach voraussetzt, dass er ganz Schweden bedeckt; jede Schwedenkarte ist ja ganz und gar grün. Es sind Wege, die zu jahrhundertealten Geschichten führen, bei einzelnen Baumarten wie der Fichte oder in den Hütten der Holzfäller enden. Wege, auf denen die Jäger das Wild verfolgen und Spaziergänger Pilze und Blumen finden und auf ihnen selten scheinende Tiere stoßen. Was auch immer hier auftaucht, und wenn es die Forstwirtschaft ist, die den Wald als Exportschlager an das Ende des Kahlschlags treibt, und wenn es die Umweltschutzbewegung ist, die immer zu wissen scheint, was für die Natur gut und zu tun ist - die Beobachtungen, die Ekman über den Wald selbst gemacht und von Weggefährten gesammelt hat, ziehen nicht nur Stadtsteppenbewohner immer tiefer in das wundersame Dickicht hinein.
Vom Wald geht eine eigenartige Verführungskraft aus, die sich seit jeher mit der Angst paart und die sich in diesem Buch der einlullenden reflektierenden Erzählkunst Ekmans verdankt. Ihr Stil und Rhythmus sind Geschwister der Naturgeschichte, jener alten Aufzeichnungen, unter anderen eines Carl von Linné, jener alten Tierzeichnungen, unter anderen der Brüder von Wright, in denen das Auge noch ganz offen für ein genaues Sehen war. Und das war ein Sehen, das heutzutage hinter einer etwas klobigen, aber handlichen Begrifflichkeit fast verschwunden zu sein scheint, mit der die Welt erst nach-, dann zugebaut wird.
Am Ende der fünfhundert Seiten langen Wanderung durch den Wald, die niemals mühevoll ist, sondern im Gegenteil immer aufregend, immer erhebend, lässt Ekman die Arme sinken, die andere, wenn vom bedrohten Wald die Rede ist, fordernd oder mahnend ständig erhoben gehalten hätten. Sie lässt sie nicht mutlos sinken, sondern nur freimütig bekennend, dass sie, die ihr Wissen vom Wald wie leuchtende Herbstblätter auf dem Boden auszulegen weiß, letztlich doch nicht zu sagen vermöge, was das Wort Wald, was das Wort Natur bedeuten soll. Man ist sich bei diesem Bekenntnis, das nicht das Ziel der Wanderungen ist, sicher, dass es sich nicht um einen philosophischen Knicks vor der umweltschonenden Nichtbegrifflichkeit handelt, sondern um eine menschenmögliche Verbeugung vor dem unerschöpflichen und unkontrollierbaren Werden - eine vor dem natürlichen Reichtum andächtige Haltung bei völlig klarem Kopf, bei der dann eben nicht aus dem Blick verlorengeht, was Menschen in ihrer Dummheit und Gewinngier im Wald hier und dort anzurichten in der Lage sind.
Sentimentalitäten liegen Ekman, die einmal, ohne mit der Wimper zu zucken, davon berichtet, wie sie beim Häuten, Ausnehmen und Zerlegen eines auf der Jagd frisch geschossenen Elches mit beiden Händen geholfen hat, völlig fern. So wie sie auch mit einer vielleicht an die Grenzen eines Grundschulunterrichts auf dem dünn besiedelten Lande erinnernden vaterländischen Selbstverständlichkeit zu erklären versteht, dass der Staat, in dem Land und Volk wie Leib und Seele miteinander verwachsen seien, den Wald hegen soll und nicht zulassen darf, "dass die Schweden . . . die durch die hohe Natur in diesen ernsten Wäldern, worin sie aufwuchsen, wurden, was sie waren, zu Eskimos und Tungusen herabsinken". Was offensichtlich für einen naturpolitisch denkenden Menschen wie Ekman der kulturelle Kahlschlag wäre. Wahrscheinlich würde in den Steppenländern nicht einmal die Auflösung aller Kultursubventionen eine solche Angstphantasie auslösen.
Manchmal tauchen in den im Sonnenstrahlenbad liegenden Lichtungen der Erzählungen, deren Helden immer in die Ferne schweifende, kämpfende, jagende, zeichnende, beschreibende und katalogisierende Männer sind, Frauen auf, die ganz bei sich sind und nur töpfern - und mit ihnen schwebt der Gedanke wie ein Vögelchen herbei, dass in Schweden noch ein paar Millionen Bäume mehr stehen würden, wenn diese Töpferinnen das Sagen übernommen hätten, die viele Jahrhunderte später sich in den Lauf der Dinge eingefügt und zum Beispiel als Köchinnen bei den Holzfällern Speckpfannkuchen gebacken haben. Aber das ist nur ein schwacher, nicht ausgesponnener Faden einer ganz anderen Geschichte, der vor der überwältigenden Fülle des Faktischen, zu der manchmal auch die schnelle oder langsame Niederlage des Schwächeren gehört, wie von alleine reißt.
Am Ende der tausendjährigen Wanderungen durch den Wald trägt der Wanderer das wärmende Gefühl mit sich, noch lange nicht alles gesehen, noch lange nicht alles verstanden zu haben - was nur bedeuten kann, dass er noch einmal aufbrechen und wieder hierherkommen muss.
EBERHARD RATHGEB
Kerstin Ekman: "Der Wald". Eine literarische Wanderung. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder. Piper Verlag, München 2008. 528 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kerstin Ekman hat ein faszinierendes Buch über den Wald geschrieben, das wie eine große Wanderkarte zu alten Geschichten, nachdenklichen Betrachtungen und hinein ins tiefe Schweden führt.
Der erste Impuls war gewesen, hinzufahren und mit ihr zu reden, nach Schweden, dorthin, wo die Schriftstellerin Kerstin Ekman lebt, um zu sehen, wie sie ist und wie sie wohnt, und vielleicht hätte sie ja auch Zeit gehabt für einen Spaziergang durch den Wald. Über ihn, den Wald, hat sie ein Buch geschrieben, von dem man jetzt schon sagen kann, dass es ein Klassiker ist, nicht nur ein schwedischer, sondern ein Waldbeschreibungs-, ein Naturbeschreibungsklassiker. Aber so schön und herzerhebend wahrscheinlich ein solcher Besuch in Schweden nördlich von Stockholm gewesen wäre, er ist wirklich nicht notwendig, um dieses Buch zu verstehen. Und wahrscheinlich ist so ein Besuch grundsätzlich auch zu laut für dieses Buch, das ein stilles Buch ist und deswegen vielleicht hierzulande gar nicht in dem Maße wahrgenommen wird, wie es wahrgenommen zu werden verdient.
Hierzulande gibt es wahrscheinlich auch nicht allzu viele Menschen, die sich für den schwedischen Wald interessieren. Was soll daran interessant sein, mögen sie denken, aber vielleicht stimmt das gar nicht, es fahren doch immer noch viele Menschen - zugegeben, es sind Eltern mit ihren Kindern oder Ältere - in den Sommerferien von hier nach Schweden. Vor allem deshalb, weil sie hoffen, dort in die Arme der Natur zu sinken und einmal im Jahr in das einfache Leben zu geraten, von denen die schwedischen Kinderbücher erzählen, allen voran Bullerbü, das nicht untergehen wird und in diesem Bücherherbst gerade mal wieder die Titel zweier Erziehungsbücher ziert.
Wer je in Schweden gewesen ist und nicht nur an der Südküste in der Sonne am Strand gelegen hat, was auch sehr angenehm ist, sondern weiter hinauf ins Land gefahren ist, dorthin, wo die Seen anfangen und die Wälder kein Ende zu nehmen scheinen, und man muss dahin gar nicht so lange fahren, den nun wird, wenn er Ekmans Buch daheim liest, eine große Sehnsucht ereilen: nicht nur nach jenem weiten Land, sondern auch nach dem, was dieses Land, das man eben nicht zu einer Landschaft zusammenschnurren lassen kann wie die Toskana, in einem wachruft. Diese Sehnsucht wird dann glücklicherweise von diesem Buch auch noch gestillt, man bleibt also nach der Lektüre nicht unerlöst auf dem Sofa oder sonst wo wunschdick kleben. Und man behält dieses Buch auch nicht nur in guter Erinnerung wie einen erfüllten Urlaub, sondern man hat den Eindruck, dass es zu jenen Büchern gehört, in denen man immer wieder mal lesen wird, um sich an eine bestimmte Einstellung den Dingen der Welt gegenüber zu erinnern. Es hat ein wenig von einem Stundenbuch, man kann auf diesen Seiten und in diesen Geschichten nicht nur über etwas nachdenken und etwas bedenken, sondern man kann hier gedenken - was eine bedächtige und stabile, ordnunggebende Form des inneren Sehens ist. Ekman kommt selbst einmal auf ihren mittelschwedischen Ordnungssinn zu sprechen.
Die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman schreibt normalerweise Romane, aber dieses Buch, das im vergangenen Jahr in Schweden erschien, ist kein Roman - und ein Sachbuch ist es auch nicht. Es ist etwas dazwischen, eine erzählende Reflexion, worunter man ein Genre verstehen kann, das im Grunde genommen der landläufigen Lebenserfahrung entspricht, die sich in der gefühlten Fremde von Theorien und Geschichten, welche sich als geschlossene Räume präsentieren, nicht ganz aufgehoben fühlt und im Alltag gerne zu Wort findet, wenn zwei oder drei zusammensitzen und sich etwas erzählen. Ganz sicher ist dieses Buch typisch schwedisch, wenn sich darunter eine Form von Heimatkunde fassen lässt, in die ein gewisser Stolz auf das eigene Land fließt, in dem Natur und Kultur eng ineinander verwoben sind, so eng, dass die naturkundliche Expedition die angemessene Art und Weise scheint, Schweden kennenzulernen - in anderen Ländern geht man in die Städte und schaut sich die Kirchen und Museen an, oder man landet gleich in der Küche.
Diesen Eindruck, in die Tiefen des Landes hineinzugehen, dessen Eigenart die Tiefen des Landes sind, erweckt Ekmans Buch über den Wald sofort. Wie eine große Wanderkarte verzeichnet es Wege, die alle in und durch den Wald verlaufen, von dem man einfach voraussetzt, dass er ganz Schweden bedeckt; jede Schwedenkarte ist ja ganz und gar grün. Es sind Wege, die zu jahrhundertealten Geschichten führen, bei einzelnen Baumarten wie der Fichte oder in den Hütten der Holzfäller enden. Wege, auf denen die Jäger das Wild verfolgen und Spaziergänger Pilze und Blumen finden und auf ihnen selten scheinende Tiere stoßen. Was auch immer hier auftaucht, und wenn es die Forstwirtschaft ist, die den Wald als Exportschlager an das Ende des Kahlschlags treibt, und wenn es die Umweltschutzbewegung ist, die immer zu wissen scheint, was für die Natur gut und zu tun ist - die Beobachtungen, die Ekman über den Wald selbst gemacht und von Weggefährten gesammelt hat, ziehen nicht nur Stadtsteppenbewohner immer tiefer in das wundersame Dickicht hinein.
Vom Wald geht eine eigenartige Verführungskraft aus, die sich seit jeher mit der Angst paart und die sich in diesem Buch der einlullenden reflektierenden Erzählkunst Ekmans verdankt. Ihr Stil und Rhythmus sind Geschwister der Naturgeschichte, jener alten Aufzeichnungen, unter anderen eines Carl von Linné, jener alten Tierzeichnungen, unter anderen der Brüder von Wright, in denen das Auge noch ganz offen für ein genaues Sehen war. Und das war ein Sehen, das heutzutage hinter einer etwas klobigen, aber handlichen Begrifflichkeit fast verschwunden zu sein scheint, mit der die Welt erst nach-, dann zugebaut wird.
Am Ende der fünfhundert Seiten langen Wanderung durch den Wald, die niemals mühevoll ist, sondern im Gegenteil immer aufregend, immer erhebend, lässt Ekman die Arme sinken, die andere, wenn vom bedrohten Wald die Rede ist, fordernd oder mahnend ständig erhoben gehalten hätten. Sie lässt sie nicht mutlos sinken, sondern nur freimütig bekennend, dass sie, die ihr Wissen vom Wald wie leuchtende Herbstblätter auf dem Boden auszulegen weiß, letztlich doch nicht zu sagen vermöge, was das Wort Wald, was das Wort Natur bedeuten soll. Man ist sich bei diesem Bekenntnis, das nicht das Ziel der Wanderungen ist, sicher, dass es sich nicht um einen philosophischen Knicks vor der umweltschonenden Nichtbegrifflichkeit handelt, sondern um eine menschenmögliche Verbeugung vor dem unerschöpflichen und unkontrollierbaren Werden - eine vor dem natürlichen Reichtum andächtige Haltung bei völlig klarem Kopf, bei der dann eben nicht aus dem Blick verlorengeht, was Menschen in ihrer Dummheit und Gewinngier im Wald hier und dort anzurichten in der Lage sind.
Sentimentalitäten liegen Ekman, die einmal, ohne mit der Wimper zu zucken, davon berichtet, wie sie beim Häuten, Ausnehmen und Zerlegen eines auf der Jagd frisch geschossenen Elches mit beiden Händen geholfen hat, völlig fern. So wie sie auch mit einer vielleicht an die Grenzen eines Grundschulunterrichts auf dem dünn besiedelten Lande erinnernden vaterländischen Selbstverständlichkeit zu erklären versteht, dass der Staat, in dem Land und Volk wie Leib und Seele miteinander verwachsen seien, den Wald hegen soll und nicht zulassen darf, "dass die Schweden . . . die durch die hohe Natur in diesen ernsten Wäldern, worin sie aufwuchsen, wurden, was sie waren, zu Eskimos und Tungusen herabsinken". Was offensichtlich für einen naturpolitisch denkenden Menschen wie Ekman der kulturelle Kahlschlag wäre. Wahrscheinlich würde in den Steppenländern nicht einmal die Auflösung aller Kultursubventionen eine solche Angstphantasie auslösen.
Manchmal tauchen in den im Sonnenstrahlenbad liegenden Lichtungen der Erzählungen, deren Helden immer in die Ferne schweifende, kämpfende, jagende, zeichnende, beschreibende und katalogisierende Männer sind, Frauen auf, die ganz bei sich sind und nur töpfern - und mit ihnen schwebt der Gedanke wie ein Vögelchen herbei, dass in Schweden noch ein paar Millionen Bäume mehr stehen würden, wenn diese Töpferinnen das Sagen übernommen hätten, die viele Jahrhunderte später sich in den Lauf der Dinge eingefügt und zum Beispiel als Köchinnen bei den Holzfällern Speckpfannkuchen gebacken haben. Aber das ist nur ein schwacher, nicht ausgesponnener Faden einer ganz anderen Geschichte, der vor der überwältigenden Fülle des Faktischen, zu der manchmal auch die schnelle oder langsame Niederlage des Schwächeren gehört, wie von alleine reißt.
Am Ende der tausendjährigen Wanderungen durch den Wald trägt der Wanderer das wärmende Gefühl mit sich, noch lange nicht alles gesehen, noch lange nicht alles verstanden zu haben - was nur bedeuten kann, dass er noch einmal aufbrechen und wieder hierherkommen muss.
EBERHARD RATHGEB
Kerstin Ekman: "Der Wald". Eine literarische Wanderung. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder. Piper Verlag, München 2008. 528 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sylvia Staude erkennt in Kerstin Ekmans Buch eine ambitionierte Hommage an den Wald, kann sich aber eines gewissen Ärgers bei der Lektüre nicht erwehren. Die schwedische Autorin beklagt darin mit Verve die moderne Forstwirtschaft, die dem Wald die Vielfalt und die Geheimnisse ausgetrieben hat, um sich dann dem ursprünglichen Wald der Vergangenheit mit vielen Ausflügen in die überwiegend skandinavische Literatur zuzuwenden, erklärt die Rezensentin. Sie schwärmt von der stilistischen Brillanz, wenn Ekman vom blutigen Geschäft der Jagd oder den Tugenden der Fichte erzählt. Allerdings findet Staude es anstrengend, der Autorin bei all ihren Abschweifungen und Nebenerzählungen zu folgen. Richtig verstimmt ist sie darüber, dass ihr so viele vollkommen unbekannte Begriffe zugemutet werden, die sich mitunter nicht einmal durch selbständige Rechercheleistung aufklären lassen, wie sie ergrimmt berichtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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