Alt Englisches Theater neu! Stücke des elisabethanisch-jakobäischen Theaters, deutsch:
Diese Theaterstücke blieben lange Zeit im Dunkel; nach Shakespeare und erst in den letzten hundert Jahren, wurden seine Vorläufer, Zeigenossen, Nachfolger sichtbar. Die Buchreihe behandelt Shakespeare und Marlowe, Jonson, Webster, Middleton usw. gleich, so dass die Unterschiede erkennbar werden: die Eigenheit des Autors und die des einzelnen Stücks.
Die Reihe wendet sich an Leute, die Theater ansehen und Leute, die Theater machen, an das künstlerisch interessierte Publikum und an Künstler.
Diese Theaterstücke blieben lange Zeit im Dunkel; nach Shakespeare und erst in den letzten hundert Jahren, wurden seine Vorläufer, Zeigenossen, Nachfolger sichtbar. Die Buchreihe behandelt Shakespeare und Marlowe, Jonson, Webster, Middleton usw. gleich, so dass die Unterschiede erkennbar werden: die Eigenheit des Autors und die des einzelnen Stücks.
Die Reihe wendet sich an Leute, die Theater ansehen und Leute, die Theater machen, an das künstlerisch interessierte Publikum und an Künstler.
Zwei Theaterklassiker des englischen Barocks in Neuübersetzungen
Kannibalismus ist nur einer jener beiden ekelerregenden Triebwünsche, in deren strikter Verwerfung Kultur und die Zivilgesellschaft gründen. Der andere, der im Namen der Gemeinschaft mit Verbot belegt sein muß, ist die Inzestneigung, und doch drängt gerade die natürliche Verwandtschaft sich wohl als Grund intimster Seelenbindung auf: "Die Nähe in Geburt und Blut erzwingt nur / Nähere Nähe in der Leidenschaft." Soll so ein Bruder zu der Schwester sprechen? "Ihr müßt mich lieben, oder ich muß sterben." Muß man das dulden? "Wohin du gehst, in mir halt ich dich hier / Und weiß, wo du auch bist, ich bin bei dir." Dürfen wir wirklich mitansehen, wie Geschwister solche Sinnlichkeit ausleben und dabei gar ein Kind zeugen?
Im Theater eines John Ford jedenfalls werden wir Zeuge, wie all dies geschieht, und müssen dazu noch erleben, wie unser Entrüstungssturm in ungewollte Anteilnahme umschlägt, wenn bedingungslos passionierte Selbsthingabe die Figuren zu ihrem verwerflichen und grausigen Handeln treibt. Fords Stück "Schade, daß sie eine Hure war", 1633 in London aufgeführt und in einem kolportagehaften Renaissance-Italien angesiedelt, ist ein überhitztes Rache- und Intrigendrama aus oft erprobten Versatzstücken, die ein grelles Bühnenspektakel und damit einen Publikumserfolg versprechen. Dazu zählt auch das Inzestthema. Doch mit nie zuvor gewagter Offenheit setzt hier der Autor alles ein, um im Tabubruch nach dem wahrhaften Ausdruck verschütteter Sehnsüchte zu forschen. In brüchiger und stammelnder, vielfach vom Vers in Prosa kippender Sprache suchen die Geschwister Worte für das Unerhörte ihrer Leidenschaft und schwanken dabei zwischen ständigem Verstummen und exaltiertem Wortschwall im Gefühlsausbruch - wie wir es sonst wohl nur bei Kleist noch finden.
Überdies jedoch riskiert Fords Drama, die skandalösen Reden der verzweifelt Liebenden auf offener Bühne in Körperbilder von schrecklicher Einprägsamkeit umzusetzen. "Reiß mir die Brust auf, dort siehst du mein Herz": was wir anfangs hören und für eine schwärmerische Redensart halten, wird im Schlußakt ausagiert. Auf der Dolchspitze das rausgerissene Herz der Schwester, die er im Liebesakt erstochen hat, stellt sich der Bruder schließlich der Familie und gibt der entsetzten Allgemeinheit ein blutiges Bilderrätsel auf. Die Lösung kann kaum darin liegen, angewidert den Blick abzuwenden, denn hier wird nur ins Wörtliche gewendet, was jede gesellschaftsfähige Praxis der Passionen ansonsten metaphorisch regelt und in sprachliche Figuren bannt: "Es ist ein Herz / Ein Herz, ihr Herrn, drin meins begraben ist." Doch der entstellenden Kultivierung erst einmal beraubt, werden die schönsten Liebesschwüre zu mörderischen Albträumen menschlicher Leidenschaft. Diese sind es, die John Ford uns unerbittlich vorführt, wenn er die Schaubühne zu einer anatomischen Anstalt macht.
Mehr als zweihundert Jahre vergessen, wurde sein Werk zur Zeit der Décadence wiederentdeckt, von Maeterlinck bearbeitet, von Benjamin geschätzt und von Artaud für das "Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht an Grausamkeit" gefeiert. 1961 unternahm Luigi Visconti eine opulente Aufführung mit Alain Delon und Romy Schneider; 1989 ließ Peter Greenaway sich davon für seine kannibalistische, barocke Liebesbilderorgie "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" anregen. Und da wir neuerdings auch hierzulande nicht nur öffentliche Leichenschau und -sektion geboten bekommen, sondern zugleich beobachten müssen, wie medial gestiftete Entgrenzungsphantasien in reale Schlachtkammern münden, lohnt es sich um so mehr, den Blick auch wieder auf das alte Theatermedium zu richten und dessen Inszenierungen versagter Wünsche zu bedenken. Eine neue deutsche Ausgabe von Fords Stück bietet dazu jetzt Gelegenheit.
Erschienen im Verlag Stroemfeld/Roter Stern, bildet sie den fulminanten Auftakt einer von C. M. und B. K. Tragelehn herausgegebenen, sehr vielversprechenden Reihe, die uns englische Bühnenerfolge des späten 16. und 17. Jahrhunderts neu zugänglich und nutzbar machen will. Es ist die machtvolle Periode Shakespeares und seiner jüngeren Zeitgenossen, die mit Ford bereits in eine Spätzeit gesteigerter Theaterexzesse übergeht und wenig später in den Wirren von Revolution und Bürgerkrieg versinkt. Neben "Schade, daß sie eine Hure war" ist ebenfalls "Der Wechselbalg" erschienen, ein kaum minder wüstes Hofdrama um verlorene Unschuld, Liebesverbrechen, Wahnsinn und Verrat, das 1622 aus der Zusammenarbeit von Thomas Middleton und William Rowley hervorging und, in einer legendären Zürcher Inszenierung mit Bruno Ganz und Edith Clever, 1970 die Geburt der Berliner Schaubühne einleiten sollte. Beide Stücke, vom Berliner Autor und Regisseur B. K. Tragelehn neu übersetzt, werden nun in schöner Buchgestaltung mit etlichem sehr lesenswerten Material zur Quellen- und Rezeptionsgeschichte präsentiert.
Ein Vorbild dieses verdienstvollen Unternehmens ist die Reihe "The Revels Plays" des englischen Methuen Verlages, die seit langem deutlich macht, was unsere Theaterkultur mit der kanonischen Verengung auf William Shakespeare zu verlieren droht. Daher ist auch an der Konzeption von Tragelehns Projekt besonders zu begrüßen, daß sie die bekannten Werke des großen Bühnenzauberers in eine Auswahl weniger bekannter, doch ebenso brisanter Stücke von Kollegen und Rivalen einreiht. Die spannendsten Aufschlüsse ergeben sich nämlich erst, wenn wir den Querverbindungen und Durchkreuzungen der Texte auf die Spur kommen. So ist John Fords glühende Beschwörung verbotener Liebe in einer korrupten Patriziergesellschaft ganz klar Spiegelung und Gegenentwurf zu Shakespeares "Romeo und Julia". Eine Generation später greift Ford die alte Figurenkonstellation wieder auf und verkehrt nur ein entscheidendes Detail ins Gegenteil: Bei ihm brechen die bedingungslos Liebenden ein ehernes Gebot, weil sie aus demselben statt aus verfeindetem Elternhause stammen. Und statt des Händedrucks der Väter über ihren toten Kindern, mit dem Shakespeares Jugendtragödie hoffnungsvoll schließt, bleibt bei Ford nur das zynische Schlußwort über einer schönen Frauenleiche, das der Stücktitel zitiert. Blutschande duldet keinerlei Versöhnung.
Die bühnenerprobte Sprachgestalt, in der wir den vielstimmigen Stücken jetzt begegnen, ist ebenso spürbar an Brecht geschult wie an Müller geschärft und gerät doch nur vereinzelt in die Nähe manieristischer Routine. Mit einiger Drastik rauht Tragelehns Übersetzung allen polierten Ausdruck auf und scheut, wenn gestischer Gewinn zu holen ist, weder vor pointierter Wortwahl noch vor sperrigem Satzbau zurück. Bei der Lektüre sorgt die eigenwillige Interpunktion für zusätzliche Irritierung. Dennoch wird alles Stocken und Befremden letztlich produktiv, da es uns die alten Texte nahebringt, ohne die geschichtlichen Barrieren einzuebnen. Entbehrlich ist dagegen, wenn die Herausgeber zugleich als Schulmeister auftreten und sich veranlaßt sehen, einigen Interpreten, die sie im Anhang zu Wort kommen lassen, ideologiekritische Kopfnoten zu verpassen. Es darf Lesern ruhig zugemutet werden, beispielsweise über die ordnungspolitischen Voraussetzungen von T. S. Eliots Literaturbetrachtung, die ausführlich dokumentiert wird, selbst zu urteilen.
Doch derlei Beckmessertum am Rande wird in beiden Bänden reichlich aufgewogen. Wenn Fords fürchterlicher Held erklärt, "daß dieser Erdball / Verbrannt sein wird zu Asche in Minuten", oder wenn im "Wechselbalg" der Unhold sterbend resümiert: "Ich dank dem Leben nichts / Nur diese Lust. Sie hat mir so geschmeckt / Daß ich sie ausgetrunken habe" - dann können wir in ihren todestrunkenen Reden wohl Resonanzen unserer eigenen Spätzeit hören, die nicht erst mit dem Fall von Armin M. aus Rothenburg zu unheimlicher Aktualität gelangt sind. In dieser Weise bietet die Reihe "Alt englisches Theater neu" einen beispielhaften Brückenschlag zwischen philologischer und künstlerischer Arbeit, zwischen Leselust und Bühnenpraxis sowie zwischen historischer Vergegenwärtigung und aktueller Aneignung. Als nächstes in der Reihe ist "Der Sturm" angekündigt. Man darf gespannt sein, wie Shakespeares kolonialer Kannibale Caliban daraus zu uns spricht.
TOBIAS DÖRING
Thomas Middleton & William Rowley: "Der Wechselbalg". Aus dem Englischen von B. K. Tragelehn. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main 2002. 169 S., geb., 28,- [Euro].
John Ford: "Schade, daß sie eine Hure war". Aus dem Englischen von B. K. Tragelehn. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main 2002. 184 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit einer legendären Inszenierung dieses ursprünglich 1622 in London veröffentlichten Stücks schlug im Jahr 1970 die Geburtsstunde der Berliner Schaubühne, und zwar in Zürich: Eckdaten, die Tobias Döring dem von B.K. Tragelehn betreuten Band aus der Reihe "Alt englisches Theater neu" entnimmt. Döring äußert sich enthusiastisch über diese neue Reihe, die mit "Der Wechselbalg" und John Fords "Schade, dass sie eine Hure war" den Anfang macht. Tragelehn, selbst Regisseur und damit der Bühnenpraxis verbunden, ist ein an Heiner Müller geschulter Übersetzer, der die Sprache aufraut, pointiert zuspitzt und auch vor sperrigem Satzbau nicht zurückscheut, schreibt Döring. Das irritiert bei der Lektüre, gesteht er, sei aber letztlich produktiv, da es die Historizität der Texte nicht einebne. Mehr stört Döring das gelegentlich schulmeisterliche Auftreten des Übersetzers und Herausgebers, der frühere Interpreten zwar zu Wort kommen lässt, ihnen aber "ideologiekritische Kopfnoten" erteilen muss. Dennoch ist das Quellenmaterial so reichlich, die Aufmachung des Bandes so sorgfältig und Auswahl sowie Übersetzung des Stückes so aufregend, dass sich Döring für diese störenden Kleinigkeiten entschädigt sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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