Auf den Spuren des Jungen Tor Baz - des schwarzen Falken - führt Jamil Ahmad den Leser durch eine archaische Welt. Er erzählt aus der Grenzregion zwischen Pakistan, Afghanistan und Iran, von berückenden Landschaften, von Stammesriten und dem Kampf ums Überleben, aber auch von Weisheit, Mitgefühl und Liebe.
Das Schicksal von Tor Baz steht unter einem schlechten Stern. Seine Eltern haben die Stammesregeln verletzt, waren jahrelang auf der Flucht und werden schließlich doch von ihren Angehörigen aufgespürt und erbarmungslos gerichtet. Den Sohn lässt man allein in der Wüste zurück. Zwar überlebt Tor Baz, doch sein Leben entpuppt sich als einzige Odyssee. Mal steht er unter der Obhut eines Soldaten, dann ist er Begleiter und Lehrling eines wandernden Mullahs, schließlich Ersatzsohn eines Paares, dessen eigener Sohn auf zweifelhafte Weise zu Tode kam. Tor Baz erlebt Stammeszwiste und Mädchenhandel, er begegnet Rebellen und Militärs, aber auch ganz normalen Männern und Frauen, die alles geben würden, um ihre traditionelle Lebensweise zu bewahren. Die jedoch beginnt sich vor ihren eigenen Augen aufzulösen.
Das Schicksal von Tor Baz steht unter einem schlechten Stern. Seine Eltern haben die Stammesregeln verletzt, waren jahrelang auf der Flucht und werden schließlich doch von ihren Angehörigen aufgespürt und erbarmungslos gerichtet. Den Sohn lässt man allein in der Wüste zurück. Zwar überlebt Tor Baz, doch sein Leben entpuppt sich als einzige Odyssee. Mal steht er unter der Obhut eines Soldaten, dann ist er Begleiter und Lehrling eines wandernden Mullahs, schließlich Ersatzsohn eines Paares, dessen eigener Sohn auf zweifelhafte Weise zu Tode kam. Tor Baz erlebt Stammeszwiste und Mädchenhandel, er begegnet Rebellen und Militärs, aber auch ganz normalen Männern und Frauen, die alles geben würden, um ihre traditionelle Lebensweise zu bewahren. Die jedoch beginnt sich vor ihren eigenen Augen aufzulösen.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wenn man Jamil Ahmads "Der Weg des Falken" in den Händen hält, sieht es aus wie jedes andere Buch - aber das ist es nicht, stellt Roger Willemsen klar. Schon seine Entstehungsgeschichte ist äußerst ungewöhnlich, meint der Rezensent: gesammelt und aufgezeichnet wurden die Erzählungen vor rund vierzig Jahren, als Ahmad Regierungsbeauftragter in Belutschistan und Botschafter in Kabul war. Das Buch, als das sie nun endlich erscheinen, ist nicht Roman, nicht Erzählungsband, sondern in erster Linie "ein Dokument kulturellen Wissens", so Willemsen, eines Wissens, das hauptsächlich in mündlicher Überlieferung innerhalb von Nomadenstämmen weitergegeben wird. Und so dringt nun dieses bedrohte Wissen in unsere Ignoranz wie die Poesie des Erzählens in die karge Landschaft Afghanistans, meint Willemsen: "Farbe verdrängt das Monochrome."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2013Bevor die Taliban kamen
Jamil Ahmad schildert die unbekannte Welt der pakistanischen Stammesgebiete.
Von Stefan Weidner
Es gibt den Fluch der literarischen Ungleichzeitigkeit: Die besten Bücher hinken den geschilderten Ereignissen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher. Andere kommen zu früh: Die Romane, welche die arabischen Revolutionen erklären, etwa die des Schriftstellers Alaa al-Aswani, sind Jahre vor 2011 erschienen und im Westen lange unbemerkt geblieben. Jamil Ahmad, Jahrgang 1933, ein in Literaturkreisen unbekannter pakistanischer Pensionär, hat diesen Fluch jetzt ausgetrickst. Sein Rezept: vorher schreiben, nachher veröffentlichen. Wären seine Geschichten vor vierzig Jahren erschienen, als er sie verfasste, sie wären kaum beachtet worden. Jetzt sind sie ein internationaler Bestseller.
Denn das Ende der Welt, das Jamil Ahmad beschreibt, die afghanisch-pakistanische Grenzregion, wo der Autor einst als Staatsbeamter tätig war, ist inzwischen zum Rückzugsgebiet von al Qaida und Taliban geworden. "Der Weg des Falken", wie das späte Debüt heißt, ist eine Art Novellenkranz, der uns berichtet, wie die Menschen dort einst gelebt, geliebt und gedacht haben. Es vermag es so, die Verbissenheit der heutigen Auseinandersetzungen zumindest ein Stück weit verständlich zu machen, und es tut dies mit einem Verzicht auf alle Wertungen, wie es heute kaum mehr möglich wäre.
Einer entführt seine Geliebte. Auf der Flucht vor den Verfolgern lässt sich das Paar neben einem unwirtlichen Außenposten der Armee nieder, wo die Frau ein Kind zur Welt bringt. Als die Eltern Jahre später von ihren Verfolgern gefunden und erschlagen werden, wird der Junge neben den Leichen zurückgelassen. Dieses Kind ist der Falke, dessen "Weg" durch die Geschichten das Leitmotiv abgibt; die eigentlichen Helden sind aber immer die anderen, die den Jungen finden und aufnehmen. Zum Beispiel die Belutschen, die sich gegen den Staat erheben, der ihnen entgegen der Tradition vorschreiben will, wer ihr Oberhaupt zu sein hat.
Ehrenmänner, die sie sind, glauben sie einem Flugblatt, das ihnen freies Geleit zusichert. In der Stadt angekommen, werden sie nach einer empörenden Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt. "Über die Belutschen, ihr Anliegen, ihr Leben und ihren Tod wurde absolutes Stillschweigen vereinbart. Kein Zeitungsredakteur riskierte, sich ihretwegen eine Strafe einzuhandeln. Kein Bürokrat setzte seine Stellung aufs Spiel. Was mit ihnen starb, war ein Teil des Belutschenvolkes selbst. Ein wenig von der Spontaneität, mit der sie Zuneigung anboten, und etwas von ihrer Höflichkeit und ihrem Vertrauen. Auch dieses wurde vor Gericht gestellt und starb mit diesen sieben Männern."
Der Kommentar des Erzählers, übrigens der einzige im ganzen Buch, enthüllt das Motiv von Jamil Ahmads Schreiben und jahrelangem Schweigen gleichermaßen. "Der Weg des Falken" ist auch die Schilderung eines Ethnozids an jenen, die vor diesem Buch nie eine Stimme, ein Gewicht, einen Erzähler hatten. Die Vorstellung vom Nationalstaat, bei uns unweigerlich als zivilisatorische Errungenschaft angesehen, offenbart hier noch einmal ihre totalitäre Rückseite. Die im zwanzigsten Jahrhundert erstmals definierten Staatsgrenzen zwischen Afghanistan und zunächst Britisch-Indien, dann Pakistan zerschneiden rücksichtslos den Lebensraum der Nomaden.
Es gibt auch eine in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückgehende Schelmengeschichte, in der Deutsche und Engländer gegeneinander ausgespielt werden. Aber dass die Welt, die hier beschrieben wird, von der Auslöschung bedroht ist - dieses Wissen schwingt in jeder Zeile mit. Dabei verherrlicht Jamil Ahmad das rauhe Leben der Nomaden in den pakistanischen Grenzregionen keineswegs; er unterwirft es aber auch nicht der Checkliste eines hegemonialen Menschenrechtsdiskurses.
Jamil Ahmad schreibt einen einfachen, unprätentiösen Stil. Seine Erzählungen sind nicht so ausgefeilt und komplex wie etwa diejenigen Juan Rulfos aus dem ländlichen Mexiko, an die man sich ein wenig erinnert fühlt. Ihr Reiz besteht in der Erzählperspektive, die genau den richtigen Abstand hält: noch entfernt genug, um diese untergehende Welt von außen zu sehen; nah genug aber, um diese Distanz nie in eine innere umkippen zu lassen und die Figuren dem Leser zu entfremden, so fremd sie auch sind. Jamil Ahmads Buch, sagen wir daher voraus, wird auch dann noch gelesen werden, wenn an der pakistanischen Grenze irgendwann wieder Frieden herrschen sollte.
Jamil Ahmad: "Der Weg des Falken". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. 188 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jamil Ahmad schildert die unbekannte Welt der pakistanischen Stammesgebiete.
Von Stefan Weidner
Es gibt den Fluch der literarischen Ungleichzeitigkeit: Die besten Bücher hinken den geschilderten Ereignissen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher. Andere kommen zu früh: Die Romane, welche die arabischen Revolutionen erklären, etwa die des Schriftstellers Alaa al-Aswani, sind Jahre vor 2011 erschienen und im Westen lange unbemerkt geblieben. Jamil Ahmad, Jahrgang 1933, ein in Literaturkreisen unbekannter pakistanischer Pensionär, hat diesen Fluch jetzt ausgetrickst. Sein Rezept: vorher schreiben, nachher veröffentlichen. Wären seine Geschichten vor vierzig Jahren erschienen, als er sie verfasste, sie wären kaum beachtet worden. Jetzt sind sie ein internationaler Bestseller.
Denn das Ende der Welt, das Jamil Ahmad beschreibt, die afghanisch-pakistanische Grenzregion, wo der Autor einst als Staatsbeamter tätig war, ist inzwischen zum Rückzugsgebiet von al Qaida und Taliban geworden. "Der Weg des Falken", wie das späte Debüt heißt, ist eine Art Novellenkranz, der uns berichtet, wie die Menschen dort einst gelebt, geliebt und gedacht haben. Es vermag es so, die Verbissenheit der heutigen Auseinandersetzungen zumindest ein Stück weit verständlich zu machen, und es tut dies mit einem Verzicht auf alle Wertungen, wie es heute kaum mehr möglich wäre.
Einer entführt seine Geliebte. Auf der Flucht vor den Verfolgern lässt sich das Paar neben einem unwirtlichen Außenposten der Armee nieder, wo die Frau ein Kind zur Welt bringt. Als die Eltern Jahre später von ihren Verfolgern gefunden und erschlagen werden, wird der Junge neben den Leichen zurückgelassen. Dieses Kind ist der Falke, dessen "Weg" durch die Geschichten das Leitmotiv abgibt; die eigentlichen Helden sind aber immer die anderen, die den Jungen finden und aufnehmen. Zum Beispiel die Belutschen, die sich gegen den Staat erheben, der ihnen entgegen der Tradition vorschreiben will, wer ihr Oberhaupt zu sein hat.
Ehrenmänner, die sie sind, glauben sie einem Flugblatt, das ihnen freies Geleit zusichert. In der Stadt angekommen, werden sie nach einer empörenden Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt. "Über die Belutschen, ihr Anliegen, ihr Leben und ihren Tod wurde absolutes Stillschweigen vereinbart. Kein Zeitungsredakteur riskierte, sich ihretwegen eine Strafe einzuhandeln. Kein Bürokrat setzte seine Stellung aufs Spiel. Was mit ihnen starb, war ein Teil des Belutschenvolkes selbst. Ein wenig von der Spontaneität, mit der sie Zuneigung anboten, und etwas von ihrer Höflichkeit und ihrem Vertrauen. Auch dieses wurde vor Gericht gestellt und starb mit diesen sieben Männern."
Der Kommentar des Erzählers, übrigens der einzige im ganzen Buch, enthüllt das Motiv von Jamil Ahmads Schreiben und jahrelangem Schweigen gleichermaßen. "Der Weg des Falken" ist auch die Schilderung eines Ethnozids an jenen, die vor diesem Buch nie eine Stimme, ein Gewicht, einen Erzähler hatten. Die Vorstellung vom Nationalstaat, bei uns unweigerlich als zivilisatorische Errungenschaft angesehen, offenbart hier noch einmal ihre totalitäre Rückseite. Die im zwanzigsten Jahrhundert erstmals definierten Staatsgrenzen zwischen Afghanistan und zunächst Britisch-Indien, dann Pakistan zerschneiden rücksichtslos den Lebensraum der Nomaden.
Es gibt auch eine in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückgehende Schelmengeschichte, in der Deutsche und Engländer gegeneinander ausgespielt werden. Aber dass die Welt, die hier beschrieben wird, von der Auslöschung bedroht ist - dieses Wissen schwingt in jeder Zeile mit. Dabei verherrlicht Jamil Ahmad das rauhe Leben der Nomaden in den pakistanischen Grenzregionen keineswegs; er unterwirft es aber auch nicht der Checkliste eines hegemonialen Menschenrechtsdiskurses.
Jamil Ahmad schreibt einen einfachen, unprätentiösen Stil. Seine Erzählungen sind nicht so ausgefeilt und komplex wie etwa diejenigen Juan Rulfos aus dem ländlichen Mexiko, an die man sich ein wenig erinnert fühlt. Ihr Reiz besteht in der Erzählperspektive, die genau den richtigen Abstand hält: noch entfernt genug, um diese untergehende Welt von außen zu sehen; nah genug aber, um diese Distanz nie in eine innere umkippen zu lassen und die Figuren dem Leser zu entfremden, so fremd sie auch sind. Jamil Ahmads Buch, sagen wir daher voraus, wird auch dann noch gelesen werden, wenn an der pakistanischen Grenze irgendwann wieder Frieden herrschen sollte.
Jamil Ahmad: "Der Weg des Falken". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. 188 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2013Das vergessene
Manuskript
Jamil Ahmads eindrucksvoller Roman über
die Nomadenstämme von Belutschistan
VON TOBIAS MATERN
Erst experimentierte der Beamte Jamil Ahmad in seiner Freizeit mit Gedichten. Aber die waren „absoluter Schund“, wie ihm seine Frau Helga ohne Umschweife erklärte. Auf ihr Urteil war für ihn schon immer Verlass, seit er die Traunsteinerin 1956 in London kennengelernt und bald danach geheiratet hatte. „Warum“, fragte sie ihn, „schreibst du nicht einfach über ein Thema, mit dem du dich wirklich auskennst?“ Jamil Ahmad hielt sich an den Rat, er begann einen Roman. Seine Frau war mit dem Ergebnis zufrieden, sie tippte seine Zettel auf einer Triumph-Schreibmaschine ab. Doch ein Verleger ließ sich für das Ergebnis nicht gewinnen.
Das Manuskript verschwand in einem Koffer, fast vierzig Jahre lang. Jamil Ahmad hatte es längst vergessen, als sein Bruder von einem Literaturwettbewerb hörte, die vergilbten Seiten ausgrub, in die richtigen Hände legte und der Penguin-Verlag schließlich doch noch zuschlug. Manchmal brauchen richtig gute Bücher eben Zeit, um als solche enttarnt zu werden.
Der Pakistaner Jamil Ahmad ist inzwischen 82 Jahre alt, er lebt mit seiner Frau in Islamabad. Wenn er sich vor Kurzem nicht das Bein gebrochen hätte, wäre er nun nach Deutschland gekommen, um auch hier sein beeindruckendes, schon 1973 geschriebenes Erstlingswerk vorzustellen: „Der Weg des Falken“, die Geschichte eines Jungen, der Tor Baz (Schwarzer Falke) heißt und wie ein Vogel durch eine raue Welt voll karger Schönheit streift: Belutschistan und die Stammesgebiete zwischen Pakistan, Afghanistan und Iran – eine Region, in der Grenzen verschwimmen. Inzwischen gilt die Gegend in uneingeschränkter westlicher Verknappung als Talibanistan, Rückzugsgebiet von Terrorristen oder schlicht als „gefährlichste Gegend der Welt“, in der die Amerikaner ihren (aus dem Ruder gelaufenen) Drohnenkrieg führen.
Ahmad kennt das Gebiet, aus einer Zeit als der Westen noch weit davon entfernt war, in Afghanistan zu scheitern, als es noch keine mithilfe von CIA und pakistanischem Geheimdienst gezüchteten „Gotteskrieger“ gab, um die Sowjetunion vom Hindukusch zu vertreiben. Sein erster Einsatzort als Beamter im Dienste des pakistanischen Staates war Ende der Fünfzigerjahre in Quetta, der Hauptstadt Belutschistans – nach der heute das höchste Gremium der Taliban benannt ist (Quetta-Shura).
„Der Weg des Falken“ spielt in einer Region, in der die britischen Kolonialherren Ende des 19. Jahrhunderts am Reißbrett eine Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan gezogen haben, die mitten durch Dörfer läuft und paschtunische Stämme teilt, die sich nicht teilen lassen. Nach dem britischen Abzug vom Subkontinent übernahm der neu geborene pakistanische Staat das Regelwerk, das die Besatzer mit den renitenten Stämme vereinbart hatten.
Ahmad war mehr als zwanzig Jahre lang von Islamabad entsandter „political agent“ in der unterentwickelten Region. Er hat sich Notizen gemacht, sie sind das Gerüst für seinen Roman – eine saubere Recherche, literarisch veredelt. „Manchmal musste ich als Vertreter der Regierung kämpfen, wenn die Stämme im Unrecht waren, manchmal musste ich für die Stämme kämpfen, wenn die Regierung im Unrecht war“, sagt er. Seine Sympathie für die Stämme, ihre archaischen Lebensformen, aber vor allem ihre Verlässlichkeit und ihr Wertesystem ist nicht zu überlesen.
Dennoch schönt der Autor nichts. Er führt den Leser gleich zu Beginn hinein in eine Welt, in der es kein Entrinnen gibt für Stammesmitglieder, die sich den Regeln widersetzen. Tor Baz’ Vater ist mit der verheirateten Tochter des Anführers abgehauen, doch der nach Rache dürstende Clan setzt alles daran, die besudelte Ehre des eigentlichen, aber impotenten Ehemannes wiederherzustellen. Tor Baz muss mit ansehen, wie sein Vater erst die Mutter erschießt, um sie kurz vor seiner eigenen Steinigung nicht der mörderischen Wut des Stammes auszusetzen. Der Junge bleibt zurück, Rebellen, die gegen den Zentralstaat für Autonomie kämpfen, nehmen sich seiner an, später auch Soldaten, genau wie ein lebenskluger Mullah.
Es ist die Geschichte eines Streuners, der von Stamm zu Stamm weitergereicht wird, verpackt in kurze Episoden, äußerst dicht erzählt, auf gerade einmal 192 Seiten. Sie handelt von Clans, die sich bekämpfen, dulden oder auch verbrüdern, um dem schärfsten Feind – dem Staat und seinem zerstörerischen Regelwerk– irgendwie zu trotzen. Doch ihre Welt löst sich auf, etwa seit pakistanische Grenzbeamte tatsächlich Grenzen bewachen müssen. Denn damit entziehen sie den Nomaden ihre Lebensgrundlage, weil diese ihre Tiere nicht mehr je nach Jahreszeit in Pakistan oder Afghanistan weiden lassen dürfen, so wie sie das sonst Jahr für Jahr getan haben. Ahmad ist ein Meister darin, solche Tragödien zu schildern. Nie kitschig, immer empathisch.
Ahmad macht keinen Hehl daraus, wie sehr ihn die Aushöhlung der Stammesstrukturen ärgert: „Stämme haben überall auf der Welt identische Strukturen, sie bilden die Urform allen menschlichen Zusammenlebens. Dass sie noch während meines Lebens zerstört werden, ist für mich die Quelle meiner Wut“, sagt der alte Mann. Doch „Der Weg des Falken“ ist keine schäumende Abrechnung, die Geschichte liest sich mehr wie eine respektvolle, in ihrer klaren Sprache regelrecht poetische Annäherung an eine untergehende Lebensform.
Zumindest in der Literatur will Ahmad diese in sich geschlossene Welt der Stämme weiterleben lassen; er ist ein Konservator. Auch verschweigt der Autor dabei nicht die Gewalt, die Grausamkeiten, die diesen Alltag mitprägen, obwohl sich die Menschen, die sie erdulden müssen, nie darüber beklagen würden: „So wie Honig Fliegen anzieht, zieht Gejammer Schwierigkeiten an“, bekommt Tor Baz von einem seiner Lehrmeister erklärt.
Jamil Ahmad ist kein fabulierender Romantiker, der die Stämme verklärt. Frauen werden in einer Episode dieses Buchs auf einem Basar gehandelt wie Gemüse. Ein Begriff wie „Zuhause“ oder „Beständigkeit“ bedeutet in der Welt eines Stammes „lediglich einen Zwischenaufenthalt, der lang genug dauert, um Wäsche zu waschen oder die Wiegen an die Bäume hängen zu können“. Dennoch: Gegen nichts würden die Menschen in Ahmads Geschichte ihre Lebensform eintauschen, wenn sie denn eine Wahl hätten. Alles ist gottgewollt, Pessimismus passt nicht in das Leben eines Eis-Schneiders, der seine Familie damit ernährt, „Eisblöcke aus Gletschern zu schneiden und sie auf dem Rücken ins Tal zu tragen, wo wartende Lastwagen sie aufluden und schnell in die Städte“ bringen.
In der Welt der Nationalstaaten ist kein Platz für den Ritus der Stämme, Regierungen und ihre Regeln bedeuten „den Tod einer jahrhundertealten Lebensweise“, heißt es an einer Stelle in diesem eindrucksvollen Buch. Jamil Ahmad schreibt solche Sätze, obwohl er selbst im Dienste eines Staates stand, der den Untergang der Stämme mitbefördert. Dass sich der Mann dennoch seine Haltung bewahrt hat und sie aufschreibt, macht „Der Weg des Falken“ zu einem phantastischen Erstlingswerk.
Ahmad ist alles andere
als ein Romantiker, der das
wilde Leben verklärt
Jamil Ahmad: Der Weg des Falken. Roman. Aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini. Verlag
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2013. 192 Seiten, 19,99 Euro.
„Warum schreibst du nicht über ein Thema, mit dem du dich wirklich auskennst?“, fragte ihn seine Frau. Doch es dauerte vierzig Jahre, bis der heute 82-jährige Jamil Ahmad einen Verleger für sein Buch fand.
FOTO: AAMIR QURESHI/AFP PHOTO
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Manuskript
Jamil Ahmads eindrucksvoller Roman über
die Nomadenstämme von Belutschistan
VON TOBIAS MATERN
Erst experimentierte der Beamte Jamil Ahmad in seiner Freizeit mit Gedichten. Aber die waren „absoluter Schund“, wie ihm seine Frau Helga ohne Umschweife erklärte. Auf ihr Urteil war für ihn schon immer Verlass, seit er die Traunsteinerin 1956 in London kennengelernt und bald danach geheiratet hatte. „Warum“, fragte sie ihn, „schreibst du nicht einfach über ein Thema, mit dem du dich wirklich auskennst?“ Jamil Ahmad hielt sich an den Rat, er begann einen Roman. Seine Frau war mit dem Ergebnis zufrieden, sie tippte seine Zettel auf einer Triumph-Schreibmaschine ab. Doch ein Verleger ließ sich für das Ergebnis nicht gewinnen.
Das Manuskript verschwand in einem Koffer, fast vierzig Jahre lang. Jamil Ahmad hatte es längst vergessen, als sein Bruder von einem Literaturwettbewerb hörte, die vergilbten Seiten ausgrub, in die richtigen Hände legte und der Penguin-Verlag schließlich doch noch zuschlug. Manchmal brauchen richtig gute Bücher eben Zeit, um als solche enttarnt zu werden.
Der Pakistaner Jamil Ahmad ist inzwischen 82 Jahre alt, er lebt mit seiner Frau in Islamabad. Wenn er sich vor Kurzem nicht das Bein gebrochen hätte, wäre er nun nach Deutschland gekommen, um auch hier sein beeindruckendes, schon 1973 geschriebenes Erstlingswerk vorzustellen: „Der Weg des Falken“, die Geschichte eines Jungen, der Tor Baz (Schwarzer Falke) heißt und wie ein Vogel durch eine raue Welt voll karger Schönheit streift: Belutschistan und die Stammesgebiete zwischen Pakistan, Afghanistan und Iran – eine Region, in der Grenzen verschwimmen. Inzwischen gilt die Gegend in uneingeschränkter westlicher Verknappung als Talibanistan, Rückzugsgebiet von Terrorristen oder schlicht als „gefährlichste Gegend der Welt“, in der die Amerikaner ihren (aus dem Ruder gelaufenen) Drohnenkrieg führen.
Ahmad kennt das Gebiet, aus einer Zeit als der Westen noch weit davon entfernt war, in Afghanistan zu scheitern, als es noch keine mithilfe von CIA und pakistanischem Geheimdienst gezüchteten „Gotteskrieger“ gab, um die Sowjetunion vom Hindukusch zu vertreiben. Sein erster Einsatzort als Beamter im Dienste des pakistanischen Staates war Ende der Fünfzigerjahre in Quetta, der Hauptstadt Belutschistans – nach der heute das höchste Gremium der Taliban benannt ist (Quetta-Shura).
„Der Weg des Falken“ spielt in einer Region, in der die britischen Kolonialherren Ende des 19. Jahrhunderts am Reißbrett eine Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan gezogen haben, die mitten durch Dörfer läuft und paschtunische Stämme teilt, die sich nicht teilen lassen. Nach dem britischen Abzug vom Subkontinent übernahm der neu geborene pakistanische Staat das Regelwerk, das die Besatzer mit den renitenten Stämme vereinbart hatten.
Ahmad war mehr als zwanzig Jahre lang von Islamabad entsandter „political agent“ in der unterentwickelten Region. Er hat sich Notizen gemacht, sie sind das Gerüst für seinen Roman – eine saubere Recherche, literarisch veredelt. „Manchmal musste ich als Vertreter der Regierung kämpfen, wenn die Stämme im Unrecht waren, manchmal musste ich für die Stämme kämpfen, wenn die Regierung im Unrecht war“, sagt er. Seine Sympathie für die Stämme, ihre archaischen Lebensformen, aber vor allem ihre Verlässlichkeit und ihr Wertesystem ist nicht zu überlesen.
Dennoch schönt der Autor nichts. Er führt den Leser gleich zu Beginn hinein in eine Welt, in der es kein Entrinnen gibt für Stammesmitglieder, die sich den Regeln widersetzen. Tor Baz’ Vater ist mit der verheirateten Tochter des Anführers abgehauen, doch der nach Rache dürstende Clan setzt alles daran, die besudelte Ehre des eigentlichen, aber impotenten Ehemannes wiederherzustellen. Tor Baz muss mit ansehen, wie sein Vater erst die Mutter erschießt, um sie kurz vor seiner eigenen Steinigung nicht der mörderischen Wut des Stammes auszusetzen. Der Junge bleibt zurück, Rebellen, die gegen den Zentralstaat für Autonomie kämpfen, nehmen sich seiner an, später auch Soldaten, genau wie ein lebenskluger Mullah.
Es ist die Geschichte eines Streuners, der von Stamm zu Stamm weitergereicht wird, verpackt in kurze Episoden, äußerst dicht erzählt, auf gerade einmal 192 Seiten. Sie handelt von Clans, die sich bekämpfen, dulden oder auch verbrüdern, um dem schärfsten Feind – dem Staat und seinem zerstörerischen Regelwerk– irgendwie zu trotzen. Doch ihre Welt löst sich auf, etwa seit pakistanische Grenzbeamte tatsächlich Grenzen bewachen müssen. Denn damit entziehen sie den Nomaden ihre Lebensgrundlage, weil diese ihre Tiere nicht mehr je nach Jahreszeit in Pakistan oder Afghanistan weiden lassen dürfen, so wie sie das sonst Jahr für Jahr getan haben. Ahmad ist ein Meister darin, solche Tragödien zu schildern. Nie kitschig, immer empathisch.
Ahmad macht keinen Hehl daraus, wie sehr ihn die Aushöhlung der Stammesstrukturen ärgert: „Stämme haben überall auf der Welt identische Strukturen, sie bilden die Urform allen menschlichen Zusammenlebens. Dass sie noch während meines Lebens zerstört werden, ist für mich die Quelle meiner Wut“, sagt der alte Mann. Doch „Der Weg des Falken“ ist keine schäumende Abrechnung, die Geschichte liest sich mehr wie eine respektvolle, in ihrer klaren Sprache regelrecht poetische Annäherung an eine untergehende Lebensform.
Zumindest in der Literatur will Ahmad diese in sich geschlossene Welt der Stämme weiterleben lassen; er ist ein Konservator. Auch verschweigt der Autor dabei nicht die Gewalt, die Grausamkeiten, die diesen Alltag mitprägen, obwohl sich die Menschen, die sie erdulden müssen, nie darüber beklagen würden: „So wie Honig Fliegen anzieht, zieht Gejammer Schwierigkeiten an“, bekommt Tor Baz von einem seiner Lehrmeister erklärt.
Jamil Ahmad ist kein fabulierender Romantiker, der die Stämme verklärt. Frauen werden in einer Episode dieses Buchs auf einem Basar gehandelt wie Gemüse. Ein Begriff wie „Zuhause“ oder „Beständigkeit“ bedeutet in der Welt eines Stammes „lediglich einen Zwischenaufenthalt, der lang genug dauert, um Wäsche zu waschen oder die Wiegen an die Bäume hängen zu können“. Dennoch: Gegen nichts würden die Menschen in Ahmads Geschichte ihre Lebensform eintauschen, wenn sie denn eine Wahl hätten. Alles ist gottgewollt, Pessimismus passt nicht in das Leben eines Eis-Schneiders, der seine Familie damit ernährt, „Eisblöcke aus Gletschern zu schneiden und sie auf dem Rücken ins Tal zu tragen, wo wartende Lastwagen sie aufluden und schnell in die Städte“ bringen.
In der Welt der Nationalstaaten ist kein Platz für den Ritus der Stämme, Regierungen und ihre Regeln bedeuten „den Tod einer jahrhundertealten Lebensweise“, heißt es an einer Stelle in diesem eindrucksvollen Buch. Jamil Ahmad schreibt solche Sätze, obwohl er selbst im Dienste eines Staates stand, der den Untergang der Stämme mitbefördert. Dass sich der Mann dennoch seine Haltung bewahrt hat und sie aufschreibt, macht „Der Weg des Falken“ zu einem phantastischen Erstlingswerk.
Ahmad ist alles andere
als ein Romantiker, der das
wilde Leben verklärt
Jamil Ahmad: Der Weg des Falken. Roman. Aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini. Verlag
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2013. 192 Seiten, 19,99 Euro.
„Warum schreibst du nicht über ein Thema, mit dem du dich wirklich auskennst?“, fragte ihn seine Frau. Doch es dauerte vierzig Jahre, bis der heute 82-jährige Jamil Ahmad einen Verleger für sein Buch fand.
FOTO: AAMIR QURESHI/AFP PHOTO
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"Beeindruckendes
Debüt." Roger Willemsen Berliner Zeitung, 02.05.2013
Debüt." Roger Willemsen Berliner Zeitung, 02.05.2013