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Nach vorherrschender Auffassung wird Deutschland die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg zugeschrieben. Auf breiter Quellengrundlage, vor allem mit ungedruckten Akten- und Nachlassbeständen, begründet jedoch der Autor, dass die Zwänge, denen Deutschland ausgesetzt blieb, größer waren als die Möglichkeiten. Bis zur Julikrise 1914 hat die deutsche Führung mit auf den Frieden gerichteten politischen Mitteln, entweder mit einer Politik der Stärke oder mit einer der Entspannung, auf ei-ne weltmachtpolitische Gleichberechtigung und auf die Sicherung der bisherigen Stellung auf dem…mehr

Produktbeschreibung
Nach vorherrschender Auffassung wird Deutschland die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg zugeschrieben. Auf breiter Quellengrundlage, vor allem mit ungedruckten Akten- und Nachlassbeständen, begründet jedoch der Autor, dass die Zwänge, denen Deutschland ausgesetzt blieb, größer waren als die Möglichkeiten. Bis zur Julikrise 1914 hat die deutsche Führung mit auf den Frieden gerichteten politischen Mitteln, entweder mit einer Politik der Stärke oder mit einer der Entspannung, auf ei-ne weltmachtpolitische Gleichberechtigung und auf die Sicherung der bisherigen Stellung auf dem europäischen Kontinent gesetzt und versucht, dem Druck der Ausgrenzung durch die Rivalen zu entgehen und die Tripleentente Großbritanniens, Russlands und Frankreichs zu konterkarieren. Unter der sicher- -politischen Zwangsvorstellung, dieser in wenigen Jahren militärisch nicht mehr gewachsen zu sein, hat sie gemeinsam mit Wien im Juli 1914 den Krieg ausgelöst.
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Autorenporträt
Konrad Canis, Dr. phil., geb. 1938, bis 2001 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Gastprofessor an der Universität Wien. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Otto-von-Bismarck-Stiftung und Mitherausgeber der Neuen Friedrichsruher Ausgabe der Bismarck-Werke.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2012

Realer Kern der Einkreisungsängste
Konrad Canis beschließt seine mehrbändige Geschichte der deutschen Außenpolitik von 1870 bis 1914

Es kommt Bewegung in die Erforschung der Großmächtebeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg. Die Gründe sind vielfältig. Das Ende des Kalten Krieges und das Heraufziehen eines stärker multipolar ausgerichteten Staatensystems verändern den Blickwinkel. Fritz Fischers These vom zielstrebigen deutschen Griff nach der Weltmacht hat sich als überspitzt erwiesen, der deutsche Sonderweg an Überzeugungskraft eingebüßt. Die lange Zeit gängige Deutung deutscher Außenpolitik als Inbegriff diplomatischer Grobschlächtigkeit, deplatzierten Kraftgefühls, aggressiven Expansionsstrebens und permanenten Versagens ist relativiert worden. Historiker blicken nicht mehr vorrangig nach Berlin, um die längerfristigen Ursachen des großen Krieges zu erklären, sondern verstärkt auch wieder nach Wien, St. Petersburg, Paris und London.

Kaum ein deutscher Historiker hat so großen Anteil an der Revision überkommener Sichtweisen wie Konrad Canis, der jetzt den dritten Band seiner fulminanten Geschichte der deutschen Außenpolitik von 1870 bis 1914 vorlegt. Nachdem er in den ersten beiden Bänden Bismarcks Außenpolitik sowie die von grundsätzlichem Optimismus getragenen Anfänge deutscher Weltpolitik untersucht hat, wendet er sich im Abschlussband den zunehmenden Enttäuschungen und wachsenden Bedrohungsgefühlen der letzten zwölf Vorkriegsjahre zu. Seine Darstellung ist im Stil klassischer Diplomatiegeschichte gehalten. Sie bezieht ihre Überzeugungskraft weniger aus dem detaillierten Nachvollzug der Forschungsergebnisse anderer Historiker als aus einem beeindruckend gründlichen Studium der Akten nicht nur in Berlin, sondern auch in München, Dresden und Wien. Die Studie behandelt die bekannte Kette sich zuspitzender Konfrontationen. Aber sie verweigert sich dem üblichen Reiz-Reaktions-Schema, dem zufolge die deutsche Herausforderung des Status quo mehr oder weniger automatisch die entsprechende Gegenwehr der anderen Mächte ausgelöst habe.

Schon dass Canis seine Untersuchung 1902 beginnt und nicht mit dem Amtsantritt Bernhard von Bülows als Außenstaatssekretär 1897 oder mit der forcierten deutschen Flottenrüstung 1898, ist programmatisch zu verstehen. Nicht die deutsche Weltpolitik stand am Anfang der in den Krieg mündenden diplomatischen Verwicklungen, sondern weltpolitische Verschiebungen außerhalb des Reiches, auf die Berlin reagieren musste und immer weniger konnte. Der Autor streicht die Neuausrichtung der britischen Politik seit 1902 heraus, die nach einem Bündnis mit Japan auch zu Absprachen mit Frankreich in der Entente Cordiale von 1904 und mit Russland im Abkommen von 1907 führte und in einer Art Kartell der führenden Kolonialmächte auf eine "partielle Ausgrenzung" des Deutschen Reiches als weltpolitischem Nachzügler zielte. "Von London", so Canis, "ging die Bewegung aus, die in die Mächtekonstellation kam. Sie richtete sich gegen Deutschland, den stärksten Rivalen." Insofern hatten die deutschen Einkreisungsängste, die später oft als Projektionen eigener aggressiver Absichten der deutschen Führungsschichten abgetan wurden, einen realen Kern.

Trotzdem suggeriert der Titel "Der Weg in den Abgrund" eine Zwangsläufigkeit, die von der Analyse nicht gedeckt wird. Denn Canis betont die Offenheit einer Entwicklung, die nicht notwendig zum Krieg führen musste. Der These einer Flucht in den Krieg, um ein unreformierbares und immer stärker krisengeschütteltes politisches System zu erhalten, widerspricht er mit dem Hinweis, im Vergleich zu den 1890er Jahren habe die innenpolitische Stabilität des Reiches gerade unter dem Eindruck des außenpolitischen Bedrohungsgefühls zugenommen und nicht abgenommen. Konservative Staatsstreichpläne seien ebenso in den Hintergrund gerückt wie die Revolutionsdrohung durch die Sozialdemokratie. Anders als John Röhl in seiner Wilhelm-Biographie, deren dritter Band denselben Titel trägt, macht Canis den letzten Hohenzollern-Kaiser und dessen Persönliches Regiment nicht als Hauptverantwortlichen aus. In seiner Interpretation war der unberechenbare Monarch ein komplizierender, aber nicht ausschlaggebender Faktor. Er konnte durch bramarbasierende Reden in der Öffentlichkeit oder durch unabgestimmte Privatgespräche mit dem Zaren und dem britischen König Verwirrung stiften. Aber zu zielgerichteter eigener Außenpolitik war er nicht imstande.

Dafür gab es die diplomatischen Experten im Auswärtigen Amt, an ihrer Spitze den Reichskanzler, bis 1909 Bülow, danach Theobald von Bethmann Hollweg. Bülow, den Historiker meist als rückgratlosen Höfling oder leichtfertig-megalomanen Weltpolitiker beschreiben, bekommt von Canis ein überraschend gutes Zeugnis ausgestellt. Er sei als hochtalentierter, erfahrener und geschmeidig vorgehender Diplomat "von seiner Persönlichkeitsstruktur her der richtige Kanzler" für das polykratische Reich gewesen. Selbst in der "Daily Telegraph"-Affäre bescheinigt ihm der Autor "guten Willen", obwohl Bülow den Kaiser öffentlich im Regen stehen ließ - um ihn im Interesse der Staatsräson kaltzustellen, wie Canis vermutet, möglicherweise aber auch nur, um im Reichstag von eigenen Fehlern abzulenken. Kritischer geht der Verfasser mit Bethmann Hollweg ins Gericht. Ihn hält er für "gründlich, beharrlich, mit einer deutlichen Neigung zu Pessimismus", vor allem aber für außenpolitisch naiv und überfordert. Einen weltpolitischen oder auch nur auf Hegemonie in Europa gerichteten Eroberungsdrang, wie ihn Fritz Fischer konstatiert hat, kann der Autor weder bei Bülow noch bei Bethmann entdecken. Vielmehr sieht er deren Stimmung durch zunehmend alarmierte Sorge gekennzeichnet und schließlich in der Julikrise, in der auch Canis die Berliner Wilhelmstraße und den Wiener Ballhausplatz als treibende Kräfte identifiziert, durch "Fatalismus, ja die blanke Verzweiflung" bestimmt. Das ursprüngliche Kriegsziel habe im Sommer 1914 weder in einer kompletten Vorherrschaft in Europa gelegen noch in einem Sieg über England. Vielmehr sei es um eine begrenzte Hegemonie in der Tradition Bismarcks gegangen, zudem um einen Kompromiss mit Großbritannien in der Weltpolitik und mit Russland auf dem Balkan, um Österreich-Ungarn dort eine Atempause zu verschaffen. Obwohl keine europäische Großmacht im Sommer 1914 einen großen Krieg beabsichtigte, so das Fazit, hätten alle nacheinander ihn aufgenommen. Jede Regierung sei in ihrer Entscheidung frei gewesen, keine habe sich dem Krieg konsequent widersetzt: "Jede glaubte ihrem Interesse zu folgen und mit dem Krieg ihre Stellung im Konzert der Mächte zu stärken."

DOMINIK GEPPERT

Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902-1914. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2011. 719 S., 88,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dominik Geppert schätzt die Wende in der Geschichtsschreibung betreffend die Großmachtkonstellationen vor dem Ersten Weltkrieg. Dass es den deutschen Sonderweg nicht gab, lernt er vor allem aus der mit diesem Band abgeschlossenen Geschichte der deutschen Außenpolitik von 1870 bis 1914 von Konrad Canis. Basierend auf "gründlichem" Quellenstudium liefert ihm der Autor im Stil klassischer Diplomatiehistorie Belege für die relative Offenheit der Lage während der letzten zwölf Jahre vor Kriegsausbruch. Dass der Titel in seiner Zwangsläufigkeit dazu nicht recht passen mag, kann der Rezensent verkraften. Canis entzieht Verantwortliche wie Bülow und Bethmann dem Vorwurf des Eroberungsdranges und spricht stattdessen von einer alarmierenden Sorge als kennzeichnende Stimmung in Europa. Dass sich keine europäische Großmacht dem Krieg widersetzt hat, muss Geppert hier freilich auch lesen.

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