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Produktdetails
  • Verlag: Vacat
  • ISBN-13: 9783930752102
  • Artikelnr.: 26814525
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2020

Wo man nicht schweigen darf
Der spätere Kunsthändler Carl Laszlo schrieb 1955 über sein Überleben in den Lagern der Nazis.
Damals wollte das kaum einer lesen, jetzt ist es hohe Zeit für eine Wiederentdeckung
VON ALEX RÜHLE
Ein großer Text, ein zeithistorisches Zeugnis. Insofern erst mal ein Tusch für den kleinen Wiener Verlag „Das vergessene Buch“, dessen Programm ja schon im Namen steckt: Autoren und Bücher, die verschollen sind oder seinerzeit ignoriert wurden, wieder ans Licht zu holen. Im Fall dieses Buchs ist das mit dem Ignorieren sogar schon dreimal passiert: Carl Laszlo hat „Ferien am Waldsee“ erstmals 1955 veröffentlicht, in einem kleinen Basler Verlag. Wahrscheinlich wollten die Schweizer seinerzeit genauso wenig wissen von den Konzentrationslagern wie die Deutschen – Laszlo klingt fast entschuldigend, wenn er eingangs die Frage debattiert, warum man „zehn Jahre nach Kriegsende (…) diese Dinge nicht als endgültig erledigt betrachten“ kann. Aber auch die beiden Neuauflagen 1981 und 1998, die Laszlo aus eigener Tasche zahlte, gingen unter.
Liegt das vielleicht am idyllisch klingenden Titel, der den Nazis ihren Zynismus heimzahlt? Carl Laszlo erklärt im Vorwort, diesen Waldsee habe es natürlich nie gegeben. Einige Familienmitglieder von Deportierten hätten aber Postkarten ihrer Verwandten bekommen, mit vorgedrucktem Text und eigenhändiger Unterschrift ihrer Lieben. Der Stempel der Karte lautete: „Am Waldsee“. Laszlo kam im Juli 1944 nach Auschwitz, 53 Familienmitglieder wurden sofort vernichtet. Ferien am Waldsee.
Vorangestellt ist den Erinnerungen ein Nietzsche-Zitat: „Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man überwunden hat – alles andere ist Geschwätz, ‚Literatur‘, Mangel an Zucht.“ Umso interessanter ist, dass Laszlo im Text immer wieder durchaus literarisch wird. Zum einen, indem er allen Kapiteln Zitate voranstellt, vom 5. Buch Mose über Goethes „Faust“ und Kierkegaard bis hin zu Ernst Wiechert und Ringelnatz.
Außerdem versucht er immer wieder, die Erfahrungen im KZ, die systematische Vernichtung, den Hunger, die Folter und Demütigungsrituale, mit all dem, was seine bisherige Lebensmatrix bildete, kurzzuschließen, was freilich nie gelingt. Seltsamer Gipfelpunkt ist in dieser Hinsicht das vierte Kapitel, in dem er sich auf einem Abort versteckt und, mit Blick auf die Selektionsrampe und den Schornstein des Krematoriums, „Romeo und Julia“ liest. Der Erzähler irrt „mit dem Blick ständig zwischen Buch und Rampe hin und her“ und verschränkt die Shakespeare-Passagen, in denen es um Feuer geht, Feuer der Liebe, der Lust, des Hasses, mit den Bildern der lodernden Flammen, was derart groteske Vergleichsdissonanzen erzeugt, dass er am Ende nur irre lachend Shakespeare in die Latrine werfen kann.
Der Verleger Albert Eibl schreibt in seinem Vorwort, das Neue an Laszlos Erinnerungen sei die in seinem Text „propagierte Haltung der unbedingten Furchtlosigkeit“ und die „kristallklare, objektiv-distanzierte Sicht“, was Eibl ohne irgendwelche Belege mit Ernst Jünger und Helmut Lethens „Verhaltenslehren der Kälte“ in Verbindung bringt. Nun versucht sich der Erzähler im Lager tatsächlich an einem nüchtern beobachtenden Blick, gleichzeitig bricht aber regelmäßig die absolute Verblüffung durch, dass ein derartiger Ort überhaupt existiert, gepaart mit einem leisen, rabenschwarzen Humor, der an der Schwelle des Todes das Menschsein verteidigt: „Ich konnte mich weder an die unhygienische Ernährung noch an das Verhungern gut gewöhnen.“ An anderen Stellen wird der Erzähler pathetisch und ist fernab jeder „kristallklaren, objektiv-distanzierten Sicht“: Als das „Zigeunerlager“ liquidiert wird und die etwa 4300 Sinti und Roma, die zu dem Zeitpunkt noch in Auschwitz waren, in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern umgebracht werden, ist er einerseits selbst „wie versteinert“ und spricht andererseits klischeeschwelgend von „ihrem andersartigen, feineren Wesen“ und der verzweifelten Gegenwehr „dieser unschuldigen Kinder der Natur“.
Hier soll keineswegs philologisch gebeckmessert werden, es ist vielmehr interessant, wie sich in Laszlos Schreiben ebenfalls stereotype Zuschreibungen eingenistet haben. Das Buch ist ein Zeugnis aus Auschwitz und zugleich ein Zeugnis von 1955 über einen, der, vermutlich ohne irgendwelche Textvergleiche zu haben, versucht, das Erlebte in eine nachvollziehbare Form zu bringen.
Der konsequent kühle Blick des nüchternen Konstatierens wird denn auch ausgelagert an einen Freund, der als Aliego unschwer als Alter Ego zu erkennen ist und der den Erzähler darauf vorbereitet, dass es kaum möglich sein wird, im unwahrscheinlichen Falle des Überlebens „noch einmal einen Platz in der Welt zu finden. (…) Zwischen uns und den anderen hat sich eine Wand aufgerichtet und trennt uns von allen denen, die nicht hier waren.“ Aliego prophezeit, die SS-Männer würden sich nach dem Krieg alle wunderbar schmiegsam in ihre alte Welt eingliedern, sie aber würden dieser Erfahrung nie entkommen.
Das erinnert an Primo Levi, der „Die Atempause“ nicht mit seiner Ankunft in Turin enden lässt, sondern mit einem Albtraum, der ihn seither heimsucht und in dem er jedes mal von Neuem plötzlich aus seinem Alltag abgeholt wird ins KZ: „Ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien, Sinnestäuschung, Traum.“
Laszlos Erinnerungen enden mit der Befreiung durch tschechische Gendarmerie, sie sind da mit einem Zug unterwegs in Richtung Dachau, Zeit und Ort verschwimmen längst, der Erzähler ist abgemagert auf 38 Kilo, als sie plötzlich frei sind. Aliego stirbt, er selbst überlebt und steht „in einer Welt, in der er nichts anderes als ein Fragezeichen“ ist. Lange überlegt er wohl, sich umzubringen – „es wäre so herrlich gewesen, als Sieger und Überlebender nach all dem im Nichts zu versinken.“ Dann aber endet interessanterweise alles mit einem Lächeln: „Man kann den Überlebenden nicht fragen, warum er weiterlebe; er wird nur lächeln. Aber dieses Lächeln kann ihm keiner mehr nehmen.“
Die Neuauflage ist Alexander von Schönburg zu verdanken, der Albert Eibl auf Laszlos vergessenen Text aufmerksam gemacht hat. Schönburg schreibt in einem fast romanhaft wirkenden Nachwort über den beeindruckend charismatischen Laszlo der achtziger und neunziger Jahre: Laszlo war da längst international erfolgreicher Kunsthändler und Mitbegründer der Art Basel und ging im Haus von Schönburgs Mutter, die ebenfalls aus Ungarn stammt, ein und aus. Laszlo muss ein großes Freundschaftstalent besessen haben, durch Schönburgs Text flaniert das Who is Who der Kunst- und Kulturwelt, Timothy Leary, Hans Arp, Christo, Victor Vasarely, Gisèle Freund, Heiner Müller. Er war eng befreundet mit Albert Hoffmann, dem Entdecker des LSD, besaß stets beeindruckende Drogenmengen und richtete, so Schönburg, sein gesamtes Leben „auf Genuss und Schönheit, auf Rausch und allenfalls durch kurze Schlafphasen unterbrochene Dauerekstase aus“.
Diese sehr persönliche Reminiszenz ist so beeindruckend wie sie einen auch etwas ratlos zurücklässt, schließlich kriegt man diesen zigarrerauchenden Ectremhedonisten trotz Schönburgs Deutung, Laszlo sei „der andere Zeuge“ von Auschwitz, habe er sich doch nie als Opfer, sondern als Sieger gesehen, kaum zusammen mit dem Mann, der in der Schweizer Erfahrungseinsamkeit 1955 seine Erinnerungen verfasste.
Diese und andere Lücken hätte in dieser vierten Neuauflage unbedingt endlich ein historischer Kommentar schließen müssen. Welche vergleichbaren Texte hat Laszlo eventuell gekannt (Levis „Se questo è un uomo“ war 1947 erschienen)? Wie ignorant war das Publikum dieser Tage? Wenn er Auschwitz meist nur „das große Vernichtungslager in Schlesien“ nennt, ist das dann nur verfremdender Kunstgriff, oder sagen die Lagernamen seinerzeit den meisten Lesern einfach noch nichts? Genauso wichtig wäre ein Stellenkommentar, um klar zwischen fiktionalisierten Passagen, eventuellen Erinnerungstäuschungen und dokumentarischer Korrektheit zu unterscheiden. So erzählt eines der Kapitel davon, wie ein „deutsches Zigeunermädchen“ ihm das Leben rettet, indem sie ihm mehrere Tage hintereinander Brot zusteckt. Der Erzähler stattet dieses Mädchen mit „bläulichen Augen und goldblonden Haaren“ aus und man stutzt sofort: Wie kann das sein, sind nicht alle geschoren im Lager?
Immerhin gibt es im Netz, genauer im Staatsarchiv des Kantons Basel, die pdf-Datei einer Ausstellung, in der Laszlos Nachkriegsjahre dokumentiert wurden, wer sich also „Ferien am Waldsee“ besorgt, findet hier wertvolle Zusatzinformationen, etwa die genauen Stationen seiner KZ-Odyssee von Auschwitz über Oranienburg, Ohrdruf, Buchenwald, Theresienstadt.
Im Herbst 1945 kam er zu seiner Schwester, der einzigen Überlebenden seiner Familie, die rechtzeitig nach Basel emigriert war, und musste von da an regelmäßig um eine Verlängerung seiner „Toleranzbewilligung“ bitten. Er studierte zunächst Medizin, dann Psychologie bei Leopold Szondi, dem Vater Peter Szondis – und lieferte sich eine 23-jährige Aktenschlacht mit den außerordentlich hartleibigen Schweizer Behörden, bis diese ihm 1968 endlich die Schweizer Staatsbürgerschaft bewilligten.
Gewidmet ist das Buch dem Berliner Arzt Benno Heller, der sich in Auschwitz wo er konnte für Mitgefangene einsetzte und dabei jedes mal sein Leben aufs Spiel setzte. „Er sprach nie von Moral, er berief sich nie auf Gott oder die Gerechtigkeit, sondern bekämpfte den Mord, so gut er konnte, mit einer Selbstverständlichkeit, wie man beim Tennisspielen die Bälle zurückschlägt.“ Tennis in Auschwitz, Ferien am Waldsee, Mengele, der an der Rampe mit seinem Zeigefinger Tote von zunächst Weiterlebenden scheidet „wie ein Postbeamter seine Briefe sortiert“ – hier spricht tatsächlich eine sehr eigene Stimme und man kann nur hoffen, dass sie gerade in ihrer merkwürdigen Eigenartigkeit diesmal wirklich hörbar wird.
Carl Laszlo: Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden. Mit einem Nachwort von Alexander von Schönburg. Verlag Das vergessene Buch, Wien 2020. 160 Seiten, 22 Euro.
Durch den nüchternen Stil
bricht Verblüffung
und leiser Humor
Er bleibt „in einer Welt,
in der er nichts anderes als
ein Fragezeichen“ ist
Carl Laszlo wurde 1923 in Pécs geboren, er starb 2013 in Basel.
Foto: Andreas Baier/andreas-baier.format.com
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