Christoph Ransmayr begann seine literarische Arbeit als Kulturredakteur und Reporter. Er schrieb seine ersten Artikel für die österreichische Monatszeitschrift Extrablatt, später für Merian oder Geo, und vor allem für TransAtlantik. Aus der großen Zahl dieser Arbeiten hat Ransmayr jetzt die wichtigsten Stücke ausgewählt und mit sechs Beispielen kleiner Prosa zur vorliegenden Sammlung zusammengefaßt. Der Weg nach Surabaya zeichnet damit auch eine schriftstellerische Entwicklungsgeschichte nach, den Aufbruch eines großen Autors. Ob Ransmayr in seinen Reportagen vom Bau der Staumauern von Kaprun erzählt, von Häftlingskolonnen und Zwangsarbeit inmitten österreichischer Idyllen, von einer Wallfahrt zur letzten Kaiserin Europas und dem mühsamen Leben auf den Halligen des Nordfriesischen Wattenmeeres - oder ob er den Leser seiner kleinen Prosa in das Labyrinth von Knossos versetzt, auf die Ladefläche eines Lastwagen in Ostjava oder in die erloschene Pracht der indischen Ruinenstadt Fatehpur: stets verbindet er die scheinbare Leichtigkeit seines Erzählens mit einem wachen Blick für die Gegenwart und einer seltenen sprachlichen Perfektion.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.1997Die vergorene Heimat
Christoph Ransmayrs Rattengesänge und andere Reportagen · Von Harald Hartung
Die letzte Welt und der letzte Mensch - das ist das große Doppelthema, dem der Erzähler Christoph Ransmayr zwei denkwürdige Paraphrasen abgewann: seine Ovid-Recherche "Die letzte Welt" (1988) und den Roman "Morbus Kitahara" (1995). In beiden Büchern schreibt der Dichter sich in Endzeiten hinein. Das Zurück in eine kollabierende Antike wird überboten durch das durch eine Art Morgenthau-Plan bewirkte "Zurück in die Steinzeit". "Die letzte Welt" erregte große, auch internationale Resonanz. "Morbus Kitahara", weniger euphorisch aufgenommen, hielt zumindest Ruf und Namen dieses epischen Apokalyptikers im Bewußtsein.
Von diesem Autor, der bedachtsam und überaus skrupulös arbeitet, ist nicht gleich wieder ein neuer Roman zu erwarten. Sein Verlag hat seine eigenen Sorgen. Er tut etwas für seinen Autor und präsentiert uns zwei neue Bücher. Zunächst ein Materialienbuch, das nicht bloß Nachdrucke bringt, sondern auch interessante Originalarbeiten, dazu Interviews und Preisreden. Aus einem klugen Essay habe ich mir die Vokabel "katastrophil" gemerkt. Und in einem der Interviews bekennt Ransmayr unverblümt, er sehe keinen Unterschied zwischen dem journalistischen und dem literarischen Schreiben: "Das Erzählen ist untrennbar und unteilbar."
Das führt direkt zum zweiten Buch. Es heißt "Der Weg nach Surabaya" und ist weniger exotisch, als sein Titel vermuten läßt. Es eine Nachlese zu nennen mag lieblos klingen, trifft aber die Sache. Es liefert nämlich - in genauer Auswahl - Ransmayrs Gesellenstücke und präsentiert einen Autor, der in der ersten Hälfte der achtziger Jahre jene Organe mit Auftragsarbeiten belieferte, in denen er auch gewisse Motive seiner Romane ausprobieren konnte. Wir dürfen annehmen, daß auch der Reporter Ransmayr von der Unteilbarkeit des Erzählens Gebrauch macht.
Wochenlang, so bekundet er, habe er über dem Anfang einer Reportage gesessen - die dann folgendermaßen beginnt: "Es war ein dünner, panischer Gesang. Wenn das Gebirge leiser wurde, schwächer die Windstöße über den Geröllhalden und Felsabstürzen und eine emporrauchende Nebelwand auch das Getöse der Großbaustelle Limberg zu einem fremden Dröhnen dämpfte, dann hörte man diesen Gesang. Es war das Todesgeschrei der Ratten . . ." Die Redakteure des Merian-Hefts hatten eine Reportage über Kaprun, über den Bau des riesenhaften Wasserkraftwerks in den Salzburger Alpen, in Auftrag gegeben. Sie bekamen sie. Doch dazu ein Stück Prosa, das den Vergleich mit großen Vorbildern herausfordert.
Die Eingangsszene, in der sich Hunderte von Ratten, vom einflutenden Wasser aus den Ruinen eines Arbeitslagers vertrieben, auf einen Feldkegel zurückziehen und dort zugrunde gehen, erinnert an jene Passage aus dem "Chandos-Brief", in der von den vergifteten Ratten die Rede ist. Hofmannsthal vergleicht den "Todeskampf dieses Volks von Ratten" mit der Zerstörung von Alba Longa, mit dem brennenden Karthago und eine Rattenmutter gar mit der erstarrenden Niobe. Ransmayr verläßt sich auf die Kraft des bloßen Bildes. Man begreift aber, welcher Tradition sich gewisse Szenen in der "Letzten Welt" verdanken. Ovids Rede über die Pest von Aegina etwa beschwört die Ameisenvölker, die nach dem Verstummen des letzten Menschen die Herrschaft übernehmen.
In Reportagen darf der Apokalyptiker die Welt nicht unter Feuer oder Wasser setzen, aber er führt uns wenigstens auf eine Hallig, die immer noch von Überflutung und Unterspülung bedroht ist. Und er referiert offenbar zustimmend, daß die Bewohner die Einführung von elektrischem Licht und frischem Wasser für einen Fortschritt halten. Der "Katastrophile" ist eben doch auch ein Menschenfreund. Vielleicht gar ein Aufklärer.
Er verzichtet auf These und Plakatierung und liebt das Arrangement von Schilderung und Erzählung, den liebevoll genauen, den unerbittlich ruhigen Bericht. Ein Meisterstück dieser langsamen Aufdeckung der Verhältnisse ist "Die vergorene Heimat", eine Reportage über das sogenannte Mostviertel. Dieses "Stück Österreich" - so der Untertitel - erweist sich als ein Stück von jenem Österreich, dem Thomas Bernhards furiose Invektiven galten. Nur daß Ransmayr auf die Figuren und Geschichten vertraut. Auf den Bäckermeister mit seinen achttausendsechshundert Dias, deren von Musik untermalte Betrachtung ihn vor dem "Geschepper der Gegenwart" schützt. Auf den Korbflechter Wenger, dem im Zweiten Weltkrieg das Trommelfell platzte und der sein Hörgerät freiwillig leiser stellt, weil der "Weltlärm" ihm manchmal unerträglich wird. Oder auf die Wolfsbacherin, die noch den schrecklichen Geruch in der Nase hat, "der bei Wind aus Nordwest nicht anders ins Land geweht kam als jetzt der Gestank der Chemiewerke aus Linz". Sie alle könnten Figuren aus Ransmayrs Romanen sein.
Manches - sei es nun Report oder Fiktion - gerät Ransmayr freilich zur überdeutlichen Allegorie. So die Kapruner Staumauer, hinter der das Vergangene für immer untergegangen scheint. Oder das Gemälde, das den Ort Waidhofen im Fahnenschmuck des "Anschlusses" zeigt und auf dem nur die Hakenkreuze übermalt wurden - freilich mit der Folge, daß diese trotz kräftigen Auftrags der Nationalfarben im Lauf der Zeit immer wieder durchschlugen.
Ransmayrs Österreichkritik scheint von einer rückwärtsgewandten Utopie bestimmt zu sein. Daher sein Interesse für die Sammler, die den "Schwund der Welt" aufhalten wollen. Und vielleicht geriert sich der Autor bloß als die aufgeklärte Variante dieser Figuren, als Kakanier post festum? Ransmayr haßt ja nicht eigentlich das Österreichische, sondern das Deutsche darin, die falsche politische Tendenz. Er zitiert Joseph Roth: "Nicht unsere Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Ruthenen haben verraten, sondern unsere Deutschen, das Staatsvolk." Nicht umsonst setzt er derlei als Motto über eine Reportage, die so satirisch wie einfühlsam die Pilgerfahrt von Habsburgtreuen zur Kaiserin Zita im Schweizer Exil beschreibt. Ransmayr trägt die ironisch gemeinte Rollenmaske des Untertanen, doch er trägt sie mit sichtlichem Genuß. Ironie und Nostalgie schließen ja einander nicht aus.
Ohnehin macht sich der Autor der Berichte und Reportagen eher klein, als sympathisiere er mit jenem jungen Mann, dem es beifiel, sich als Totengräber von Hallstatt zu verdingen und die fürs Beinhaus bestimmten Schädel mit den tradierten Ornamenten zu bemalen. Auch der Autor der drei beigegebenen Dankreden gibt sich ohne Ostentation bescheiden.
Am schönsten seine Münchner Preisrede, die dem Buch den Titel gab. Dieses Protokoll einer Lastwagenfahrt schildert, wie der Autor den Reisenden auf einem vorausfahrenden Lkw aus einer indonesischen Zeitung den Bericht über ein Fußballspiel vorliest: "Ich las also Satz für Satz, Worte, die ich nicht verstand." Aber die Zuhörer verstanden und dankten, und während eines Überholmanövers übergab der Vorleser einem von ihnen, dem letzten - "im letzten Augenblick und wie einem schon zurückfallenden Staffelläufer" - die Zeitung.
Gute Zeitung! möchte man sagen; da ein Schriftsteller, dessen Romane für das postmoderne Verschwinden des Autors reklamiert werden, uns diese tröstliche Geschichte erzählt.
Christoph Ransmayr: "Der Weg nach Surabaya". Reportagen und kleine Prosa. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., geb., 36,- DM.
"Die Erfindung der Welt". Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hrsg. von Uwe Wittstock. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Ransmayrs Rattengesänge und andere Reportagen · Von Harald Hartung
Die letzte Welt und der letzte Mensch - das ist das große Doppelthema, dem der Erzähler Christoph Ransmayr zwei denkwürdige Paraphrasen abgewann: seine Ovid-Recherche "Die letzte Welt" (1988) und den Roman "Morbus Kitahara" (1995). In beiden Büchern schreibt der Dichter sich in Endzeiten hinein. Das Zurück in eine kollabierende Antike wird überboten durch das durch eine Art Morgenthau-Plan bewirkte "Zurück in die Steinzeit". "Die letzte Welt" erregte große, auch internationale Resonanz. "Morbus Kitahara", weniger euphorisch aufgenommen, hielt zumindest Ruf und Namen dieses epischen Apokalyptikers im Bewußtsein.
Von diesem Autor, der bedachtsam und überaus skrupulös arbeitet, ist nicht gleich wieder ein neuer Roman zu erwarten. Sein Verlag hat seine eigenen Sorgen. Er tut etwas für seinen Autor und präsentiert uns zwei neue Bücher. Zunächst ein Materialienbuch, das nicht bloß Nachdrucke bringt, sondern auch interessante Originalarbeiten, dazu Interviews und Preisreden. Aus einem klugen Essay habe ich mir die Vokabel "katastrophil" gemerkt. Und in einem der Interviews bekennt Ransmayr unverblümt, er sehe keinen Unterschied zwischen dem journalistischen und dem literarischen Schreiben: "Das Erzählen ist untrennbar und unteilbar."
Das führt direkt zum zweiten Buch. Es heißt "Der Weg nach Surabaya" und ist weniger exotisch, als sein Titel vermuten läßt. Es eine Nachlese zu nennen mag lieblos klingen, trifft aber die Sache. Es liefert nämlich - in genauer Auswahl - Ransmayrs Gesellenstücke und präsentiert einen Autor, der in der ersten Hälfte der achtziger Jahre jene Organe mit Auftragsarbeiten belieferte, in denen er auch gewisse Motive seiner Romane ausprobieren konnte. Wir dürfen annehmen, daß auch der Reporter Ransmayr von der Unteilbarkeit des Erzählens Gebrauch macht.
Wochenlang, so bekundet er, habe er über dem Anfang einer Reportage gesessen - die dann folgendermaßen beginnt: "Es war ein dünner, panischer Gesang. Wenn das Gebirge leiser wurde, schwächer die Windstöße über den Geröllhalden und Felsabstürzen und eine emporrauchende Nebelwand auch das Getöse der Großbaustelle Limberg zu einem fremden Dröhnen dämpfte, dann hörte man diesen Gesang. Es war das Todesgeschrei der Ratten . . ." Die Redakteure des Merian-Hefts hatten eine Reportage über Kaprun, über den Bau des riesenhaften Wasserkraftwerks in den Salzburger Alpen, in Auftrag gegeben. Sie bekamen sie. Doch dazu ein Stück Prosa, das den Vergleich mit großen Vorbildern herausfordert.
Die Eingangsszene, in der sich Hunderte von Ratten, vom einflutenden Wasser aus den Ruinen eines Arbeitslagers vertrieben, auf einen Feldkegel zurückziehen und dort zugrunde gehen, erinnert an jene Passage aus dem "Chandos-Brief", in der von den vergifteten Ratten die Rede ist. Hofmannsthal vergleicht den "Todeskampf dieses Volks von Ratten" mit der Zerstörung von Alba Longa, mit dem brennenden Karthago und eine Rattenmutter gar mit der erstarrenden Niobe. Ransmayr verläßt sich auf die Kraft des bloßen Bildes. Man begreift aber, welcher Tradition sich gewisse Szenen in der "Letzten Welt" verdanken. Ovids Rede über die Pest von Aegina etwa beschwört die Ameisenvölker, die nach dem Verstummen des letzten Menschen die Herrschaft übernehmen.
In Reportagen darf der Apokalyptiker die Welt nicht unter Feuer oder Wasser setzen, aber er führt uns wenigstens auf eine Hallig, die immer noch von Überflutung und Unterspülung bedroht ist. Und er referiert offenbar zustimmend, daß die Bewohner die Einführung von elektrischem Licht und frischem Wasser für einen Fortschritt halten. Der "Katastrophile" ist eben doch auch ein Menschenfreund. Vielleicht gar ein Aufklärer.
Er verzichtet auf These und Plakatierung und liebt das Arrangement von Schilderung und Erzählung, den liebevoll genauen, den unerbittlich ruhigen Bericht. Ein Meisterstück dieser langsamen Aufdeckung der Verhältnisse ist "Die vergorene Heimat", eine Reportage über das sogenannte Mostviertel. Dieses "Stück Österreich" - so der Untertitel - erweist sich als ein Stück von jenem Österreich, dem Thomas Bernhards furiose Invektiven galten. Nur daß Ransmayr auf die Figuren und Geschichten vertraut. Auf den Bäckermeister mit seinen achttausendsechshundert Dias, deren von Musik untermalte Betrachtung ihn vor dem "Geschepper der Gegenwart" schützt. Auf den Korbflechter Wenger, dem im Zweiten Weltkrieg das Trommelfell platzte und der sein Hörgerät freiwillig leiser stellt, weil der "Weltlärm" ihm manchmal unerträglich wird. Oder auf die Wolfsbacherin, die noch den schrecklichen Geruch in der Nase hat, "der bei Wind aus Nordwest nicht anders ins Land geweht kam als jetzt der Gestank der Chemiewerke aus Linz". Sie alle könnten Figuren aus Ransmayrs Romanen sein.
Manches - sei es nun Report oder Fiktion - gerät Ransmayr freilich zur überdeutlichen Allegorie. So die Kapruner Staumauer, hinter der das Vergangene für immer untergegangen scheint. Oder das Gemälde, das den Ort Waidhofen im Fahnenschmuck des "Anschlusses" zeigt und auf dem nur die Hakenkreuze übermalt wurden - freilich mit der Folge, daß diese trotz kräftigen Auftrags der Nationalfarben im Lauf der Zeit immer wieder durchschlugen.
Ransmayrs Österreichkritik scheint von einer rückwärtsgewandten Utopie bestimmt zu sein. Daher sein Interesse für die Sammler, die den "Schwund der Welt" aufhalten wollen. Und vielleicht geriert sich der Autor bloß als die aufgeklärte Variante dieser Figuren, als Kakanier post festum? Ransmayr haßt ja nicht eigentlich das Österreichische, sondern das Deutsche darin, die falsche politische Tendenz. Er zitiert Joseph Roth: "Nicht unsere Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Ruthenen haben verraten, sondern unsere Deutschen, das Staatsvolk." Nicht umsonst setzt er derlei als Motto über eine Reportage, die so satirisch wie einfühlsam die Pilgerfahrt von Habsburgtreuen zur Kaiserin Zita im Schweizer Exil beschreibt. Ransmayr trägt die ironisch gemeinte Rollenmaske des Untertanen, doch er trägt sie mit sichtlichem Genuß. Ironie und Nostalgie schließen ja einander nicht aus.
Ohnehin macht sich der Autor der Berichte und Reportagen eher klein, als sympathisiere er mit jenem jungen Mann, dem es beifiel, sich als Totengräber von Hallstatt zu verdingen und die fürs Beinhaus bestimmten Schädel mit den tradierten Ornamenten zu bemalen. Auch der Autor der drei beigegebenen Dankreden gibt sich ohne Ostentation bescheiden.
Am schönsten seine Münchner Preisrede, die dem Buch den Titel gab. Dieses Protokoll einer Lastwagenfahrt schildert, wie der Autor den Reisenden auf einem vorausfahrenden Lkw aus einer indonesischen Zeitung den Bericht über ein Fußballspiel vorliest: "Ich las also Satz für Satz, Worte, die ich nicht verstand." Aber die Zuhörer verstanden und dankten, und während eines Überholmanövers übergab der Vorleser einem von ihnen, dem letzten - "im letzten Augenblick und wie einem schon zurückfallenden Staffelläufer" - die Zeitung.
Gute Zeitung! möchte man sagen; da ein Schriftsteller, dessen Romane für das postmoderne Verschwinden des Autors reklamiert werden, uns diese tröstliche Geschichte erzählt.
Christoph Ransmayr: "Der Weg nach Surabaya". Reportagen und kleine Prosa. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., geb., 36,- DM.
"Die Erfindung der Welt". Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hrsg. von Uwe Wittstock. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die vergorene Heimat
Christoph Ransmayrs Rattengesänge und andere Reportagen · Von Harald Hartung
Die letzte Welt und der letzte Mensch - das ist das große Doppelthema, dem der Erzähler Christoph Ransmayr zwei denkwürdige Paraphrasen abgewann: seine Ovid-Recherche "Die letzte Welt" (1988) und den Roman "Morbus Kitahara" (1995). In beiden Büchern schreibt der Dichter sich in Endzeiten hinein. Das Zurück in eine kollabierende Antike wird überboten durch das durch eine Art Morgenthau-Plan bewirkte "Zurück in die Steinzeit". "Die letzte Welt" erregte große, auch internationale Resonanz. "Morbus Kitahara", weniger euphorisch aufgenommen, hielt zumindest Ruf und Namen dieses epischen Apokalyptikers im Bewußtsein.
Von diesem Autor, der bedachtsam und überaus skrupulös arbeitet, ist nicht gleich wieder ein neuer Roman zu erwarten. Sein Verlag hat seine eigenen Sorgen. Er tut etwas für seinen Autor und präsentiert uns zwei neue Bücher. Zunächst ein Materialienbuch, das nicht bloß Nachdrucke bringt, sondern auch interessante Originalarbeiten, dazu Interviews und Preisreden. Aus einem klugen Essay habe ich mir die Vokabel "katastrophil" gemerkt. Und in einem der Interviews bekennt Ransmayr unverblümt, er sehe keinen Unterschied zwischen dem journalistischen und dem literarischen Schreiben: "Das Erzählen ist untrennbar und unteilbar."
Das führt direkt zum zweiten Buch. Es heißt "Der Weg nach Surabaya" und ist weniger exotisch, als sein Titel vermuten läßt. Es eine Nachlese zu nennen mag lieblos klingen, trifft aber die Sache. Es liefert nämlich - in genauer Auswahl - Ransmayrs Gesellenstücke und präsentiert einen Autor, der in der ersten Hälfte der achtziger Jahre jene Organe mit Auftragsarbeiten belieferte, in denen er auch gewisse Motive seiner Romane ausprobieren konnte. Wir dürfen annehmen, daß auch der Reporter Ransmayr von der Unteilbarkeit des Erzählens Gebrauch macht.
Wochenlang, so bekundet er, habe er über dem Anfang einer Reportage gesessen - die dann folgendermaßen beginnt: "Es war ein dünner, panischer Gesang. Wenn das Gebirge leiser wurde, schwächer die Windstöße über den Geröllhalden und Felsabstürzen und eine emporrauchende Nebelwand auch das Getöse der Großbaustelle Limberg zu einem fremden Dröhnen dämpfte, dann hörte man diesen Gesang. Es war das Todesgeschrei der Ratten . . ." Die Redakteure des Merian-Hefts hatten eine Reportage über Kaprun, über den Bau des riesenhaften Wasserkraftwerks in den Salzburger Alpen, in Auftrag gegeben. Sie bekamen sie. Doch dazu ein Stück Prosa, das den Vergleich mit großen Vorbildern herausfordert.
Die Eingangsszene, in der sich Hunderte von Ratten, vom einflutenden Wasser aus den Ruinen eines Arbeitslagers vertrieben, auf einen Feldkegel zurückziehen und dort zugrunde gehen, erinnert an jene Passage aus dem "Chandos-Brief", in der von den vergifteten Ratten die Rede ist. Hofmannsthal vergleicht den "Todeskampf dieses Volks von Ratten" mit der Zerstörung von Alba Longa, mit dem brennenden Karthago und eine Rattenmutter gar mit der erstarrenden Niobe. Ransmayr verläßt sich auf die Kraft des bloßen Bildes. Man begreift aber, welcher Tradition sich gewisse Szenen in der "Letzten Welt" verdanken. Ovids Rede über die Pest von Aegina etwa beschwört die Ameisenvölker, die nach dem Verstummen des letzten Menschen die Herrschaft übernehmen.
In Reportagen darf der Apokalyptiker die Welt nicht unter Feuer oder Wasser setzen, aber er führt uns wenigstens auf eine Hallig, die immer noch von Überflutung und Unterspülung bedroht ist. Und er referiert offenbar zustimmend, daß die Bewohner die Einführung von elektrischem Licht und frischem Wasser für einen Fortschritt halten. Der "Katastrophile" ist eben doch auch ein Menschenfreund. Vielleicht gar ein Aufklärer.
Er verzichtet auf These und Plakatierung und liebt das Arrangement von Schilderung und Erzählung, den liebevoll genauen, den unerbittlich ruhigen Bericht. Ein Meisterstück dieser langsamen Aufdeckung der Verhältnisse ist "Die vergorene Heimat", eine Reportage über das sogenannte Mostviertel. Dieses "Stück Österreich" - so der Untertitel - erweist sich als ein Stück von jenem Österreich, dem Thomas Bernhards furiose Invektiven galten. Nur daß Ransmayr auf die Figuren und Geschichten vertraut. Auf den Bäckermeister mit seinen achttausendsechshundert Dias, deren von Musik untermalte Betrachtung ihn vor dem "Geschepper der Gegenwart" schützt. Auf den Korbflechter Wenger, dem im Zweiten Weltkrieg das Trommelfell platzte und der sein Hörgerät freiwillig leiser stellt, weil der "Weltlärm" ihm manchmal unerträglich wird. Oder auf die Wolfsbacherin, die noch den schrecklichen Geruch in der Nase hat, "der bei Wind aus Nordwest nicht anders ins Land geweht kam als jetzt der Gestank der Chemiewerke aus Linz". Sie alle könnten Figuren aus Ransmayrs Romanen sein.
Manches - sei es nun Report oder Fiktion - gerät Ransmayr freilich zur überdeutlichen Allegorie. So die Kapruner Staumauer, hinter der das Vergangene für immer untergegangen scheint. Oder das Gemälde, das den Ort Waidhofen im Fahnenschmuck des "Anschlusses" zeigt und auf dem nur die Hakenkreuze übermalt wurden - freilich mit der Folge, daß diese trotz kräftigen Auftrags der Nationalfarben im Lauf der Zeit immer wieder durchschlugen.
Ransmayrs Österreichkritik scheint von einer rückwärtsgewandten Utopie bestimmt zu sein. Daher sein Interesse für die Sammler, die den "Schwund der Welt" aufhalten wollen. Und vielleicht geriert sich der Autor bloß als die aufgeklärte Variante dieser Figuren, als Kakanier post festum? Ransmayr haßt ja nicht eigentlich das Österreichische, sondern das Deutsche darin, die falsche politische Tendenz. Er zitiert Joseph Roth: "Nicht unsere Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Ruthenen haben verraten, sondern unsere Deutschen, das Staatsvolk." Nicht umsonst setzt er derlei als Motto über eine Reportage, die so satirisch wie einfühlsam die Pilgerfahrt von Habsburgtreuen zur Kaiserin Zita im Schweizer Exil beschreibt. Ransmayr trägt die ironisch gemeinte Rollenmaske des Untertanen, doch er trägt sie mit sichtlichem Genuß. Ironie und Nostalgie schließen ja einander nicht aus.
Ohnehin macht sich der Autor der Berichte und Reportagen eher klein, als sympathisiere er mit jenem jungen Mann, dem es beifiel, sich als Totengräber von Hallstatt zu verdingen und die fürs Beinhaus bestimmten Schädel mit den tradierten Ornamenten zu bemalen. Auch der Autor der drei beigegebenen Dankreden gibt sich ohne Ostentation bescheiden.
Am schönsten seine Münchner Preisrede, die dem Buch den Titel gab. Dieses Protokoll einer Lastwagenfahrt schildert, wie der Autor den Reisenden auf einem vorausfahrenden Lkw aus einer indonesischen Zeitung den Bericht über ein Fußballspiel vorliest: "Ich las also Satz für Satz, Worte, die ich nicht verstand." Aber die Zuhörer verstanden und dankten, und während eines Überholmanövers übergab der Vorleser einem von ihnen, dem letzten - "im letzten Augenblick und wie einem schon zurückfallenden Staffelläufer" - die Zeitung.
Gute Zeitung! möchte man sagen; da ein Schriftsteller, dessen Romane für das postmoderne Verschwinden des Autors reklamiert werden, uns diese tröstliche Geschichte erzählt.
Christoph Ransmayr: "Der Weg nach Surabaya". Reportagen und kleine Prosa. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., geb., 36,- DM.
"Die Erfindung der Welt". Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hrsg. von Uwe Wittstock. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Ransmayrs Rattengesänge und andere Reportagen · Von Harald Hartung
Die letzte Welt und der letzte Mensch - das ist das große Doppelthema, dem der Erzähler Christoph Ransmayr zwei denkwürdige Paraphrasen abgewann: seine Ovid-Recherche "Die letzte Welt" (1988) und den Roman "Morbus Kitahara" (1995). In beiden Büchern schreibt der Dichter sich in Endzeiten hinein. Das Zurück in eine kollabierende Antike wird überboten durch das durch eine Art Morgenthau-Plan bewirkte "Zurück in die Steinzeit". "Die letzte Welt" erregte große, auch internationale Resonanz. "Morbus Kitahara", weniger euphorisch aufgenommen, hielt zumindest Ruf und Namen dieses epischen Apokalyptikers im Bewußtsein.
Von diesem Autor, der bedachtsam und überaus skrupulös arbeitet, ist nicht gleich wieder ein neuer Roman zu erwarten. Sein Verlag hat seine eigenen Sorgen. Er tut etwas für seinen Autor und präsentiert uns zwei neue Bücher. Zunächst ein Materialienbuch, das nicht bloß Nachdrucke bringt, sondern auch interessante Originalarbeiten, dazu Interviews und Preisreden. Aus einem klugen Essay habe ich mir die Vokabel "katastrophil" gemerkt. Und in einem der Interviews bekennt Ransmayr unverblümt, er sehe keinen Unterschied zwischen dem journalistischen und dem literarischen Schreiben: "Das Erzählen ist untrennbar und unteilbar."
Das führt direkt zum zweiten Buch. Es heißt "Der Weg nach Surabaya" und ist weniger exotisch, als sein Titel vermuten läßt. Es eine Nachlese zu nennen mag lieblos klingen, trifft aber die Sache. Es liefert nämlich - in genauer Auswahl - Ransmayrs Gesellenstücke und präsentiert einen Autor, der in der ersten Hälfte der achtziger Jahre jene Organe mit Auftragsarbeiten belieferte, in denen er auch gewisse Motive seiner Romane ausprobieren konnte. Wir dürfen annehmen, daß auch der Reporter Ransmayr von der Unteilbarkeit des Erzählens Gebrauch macht.
Wochenlang, so bekundet er, habe er über dem Anfang einer Reportage gesessen - die dann folgendermaßen beginnt: "Es war ein dünner, panischer Gesang. Wenn das Gebirge leiser wurde, schwächer die Windstöße über den Geröllhalden und Felsabstürzen und eine emporrauchende Nebelwand auch das Getöse der Großbaustelle Limberg zu einem fremden Dröhnen dämpfte, dann hörte man diesen Gesang. Es war das Todesgeschrei der Ratten . . ." Die Redakteure des Merian-Hefts hatten eine Reportage über Kaprun, über den Bau des riesenhaften Wasserkraftwerks in den Salzburger Alpen, in Auftrag gegeben. Sie bekamen sie. Doch dazu ein Stück Prosa, das den Vergleich mit großen Vorbildern herausfordert.
Die Eingangsszene, in der sich Hunderte von Ratten, vom einflutenden Wasser aus den Ruinen eines Arbeitslagers vertrieben, auf einen Feldkegel zurückziehen und dort zugrunde gehen, erinnert an jene Passage aus dem "Chandos-Brief", in der von den vergifteten Ratten die Rede ist. Hofmannsthal vergleicht den "Todeskampf dieses Volks von Ratten" mit der Zerstörung von Alba Longa, mit dem brennenden Karthago und eine Rattenmutter gar mit der erstarrenden Niobe. Ransmayr verläßt sich auf die Kraft des bloßen Bildes. Man begreift aber, welcher Tradition sich gewisse Szenen in der "Letzten Welt" verdanken. Ovids Rede über die Pest von Aegina etwa beschwört die Ameisenvölker, die nach dem Verstummen des letzten Menschen die Herrschaft übernehmen.
In Reportagen darf der Apokalyptiker die Welt nicht unter Feuer oder Wasser setzen, aber er führt uns wenigstens auf eine Hallig, die immer noch von Überflutung und Unterspülung bedroht ist. Und er referiert offenbar zustimmend, daß die Bewohner die Einführung von elektrischem Licht und frischem Wasser für einen Fortschritt halten. Der "Katastrophile" ist eben doch auch ein Menschenfreund. Vielleicht gar ein Aufklärer.
Er verzichtet auf These und Plakatierung und liebt das Arrangement von Schilderung und Erzählung, den liebevoll genauen, den unerbittlich ruhigen Bericht. Ein Meisterstück dieser langsamen Aufdeckung der Verhältnisse ist "Die vergorene Heimat", eine Reportage über das sogenannte Mostviertel. Dieses "Stück Österreich" - so der Untertitel - erweist sich als ein Stück von jenem Österreich, dem Thomas Bernhards furiose Invektiven galten. Nur daß Ransmayr auf die Figuren und Geschichten vertraut. Auf den Bäckermeister mit seinen achttausendsechshundert Dias, deren von Musik untermalte Betrachtung ihn vor dem "Geschepper der Gegenwart" schützt. Auf den Korbflechter Wenger, dem im Zweiten Weltkrieg das Trommelfell platzte und der sein Hörgerät freiwillig leiser stellt, weil der "Weltlärm" ihm manchmal unerträglich wird. Oder auf die Wolfsbacherin, die noch den schrecklichen Geruch in der Nase hat, "der bei Wind aus Nordwest nicht anders ins Land geweht kam als jetzt der Gestank der Chemiewerke aus Linz". Sie alle könnten Figuren aus Ransmayrs Romanen sein.
Manches - sei es nun Report oder Fiktion - gerät Ransmayr freilich zur überdeutlichen Allegorie. So die Kapruner Staumauer, hinter der das Vergangene für immer untergegangen scheint. Oder das Gemälde, das den Ort Waidhofen im Fahnenschmuck des "Anschlusses" zeigt und auf dem nur die Hakenkreuze übermalt wurden - freilich mit der Folge, daß diese trotz kräftigen Auftrags der Nationalfarben im Lauf der Zeit immer wieder durchschlugen.
Ransmayrs Österreichkritik scheint von einer rückwärtsgewandten Utopie bestimmt zu sein. Daher sein Interesse für die Sammler, die den "Schwund der Welt" aufhalten wollen. Und vielleicht geriert sich der Autor bloß als die aufgeklärte Variante dieser Figuren, als Kakanier post festum? Ransmayr haßt ja nicht eigentlich das Österreichische, sondern das Deutsche darin, die falsche politische Tendenz. Er zitiert Joseph Roth: "Nicht unsere Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Ruthenen haben verraten, sondern unsere Deutschen, das Staatsvolk." Nicht umsonst setzt er derlei als Motto über eine Reportage, die so satirisch wie einfühlsam die Pilgerfahrt von Habsburgtreuen zur Kaiserin Zita im Schweizer Exil beschreibt. Ransmayr trägt die ironisch gemeinte Rollenmaske des Untertanen, doch er trägt sie mit sichtlichem Genuß. Ironie und Nostalgie schließen ja einander nicht aus.
Ohnehin macht sich der Autor der Berichte und Reportagen eher klein, als sympathisiere er mit jenem jungen Mann, dem es beifiel, sich als Totengräber von Hallstatt zu verdingen und die fürs Beinhaus bestimmten Schädel mit den tradierten Ornamenten zu bemalen. Auch der Autor der drei beigegebenen Dankreden gibt sich ohne Ostentation bescheiden.
Am schönsten seine Münchner Preisrede, die dem Buch den Titel gab. Dieses Protokoll einer Lastwagenfahrt schildert, wie der Autor den Reisenden auf einem vorausfahrenden Lkw aus einer indonesischen Zeitung den Bericht über ein Fußballspiel vorliest: "Ich las also Satz für Satz, Worte, die ich nicht verstand." Aber die Zuhörer verstanden und dankten, und während eines Überholmanövers übergab der Vorleser einem von ihnen, dem letzten - "im letzten Augenblick und wie einem schon zurückfallenden Staffelläufer" - die Zeitung.
Gute Zeitung! möchte man sagen; da ein Schriftsteller, dessen Romane für das postmoderne Verschwinden des Autors reklamiert werden, uns diese tröstliche Geschichte erzählt.
Christoph Ransmayr: "Der Weg nach Surabaya". Reportagen und kleine Prosa. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., geb., 36,- DM.
"Die Erfindung der Welt". Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hrsg. von Uwe Wittstock. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 238 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main