Unrecht im Mantel des Gesetzes - die 'Radbruchsche Formel' aus dem Jahre 1946 hat die nach dem Krieg intensiv geführte Auseinandersetzung mit nationalsozialistischem Unrecht geprägt. Bislang weitgehend unbeachtet blieb, dass andere Juristen bereits vor Gustav Radbruch ähnliche Gedanken schon während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor Studenten und in Veröffentlichungen geäußert haben. Im Fokus der Untersuchung stehen hierbei Heinrich Rommen, Wilhelm Sauer, Walther Schönfeld und Erik Wolf. Rommen war tief im katholischen Glauben verwurzelt und kritisierte bereits 1936 in seinem Buch 'Die ewige Wiederkehr des Naturrechts' das nationalsozialistische System. Sauer vertrat die Auffassung, daß auch Führerbefehle 'unrichtiges Recht' sein können. Der Nachlass des Tübinger Professors und späteren evangelischen Pastors Schönfeld konnte für diese Arbeit erstmals ausgewertet werden. Das Wirken Schönfelds erscheint hiernach in einem neuen Licht.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungWährend des Sündenfalls
Radbruch gestand den Irrtum des Rechtspositivismus öffentlich ein
Wer sich auf die Suche begibt nach einem übergesetzlichen Recht, der gelangt - getrieben von der Annahme, auf Erden sei das nicht zu haben - am Ende unausweichlich zu einem Gottesrecht. So auch Gustav Radbruch. Er freilich erst unter den Einwirkungen der Greuel des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Vorher war Radbruch ein entschiedener, lupenreiner sogenannter Rechtspositivist, der den Satz hochhielt: "Gesetz ist Gesetz." Daran ist an sich noch nichts Schlimmes. Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose. Was sonst! Doch das Elend beginnt mit dem rechtstheoretischen Sündenfall. Der liegt immer schon dann vor, wenn einer aus dem unschuldigen tautologischen Gesetzessatz einen Rechtssatz macht. Der da lautet: Gesetz ist gleich Recht. Wer eine solche Gleichung aufstellt - auch Radbruch hat es getan -, müßte wissen, was daraus werden kann: Allzu leicht das Einfalltor für mannigfaches Unrecht. Die Nationalsozialisten führten es absichtlich herbei. Man denke allein an die Nürnberger Rassen- und andere Schandgesetze. Gesetz = Recht? So rieben sich nicht wenige eines Tages erschrocken die Augen, als sie sahen, was der Rechtspositivismus ermöglicht hatte. Zu ihnen zählte Radbruch. Aber er brachte, wie kaum einer sonst, auch den Mut auf, seinen Irrtum öffentlich einzugestehen. Mit bewegten, bewegenden Worten mahnte er zur Einsicht und forderte zur Umkehr auf. Zur Besinnung auf ein Gottesrecht.
Die Sache hat nur einen Haken. Denn naturgemäß kennt keiner den Inhalt dieses Naturrechts. Deshalb wird darüber gestritten. Die überkommene, die alteuropäische Rechtsphilosophie lebt nachgerade von diesem Streit - sowie natürlich davon, ob es ein derartiges Metarecht überhaupt gibt. Zu beenden wären diese Streitigkeiten wohl nur, könnten wir Gott fragen. Am besten ihn bitten, die Essenz seines Rechts zu formulieren. Wollte er uns helfen, er könnte seinerseits nichts Besseres tun, als zu postulieren: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." So freilich steht es bekanntlich bereits in Artikel 1 des Grundgesetzes. Nicht erst gemessen an diesem Satz, erweist sich jedes sogenannte gesetzliche Unrecht als das, was es ohnehin ist: ein Nichtrecht. Ein Gesetz für sich allein nämlich "ist" niemals Recht. Auch kein Unrecht. Beides muß erst eigens geschaffen werden. Ein Gesetz allein schafft das nicht. Das können nur Richter. Diese Ansicht fängt allerdings erst allmählich an, sich Bahn zu brechen.
Im Jahr 1946 waren wir noch nicht soweit, das Grundgesetz noch nicht geboren. Da schlug - zu Recht - die Stunde Radbruchs. Und seiner nach ihm benannten Formel. Mit der er auf seine Weise das - aus heutiger Sicht freilich nur vermeintliche - Problem gesetzlichen Unrechts lösen wollte.
Indessen: Auch gegen Radbruchs vielgerühmte Lösung, die der Autor in den Mittelpunkt seine Arbeit stellt, sind Zweifel angebracht. Zunächst soll das angebliche Gesetzesunrecht der Gerechtigkeit keineswegs in allen Fällen weichen. Es behält vielmehr den "Vorrang . . ., es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht", daß es eben deshalb seine Geltung verliert. Naturgemäß - doch diese Schwäche teilt das Naturrecht mit anderen Generalklauseln der positiven Gesetze - hindert ihre schier grenzenlose Unbestimmtheit eine umstandslose Anwendung der Formel. Harte Arbeit ist hier gefragt. Rechtsarbeit. Die haben die Richter zu leisten. Wer sonst! Daß sie es können, haben sie gezeigt - eindrucksvoll nicht zuletzt in den sogenannten Mauerschützenprozessen, wo es darum ging, herauszuarbeiten, daß die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze unter Umständen sogar schwerstes Unrecht waren. Trotz eines entgegenstehenden ehemaligen DDR-Gesetzes. Andere, ohnehin meist nur scheinbare Schwierigkeiten bleiben hier außer Betracht. Doch darf der Hinweis nicht fehlen, daß die Radbruchsche Formel es allein nicht getan hätte. Es bedurfte ihrer "völkerrechtlichen Aufladung".
Die Idee dieser Formel hat natürlich eine Vorgeschichte. Der berühmteste "Vordenker" Radbruchs war wohl Thomas von Aquin. Doch bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein sind außer Radbruch Gelehrte bekannt, "die letzten Endes nicht blind dem Unrecht der Diktatur gedient haben oder ihm gefolgt sind". Der Autor nennt sie und widmet ihnen kleinere Beiträge: Heinrich Rommen, Wilhelm Sauer, Erik Wolf und Walther Schönfeld. Sie zählen für ihn zu denen, "die den Glauben an höhere Werte nicht verloren hatten". Und die "letztlich Gott mehr gehorchten als den Menschen".
Das mag man so sehen. Primär aus der Sicht unmittelbar nach 1945. Heute macht das Grundgesetz überdeutlich, daß ein Richter - unabhängig von seinem persönlichen Glauben oder Unglauben - richtiges Recht sprechen kann und muß. Für Gläubige, Ungläubige und Nichtgläubige. Ein richtiges Recht für alle, in einem säkularisierten Staat.
WALTER GRASNICK
Christoph M. Scheuren-Brandes: Der Weg von nationalsozialistischen Rechtslehren zur Radbruchschen Formel. Untersuchungen zur Geschichte der Idee vom "Unrichtigen Recht". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 139 S., 22,90 [Euro].
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Radbruch gestand den Irrtum des Rechtspositivismus öffentlich ein
Wer sich auf die Suche begibt nach einem übergesetzlichen Recht, der gelangt - getrieben von der Annahme, auf Erden sei das nicht zu haben - am Ende unausweichlich zu einem Gottesrecht. So auch Gustav Radbruch. Er freilich erst unter den Einwirkungen der Greuel des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Vorher war Radbruch ein entschiedener, lupenreiner sogenannter Rechtspositivist, der den Satz hochhielt: "Gesetz ist Gesetz." Daran ist an sich noch nichts Schlimmes. Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose. Was sonst! Doch das Elend beginnt mit dem rechtstheoretischen Sündenfall. Der liegt immer schon dann vor, wenn einer aus dem unschuldigen tautologischen Gesetzessatz einen Rechtssatz macht. Der da lautet: Gesetz ist gleich Recht. Wer eine solche Gleichung aufstellt - auch Radbruch hat es getan -, müßte wissen, was daraus werden kann: Allzu leicht das Einfalltor für mannigfaches Unrecht. Die Nationalsozialisten führten es absichtlich herbei. Man denke allein an die Nürnberger Rassen- und andere Schandgesetze. Gesetz = Recht? So rieben sich nicht wenige eines Tages erschrocken die Augen, als sie sahen, was der Rechtspositivismus ermöglicht hatte. Zu ihnen zählte Radbruch. Aber er brachte, wie kaum einer sonst, auch den Mut auf, seinen Irrtum öffentlich einzugestehen. Mit bewegten, bewegenden Worten mahnte er zur Einsicht und forderte zur Umkehr auf. Zur Besinnung auf ein Gottesrecht.
Die Sache hat nur einen Haken. Denn naturgemäß kennt keiner den Inhalt dieses Naturrechts. Deshalb wird darüber gestritten. Die überkommene, die alteuropäische Rechtsphilosophie lebt nachgerade von diesem Streit - sowie natürlich davon, ob es ein derartiges Metarecht überhaupt gibt. Zu beenden wären diese Streitigkeiten wohl nur, könnten wir Gott fragen. Am besten ihn bitten, die Essenz seines Rechts zu formulieren. Wollte er uns helfen, er könnte seinerseits nichts Besseres tun, als zu postulieren: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." So freilich steht es bekanntlich bereits in Artikel 1 des Grundgesetzes. Nicht erst gemessen an diesem Satz, erweist sich jedes sogenannte gesetzliche Unrecht als das, was es ohnehin ist: ein Nichtrecht. Ein Gesetz für sich allein nämlich "ist" niemals Recht. Auch kein Unrecht. Beides muß erst eigens geschaffen werden. Ein Gesetz allein schafft das nicht. Das können nur Richter. Diese Ansicht fängt allerdings erst allmählich an, sich Bahn zu brechen.
Im Jahr 1946 waren wir noch nicht soweit, das Grundgesetz noch nicht geboren. Da schlug - zu Recht - die Stunde Radbruchs. Und seiner nach ihm benannten Formel. Mit der er auf seine Weise das - aus heutiger Sicht freilich nur vermeintliche - Problem gesetzlichen Unrechts lösen wollte.
Indessen: Auch gegen Radbruchs vielgerühmte Lösung, die der Autor in den Mittelpunkt seine Arbeit stellt, sind Zweifel angebracht. Zunächst soll das angebliche Gesetzesunrecht der Gerechtigkeit keineswegs in allen Fällen weichen. Es behält vielmehr den "Vorrang . . ., es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht", daß es eben deshalb seine Geltung verliert. Naturgemäß - doch diese Schwäche teilt das Naturrecht mit anderen Generalklauseln der positiven Gesetze - hindert ihre schier grenzenlose Unbestimmtheit eine umstandslose Anwendung der Formel. Harte Arbeit ist hier gefragt. Rechtsarbeit. Die haben die Richter zu leisten. Wer sonst! Daß sie es können, haben sie gezeigt - eindrucksvoll nicht zuletzt in den sogenannten Mauerschützenprozessen, wo es darum ging, herauszuarbeiten, daß die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze unter Umständen sogar schwerstes Unrecht waren. Trotz eines entgegenstehenden ehemaligen DDR-Gesetzes. Andere, ohnehin meist nur scheinbare Schwierigkeiten bleiben hier außer Betracht. Doch darf der Hinweis nicht fehlen, daß die Radbruchsche Formel es allein nicht getan hätte. Es bedurfte ihrer "völkerrechtlichen Aufladung".
Die Idee dieser Formel hat natürlich eine Vorgeschichte. Der berühmteste "Vordenker" Radbruchs war wohl Thomas von Aquin. Doch bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein sind außer Radbruch Gelehrte bekannt, "die letzten Endes nicht blind dem Unrecht der Diktatur gedient haben oder ihm gefolgt sind". Der Autor nennt sie und widmet ihnen kleinere Beiträge: Heinrich Rommen, Wilhelm Sauer, Erik Wolf und Walther Schönfeld. Sie zählen für ihn zu denen, "die den Glauben an höhere Werte nicht verloren hatten". Und die "letztlich Gott mehr gehorchten als den Menschen".
Das mag man so sehen. Primär aus der Sicht unmittelbar nach 1945. Heute macht das Grundgesetz überdeutlich, daß ein Richter - unabhängig von seinem persönlichen Glauben oder Unglauben - richtiges Recht sprechen kann und muß. Für Gläubige, Ungläubige und Nichtgläubige. Ein richtiges Recht für alle, in einem säkularisierten Staat.
WALTER GRASNICK
Christoph M. Scheuren-Brandes: Der Weg von nationalsozialistischen Rechtslehren zur Radbruchschen Formel. Untersuchungen zur Geschichte der Idee vom "Unrichtigen Recht". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 139 S., 22,90 [Euro].
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