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Henry Friedlander sieht im sogenannten Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten nicht nur den Prolog, sondern bereits das erste Kapitel den von ihnen geplanten Völkermords. Die Chronologie dieser Politik des Massenmords zeigt nach Friedlander eindeutig, daß die Tötung Behinderter den Auftakt zur systematischen Ermordung der Juden und der Sinti und Roma darstellte. Hierbei weist er die Kontinuität etlicher personeller, organisatorischer und technischer Strukturen vom Euthanasie-Programm zur sogenannten Endlösung auf. Die Umsetzung dieses Programms überzeugte die Nazis nicht allein von der…mehr

Produktbeschreibung
Henry Friedlander sieht im sogenannten Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten nicht nur den Prolog, sondern bereits das erste Kapitel den von ihnen geplanten Völkermords. Die Chronologie dieser Politik des Massenmords zeigt nach Friedlander eindeutig, daß die Tötung Behinderter den Auftakt zur systematischen Ermordung der Juden und der Sinti und Roma darstellte. Hierbei weist er die Kontinuität etlicher personeller, organisatorischer und technischer Strukturen vom Euthanasie-Programm zur sogenannten Endlösung auf. Die Umsetzung dieses Programms überzeugte die Nazis nicht allein von der technischen Realisierbarkeit des Massenmords, sondern ebenso davon, daß gewöhnliche Männer und Frauen zu Tätern werden können, daß die deutsche Bürokratie und Justiz sowie deutsche Ärzte und Wissenschaftler das Morden unterstützen würden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.1998

Massenmord und Raubmord
Henry Friedlander beschreibt den Weg zum Genozid der Juden

Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Aus dem Amerikanischen von Johanna Friedman, Martin Richter und Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 1997. 640 Seiten, 58,- Mark.

Die Anzahl der Bücher, die ein Nicht-Fachmann über ein Thema im Jahr lesen kann, ist begrenzt. Von der ersten bis zur letzten Zeile lesenswert ist das vorzüglich übersetzte Buch Henry Friedlanders "Der Weg zum NS-Genozid". Friedlander hat neben den Archiven ausgiebig die Akten der in der Bundesrepublik geführten Prozesse gegen einzelne Täter durchgearbeitet. So ist sein Buch voll von Details, die eine große Linie zeigen: Der Massenmord wird zum Verwaltungsprozeß. Die Täter erhalten aber dabei ihr Gesicht. Friedlander findet keine einfachen Lösungen. So schreibt er gegen Ende des Buches: "Trotz aller Bemühungen können wir noch immer nicht begreifen, warum scheinbar normale Männer und Frauen fähig waren, solch außerordentliche Verbrechen zu begehen."

Anders als die meisten jüdischen und viele nichtjüdische Historiker vor ihm nimmt Friedlander die Rassenideologie der Nazis beim Wort und verengt sie nicht auf Antisemitismus und Judenmord. So beginnt sein Buch mit den Sterilisationsmaßnahmen gegenüber der großen Gruppe der Behinderten und der kleineren der Zigeuner, denn von der Entrechtung der Behinderten führte ein direkter Weg zu ihrer Ermordung im "Euthanasie-Projekt". Hier präsentiert nun Friedlander eindrucksvoll unbekanntes Material, das die enge Verbindung zwischen der "Euthanasie" und der "Endlösung der Judenfrage" zeigt: Er dokumentiert, daß die jüdischen behinderten Patienten insgesamt, aber getrennt von den nichtjüdischen Patienten in den Gaskammern der Vernichtungszentren ermordet wurden. Anders als die sonstigen Patienten der "Irrenanstalten" wurden die jüdischen Patienten nicht daraufhin überprüft, ob sie "unheilbar" und deshalb "vernichtungswürdig" waren; ihr Jüdisch-Sein genügte für das Todesurteil. Die völlige Vernichtung einer speziellen Gruppe der Juden hatte also schon begonnen, bevor die sogenannte "Endlösung" begann.

Die ermordeten behinderten Juden sind meist namenlos geblieben. Auf einigen Seiten versucht Friedlander, ihnen wieder ein Gesicht zu geben. Diese Seiten gehören zu den bewegendsten seines Buches. Auch die Lebenswege der Mörder werden bis 1945 ausführlich nachgezeichnet. Leider erfahren wir nur von wenigen, was nach Kriegsende aus ihnen wurde. An der Euthanasie waren äußerst verschiedene soziale Gruppen beteiligt: Hohe Verwaltungsbeamte der Reichskanzlei, Psychiatrie-Professoren, Landgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte, Ärzte, Techniker und Hilfskräfte.

Friedlander beschreibt, wie das nicht-ärztliche Mordpersonal zusammen mit dem Psychiater Dr. Eberl, nachdem die Euthanasie-Aktion im Herbst 1941 abgeschlossen war, im darauffolgenden Frühjahr die Vernichtungsanstalten von Treblinka, Sobibor und Belsec aufbaute. Die gleichen Leute, die die Behinderten ermordet hatten, ermordeten jetzt in diesen Stätten Juden und Zigeuner. Die gleichen Chemiker und sonstigen Fachleute, die die Gaskammern in den Vernichtungszentren für die Behinderten gebaut hatten, bauten sie hier für die Juden. Und die gleiche Institution, die Reichskanzlei, die die Mörder der Geisteskranken finanziert hatte, finanzierte nun die Mörder der Juden.

Friedlander dokumentiert außerdem beiläufig eine bemerkenswerte, bisher wenig beachtete Tatsache. Der "Brenner" Vinzenz Nohel (es war seine Aufgabe, die Goldzähne der Leichen auszubrechen und die Leichen zu verbrennen) hatte als Arbeiter im zivilen Leben 100 Reichsmark im Monat verdient. Als er 1941 im Euthanasie-Vernichtungszentrum Hartheim antrat, erhielt er ein Monatsgehalt von 680 Mark, dazu eine Trennungszulage von 200 Mark, eine Zulage als "Brenner" von 140 Mark und eine Prämie von 140 Mark, insgesamt also 1160 Mark - soviel, wie damals ein Arzt durchschnittlich verdiente. Das entspricht einem heutigen Geldwert von etwa 15000 Mark. War der Judenmord letztlich gut organisierter Raubmord?

Für Friedlander bleibt die Frage bis zum Schluß unbeantwortet, weshalb so viele Deutsche Mörder wurden. Das ist bemerkenswert für einen Gelehrten, der jahrzehntelang über diese Frage nachgedacht hat, der als Vierzehnjähriger mit seiner Mutter auf der Rampe von Auschwitz stand und der seiner Mutter, die dort ermordet wurde, sein Buch gewidmet hat.

BENNO MÜLLER-HILL

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