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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2009

Das geteilte Gedächtnis
Richard von Weizsäcker will Ost- und Westdeutsche in ihrer Geschichte vereinen

In seine Amtszeit als Bundespräsident vom 1. Juli 1984 bis zum 30. Juni 1994 fielen der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 sprach Richard von Weizsäcker im Reichstagsgebäude als erstes gemeinsames Staatsoberhaupt der West- und Ostdeutschen. Jetzt beschließt von Weizsäcker sein jüngstes Buch "Der Weg zur Einheit", das Einsichten und Erfahrungen kurzweilig und pointiert verbindet, mit dem Text jener Rede. Damals zitierte er aus der neugefassten Grundgesetz-Präambel: "In freier Selbstbestimmung vollenden wir die Einheit und Freiheit Deutschlands." Dazu schreibt er jetzt: "Eine kühne Sichtweise! Denn die Entwicklung geht weiter, an jedem Tag von neuem. Täglich stehen wir vor neuen Herausforderungen, vor neuen Fragen an uns Deutsche als Nation." Er beruft sich auf den Religionswissenschaftler Ernest Renan, der 1882 eine Nation als tägliche Volksabstimmung beschrieb, und meint: "Unsere Einheit ist nicht perfekt und nicht abgeschlossen. Das Plebiszit geht an keinem Tag einstimmig aus."

Wie kam es zu den Ereignissen von 1989/90, obwohl während des Kalten Krieges die großen Mächte die Teilung Deutschlands laut von Weizsäcker "als ein Faktum, nicht als eine Zukunftsaufgabe" ansahen? Nach 1949 war die Bundesrepublik "der Osten des Westens", die DDR "der Westen des Ostens". Dennoch habe die Einheit "in den Herzen und Köpfen der Menschen" fortgelebt, wenn auch "unter Schwankungen". Bonn habe sich zur historischen Verantwortung für das "Dritte Reich" und den Holocaust bekannt, Ost-Berlin habe sich mit seiner Antifaschismus-Propaganda "quasi kollektiv entschuldet".

Nachdrücklich weist von Weizsäcker auf die Bedeutung der Kirchen als der "einzigen staatsfreien und zugleich auch über die ganze DDR verteilten großen Einrichtungen" hin. Schon beim Leipziger Kirchentag 1954 habe sich die "überwältigende verbindende Kraft zwischen Ost und West" gezeigt. Von 1964 bis 1970 arbeitete von Weizsäcker im Ehrenamt des Kirchentagspräsidenten am gesamtdeutschen Zusammenhalt mit, war federführend an Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland beteiligt, weil es die Aufgabe seiner Generation gewesen sei, "den Polen näher zu kommen". Deshalb habe er sich zum "Einstieg" in politische Wahlämter entschlossen. Im Bundestag - von 1969 an - widmete er sich den innerdeutschen Beziehungen und der Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, stand bald im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung in der CDU/CSU, weil er die Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung als richtig ansah.

Für die innerdeutschen Verbindungen seien die Kirchen in der DDR "von unersetzlichem Wert" gewesen. Die Amtskirchen hätten trotz Mauerbau 1961 engen Kontakt gehalten. Große Verdienste habe sich Konsistorialpräsident Manfred Stolpe erworben, der spätere Ministerpräsident von Brandenburg. Er sei für die West-Ost-Zusammenarbeit "unentbehrlich" gewesen. Die Organisation der Friedensgebete in der DDR habe bei den kirchlichen Basisgruppen gelegen, deren Arbeit "innerhalb der Kirchen nicht immer unumstritten war". Seit 1982 habe Christian Führer in der Nikolaikirche in Leipzig Friedensandachten angeregt. Als am 9. Oktober 1989 in Leipzig 70 000 Personen am Friedensmarsch teilnahmen, habe das Land "den Atem" angehalten: "Trotz ausdrücklicher Anforderung durch die Sicherheitskräfte der DDR blieben sowjetische Streitkräfte auf Befehl aus Moskau in ihren Quartieren." Dies war der Durchbruch. Am 9. November hätten die Bürger "die Mauer von Osten her eingedrückt. Das wird keiner je vergessen, je umdeuten."

Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall stünden die Deutschen noch vor der Aufgabe, "sich bis in die Gegenwart in der Geschichte zu vereinen". Im Mittelpunkt des ostdeutschen historischen Gedächtnisses stehe die Zeit der Teilung, während im westdeutschen Gedächtnis der 30. Januar 1933, Hitlers Machtübernahme, das prägende Datum sei. Es verbinde im zeithistorischen Sinne primär Ost und West, weil es "am Ende zur Teilung geführt" habe. Kurz geht Weizsäcker auf seine Rede vom 8. Mai 1985 ein. Darin hob er hervor, "dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung ist, das Ende von Mord und Lebensangst, in Vernichtungslagern und Gefängnissen, an den Kriegsfronten und in den bombardierten Städten, der Befreiung von der Nazidiktatur im eigenen Land und in unserer Nachbarschaft". Es gab dann Diskussionen über das von deutschen Zeitzeugen meist als Niederlage erlebte Kriegsende, auf die er zurückblickt: "Für unsere Landsleute im Osten war das Neue nicht, dass ich den 8. Mai als Tag der Befreiung bezeichnet hatte ... Viele Jahre war der 8. Mai ein staatlicher Feiertag in Verbindung mit der verordneten Botschaft des Antifaschismus. Da hieß es dann: Wir haben den Faschismus besiegt und bekämpfen ihn heute in Gestalt der Bundesrepublik. Mit meiner Rede aber verbanden nun viele Menschen in der DDR eine neue Sicht. Das konnte der SED nicht angenehm sein."

Die Menschen in der DDR nimmt Weizsäcker in Schutz, weil "auf ihren Schultern die Hauptlast nach der Nazizeit" gelegen habe. Die zweite deutsche Diktatur sei von der Sowjetunion eingesetzt worden und von ihr abhängig geblieben. Der Nationalsozialismus sei hingegen 1933 im eigenen Land zur Macht gekommen: "Dabei hatte sich die Mehrheit der Deutschen mit ihrem Staat weitgehend identifiziert. In der DDR dagegen musste die Anpassung der Bürger in einem weit höheren Maße erzwungen werden", meint der 1920 in Stuttgart geborene ehemalige Bundespräsident.

RAINER BLASIUS

Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit. Verlag C. H. Beck, München 2009. 223 Seiten, 19,90 Euro.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Es liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache, dass der hier als Rezensent auftretenden Helmut Schmidt nicht nur für das Buch, sondern auch in eigener Sache das Wort ergreift. So erfährt man viel über Schmidts grundsätzliche (und höchst positive) Meinung von Weizsäcker, der Schmidt zufolge bereits vor seinem Eintritt in die Politik operativ und publizistisch auf die deutsch-deutsche Politik Einfluss genommen habe. Auch bescheinigt der ehemalige Bundeskanzler dem ehemaligen Bundespräsidenten eine grundsätzliche Orientierung an Anstand und innerer Moral. In seinem Buch, das nichtsdestotrotz sehr "persönlich und bewegend" sei, weil er die Entwicklungen aus eigener Anschauung beschreibe, bleibe er doch im Hintergrund. In dreißig "relativ kurzen Kapiteln" gebe er ein großes zusammenhängendes Mosaik vom Weg zur deutschen Einheit, die aus Weizsäckers Sicht noch nicht vollendet sei. Man könne die Kapitel auch einzeln lesen, manche gar seien Meisterwerke, andere wiederum greifen für Schmidts Geschmack zu kurz. Anscheinend hätte Schmidt in Weizsäckers Buch auch gerne darüber gelesen, wie dieser seine Partei von dem Entspannungskurs überzeugt habe, den er selbst, so Schmidt, stets vertreten habe.

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