New York 1945, drei Tage vor Weihnachten:Hilly Danforth hat ihren Enkel Henry zu Besuch, dessen Mutter in San Remo eine zweite Ehe eingehen will. Am Heiligen Abend wird sie zurückerwartet.Während Hilly für Henry den Weihnachtsbaum schmückt, erinnert sie sich an die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit, an die großen Salons, die vielen Geschenke und den Zauber des Geheimnisvollen, der damals über ihrem Leben lag.Sie denkt an Larry, ihren einzigen homosexuellen Sohn, und an Anne, ihre Schwiegertochter, die Larry vergötterte und sich trotzdem von ihm scheiden ließ, um anschließend einen forschen Air Force Captain zu heiraten.Hilly fürchtet, daß auch Larry an diesem Weihnachtstag auftauchen könnte, doch als es endlich klingelt, steht Larrys Ex-Lover vor der Tür und eine Katastrophe nimmt ihren Lauf, deren Ausmaße Hilly nicht einmal ahnen konnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2006O du unglückliche!
Die New Yorkerin Isabel Bolton, die eigentlich Mary Britton Miller hieß, schenkte der Welt mit "Wach ich oder schlaf ich" 1946 einen makellosen Roman. Jetzt erscheint ihre mörderische Familiengeschichte "Der Weihnachtsbaum" erstmals in deutscher Übersetzung. Frohes Fest!
Von Felicitas von Lovenberg
Weihnachtsbäume, so sie nicht einem farblichen Modediktat unterworfen werden, bergen ein Sammelsurium von Erinnerungen. Der angeschlagene Engel, den der Sohn einst unbeholfen gebastelt hat; der Strohstern, den die Schwiegermutter früher unbedingt am Ast baumeln sehen wollte; das bedruckte Geschenkband eines Juweliers aus verliebteren Zeiten, mit dem nach dem Auspacken ein Ornament befestigt wurde. Daß die Hektik des Einkaufens, Einpackens und Eintütens bis zum Heiligabend die vielbeschworene Besinnlichkeit der Kartenwünsche unmöglich macht, ist gerade in nicht ganz heilen Familien - also den meisten - durchaus willkommen.
Eine Warnung darum gleich vorweg: Wer an Weihnachten nicht von resoluter Fröhlichkeit erfaßt wird und dank eines heiteren Naturells unempfänglich ist für die Melancholie, die das Fest für Telefonseelsorge und Samariter alljährlich zum Härtefall macht, sollte auf keinen Fall zu diesem Buch greifen. Denn Isabel Boltons Roman "Der Weihnachtsbaum" erzählt keine Geschichte von Jubel, Trubel, Weinseligkeit, sondern ein Familiendrama, das nicht mit einer festtäglichen Rundum-Versöhnung, sondern mit einem Mord im Affekt endet. Es findet sich auch kein boshaft-heiterer Ton darin, wie in Loriots Adventsgedicht von der ihren Mann zerlegenden Försterin oder wie in Robert Gernhardts ewiggültigem Lustdrama "Erna, der Baum nadelt!" Isabel Bolton ist eine Meisterin der genauen, unaufgeregten Beobachtung, nicht der ätzenden Prosa, und darum geschieht der Mord bei ihr fast so unvermutet wie im Pfarrhaus.
Isabel Bolton, die 1883 als Mary Britton Miller in Connecticut geboren wurde und in zwar materiell höchst komfortablen, doch geistig eher bequemen New Yorker Kreisen aufwuchs, wurde zum späten Shootingstar, als Edmund Wilson, ein legendärer und legendär skeptischer Kritiker der "New York Times", 1946 ihren Debütroman "Do I Wake or Sleep" als Wunderwerk in der Nachfolge von Henry James pries. Daß Wilson überdies hoffte, die Schönheit der Prosa von Ms. Bolton werde nur noch von der Schönheit von Ms. Bolton selbst übertroffen, wurde zum Stoff einer kleinen Nebenlegende. Gore Vidal, dessen Debüt ebenfalls 1946 erschien, jedoch keineswegs ein solches Echo fand wie Boltons Roman, erzählt mit schadenfrohem Gusto davon, wie Wilson herausfand, daß hinter der ominösen Ms. Bolton die damals bereits dreiundsechzigjährige Mary Britton Miller steckte, eine stattliche Dame, die unter ihrem eigentlichen Namen zuvor ein halbes Dutzend Bücher veröffentlicht hatte, die keinerlei Aufmerksamkeit gefunden hatten. Erst mit dem neuen nom de plume änderte sich das. Die folgenden drei Bücher - "Do I Wake or Sleep", "The Christmas Tree" und "Many Mansions" - sind als Zyklus "New York Mosaic" ihre berühmtesten geblieben, wenngleich sie bis zu ihrem Tod 1975 fleißig weiter veröffentlichte. Vielleicht liegt es daran, daß die Autorin hier in einem gereiften Alter ihren scharfen Blick auf eine Gesellschaft richtete, die eigentlich nicht mehr die ihre war. Isabel Bolton, die als junges Mädchen an der Ostküste in Reifröcken und Korsett, mit Dienstmädchen und Erzieherinnen groß wurde und die, zumal nach dem frühen Tod der Eltern, von ihrer Zwillingsschwester Grace unzertrennlich war, erkannte in den fragmentierenden Strukturen, die der Zweite Weltkrieg noch beschleunigte, ein ureigenes Lebensgefühl wieder: Wie Henry James besaß sie ein Gespür für die Unausgegorenheiten ihrer Figuren, für den speziellen Reiz Manhattans, die Einsamkeit des Menschen - und die Ausgeschlossenheit, die Homosexualität damals bedeutete.
"Der Weihnachtsbaum" schildert drei Tage im Leben von Hilly Danforth, die Besuch hat von ihrem sechsjährigen Enkel Henry. Während Henry eigentlich nur mit seinen Flugzeugen spielen will, ist Hilly entschlossen, ihm ein richtiges, altmodisches Weihnachten zu bieten. Beim Schmücken des Baums sinnt sie über Larry nach, ihren einzigen Sohn, der mittlerweile mit seinem Geliebten in Washington lebt, während seine geschiedene Frau Anne, Henrys Mutter, mit ihrem frischgebackenen Ehemann Nummer zwei, einem Offizier der Luftwaffe, auf dem Weg nach New York ist. Hilly hat ihren Freud gelesen und fragt sich, mehr aus Neugier denn aus Gewissensbissen, ob sie Larry als Kind womöglich mit ihrer Liebe erdrückt und so seine homosexuelle Neigung unwissentlich bestärkt hat. Zugleich ist sie voller Respekt für ihre Schwiegertochter und deren pragmatische Art, mit dem Ehedebakel umzugehen.
Solange Isabel Bolton Hilly Danforths Perspektive treu bleibt, schnurrt der Roman wie am Rädchen voran. Doch in der zweiten Hälfte wechselt sie Schauplatz und Erzählhaltung und schildert eine Szene zwischen Larry und seinem Freund, die mit Streit und Trennung endet. Daran schließt sich ein Gespräch zwischen Anne und ihrem Bräutigam an, die ebenfalls weniger dazu beiträgt, die Charaktere zu erhellen, als Hillys Nachdenken über sie. Alle sind nun auf dem Weg nach Manhattan und steuern Hillys Apartment mit der ruhigen Bestimmung von Bowlingkugeln an, die unerbittlich auf die Kegel zurollen, um sie mit Wucht umzuhauen. Wie Isabel Bolton den Zusammenprall vorbereitet, zeugt von ihrer Meisterschaft. Hilly, die nichts von dem bevorstehenden Eklat ahnt, den sie gleichwohl selbst mit angezettelt hat, muß hilflos mit ansehen, wie ihr Enkel zum Zentrum eines Eifersuchtsdramas zwischen seinem Vater und dem neuen Mann der Mutter wird. Doch nicht nur, weil solche Verwerfungen auch heutigen Patchwork-Familien nicht unbekannt sein dürften, wirkt der Roman auch sechzig Jahre nach seiner Entstehung frisch. Manche Geschichten über Weihnachten kann man einfach nur an Weihnachten aushalten.
- Isabel Bolton: "Der Weihnachtsbaum". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannah Harders. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2006. 240 S., geb., 18,90 [Euro].
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Die New Yorkerin Isabel Bolton, die eigentlich Mary Britton Miller hieß, schenkte der Welt mit "Wach ich oder schlaf ich" 1946 einen makellosen Roman. Jetzt erscheint ihre mörderische Familiengeschichte "Der Weihnachtsbaum" erstmals in deutscher Übersetzung. Frohes Fest!
Von Felicitas von Lovenberg
Weihnachtsbäume, so sie nicht einem farblichen Modediktat unterworfen werden, bergen ein Sammelsurium von Erinnerungen. Der angeschlagene Engel, den der Sohn einst unbeholfen gebastelt hat; der Strohstern, den die Schwiegermutter früher unbedingt am Ast baumeln sehen wollte; das bedruckte Geschenkband eines Juweliers aus verliebteren Zeiten, mit dem nach dem Auspacken ein Ornament befestigt wurde. Daß die Hektik des Einkaufens, Einpackens und Eintütens bis zum Heiligabend die vielbeschworene Besinnlichkeit der Kartenwünsche unmöglich macht, ist gerade in nicht ganz heilen Familien - also den meisten - durchaus willkommen.
Eine Warnung darum gleich vorweg: Wer an Weihnachten nicht von resoluter Fröhlichkeit erfaßt wird und dank eines heiteren Naturells unempfänglich ist für die Melancholie, die das Fest für Telefonseelsorge und Samariter alljährlich zum Härtefall macht, sollte auf keinen Fall zu diesem Buch greifen. Denn Isabel Boltons Roman "Der Weihnachtsbaum" erzählt keine Geschichte von Jubel, Trubel, Weinseligkeit, sondern ein Familiendrama, das nicht mit einer festtäglichen Rundum-Versöhnung, sondern mit einem Mord im Affekt endet. Es findet sich auch kein boshaft-heiterer Ton darin, wie in Loriots Adventsgedicht von der ihren Mann zerlegenden Försterin oder wie in Robert Gernhardts ewiggültigem Lustdrama "Erna, der Baum nadelt!" Isabel Bolton ist eine Meisterin der genauen, unaufgeregten Beobachtung, nicht der ätzenden Prosa, und darum geschieht der Mord bei ihr fast so unvermutet wie im Pfarrhaus.
Isabel Bolton, die 1883 als Mary Britton Miller in Connecticut geboren wurde und in zwar materiell höchst komfortablen, doch geistig eher bequemen New Yorker Kreisen aufwuchs, wurde zum späten Shootingstar, als Edmund Wilson, ein legendärer und legendär skeptischer Kritiker der "New York Times", 1946 ihren Debütroman "Do I Wake or Sleep" als Wunderwerk in der Nachfolge von Henry James pries. Daß Wilson überdies hoffte, die Schönheit der Prosa von Ms. Bolton werde nur noch von der Schönheit von Ms. Bolton selbst übertroffen, wurde zum Stoff einer kleinen Nebenlegende. Gore Vidal, dessen Debüt ebenfalls 1946 erschien, jedoch keineswegs ein solches Echo fand wie Boltons Roman, erzählt mit schadenfrohem Gusto davon, wie Wilson herausfand, daß hinter der ominösen Ms. Bolton die damals bereits dreiundsechzigjährige Mary Britton Miller steckte, eine stattliche Dame, die unter ihrem eigentlichen Namen zuvor ein halbes Dutzend Bücher veröffentlicht hatte, die keinerlei Aufmerksamkeit gefunden hatten. Erst mit dem neuen nom de plume änderte sich das. Die folgenden drei Bücher - "Do I Wake or Sleep", "The Christmas Tree" und "Many Mansions" - sind als Zyklus "New York Mosaic" ihre berühmtesten geblieben, wenngleich sie bis zu ihrem Tod 1975 fleißig weiter veröffentlichte. Vielleicht liegt es daran, daß die Autorin hier in einem gereiften Alter ihren scharfen Blick auf eine Gesellschaft richtete, die eigentlich nicht mehr die ihre war. Isabel Bolton, die als junges Mädchen an der Ostküste in Reifröcken und Korsett, mit Dienstmädchen und Erzieherinnen groß wurde und die, zumal nach dem frühen Tod der Eltern, von ihrer Zwillingsschwester Grace unzertrennlich war, erkannte in den fragmentierenden Strukturen, die der Zweite Weltkrieg noch beschleunigte, ein ureigenes Lebensgefühl wieder: Wie Henry James besaß sie ein Gespür für die Unausgegorenheiten ihrer Figuren, für den speziellen Reiz Manhattans, die Einsamkeit des Menschen - und die Ausgeschlossenheit, die Homosexualität damals bedeutete.
"Der Weihnachtsbaum" schildert drei Tage im Leben von Hilly Danforth, die Besuch hat von ihrem sechsjährigen Enkel Henry. Während Henry eigentlich nur mit seinen Flugzeugen spielen will, ist Hilly entschlossen, ihm ein richtiges, altmodisches Weihnachten zu bieten. Beim Schmücken des Baums sinnt sie über Larry nach, ihren einzigen Sohn, der mittlerweile mit seinem Geliebten in Washington lebt, während seine geschiedene Frau Anne, Henrys Mutter, mit ihrem frischgebackenen Ehemann Nummer zwei, einem Offizier der Luftwaffe, auf dem Weg nach New York ist. Hilly hat ihren Freud gelesen und fragt sich, mehr aus Neugier denn aus Gewissensbissen, ob sie Larry als Kind womöglich mit ihrer Liebe erdrückt und so seine homosexuelle Neigung unwissentlich bestärkt hat. Zugleich ist sie voller Respekt für ihre Schwiegertochter und deren pragmatische Art, mit dem Ehedebakel umzugehen.
Solange Isabel Bolton Hilly Danforths Perspektive treu bleibt, schnurrt der Roman wie am Rädchen voran. Doch in der zweiten Hälfte wechselt sie Schauplatz und Erzählhaltung und schildert eine Szene zwischen Larry und seinem Freund, die mit Streit und Trennung endet. Daran schließt sich ein Gespräch zwischen Anne und ihrem Bräutigam an, die ebenfalls weniger dazu beiträgt, die Charaktere zu erhellen, als Hillys Nachdenken über sie. Alle sind nun auf dem Weg nach Manhattan und steuern Hillys Apartment mit der ruhigen Bestimmung von Bowlingkugeln an, die unerbittlich auf die Kegel zurollen, um sie mit Wucht umzuhauen. Wie Isabel Bolton den Zusammenprall vorbereitet, zeugt von ihrer Meisterschaft. Hilly, die nichts von dem bevorstehenden Eklat ahnt, den sie gleichwohl selbst mit angezettelt hat, muß hilflos mit ansehen, wie ihr Enkel zum Zentrum eines Eifersuchtsdramas zwischen seinem Vater und dem neuen Mann der Mutter wird. Doch nicht nur, weil solche Verwerfungen auch heutigen Patchwork-Familien nicht unbekannt sein dürften, wirkt der Roman auch sechzig Jahre nach seiner Entstehung frisch. Manche Geschichten über Weihnachten kann man einfach nur an Weihnachten aushalten.
- Isabel Bolton: "Der Weihnachtsbaum". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannah Harders. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2006. 240 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wer zu Weihnachten ohnehin zur Melancholie neigt, sollte besser nicht zu Isabel Boltons Roman "Der Weihnachtsbaum" greifen. Diese Warnung der Rezensentin Felicitas von Lovenberg hat einen einfachen Grund: Das Werk unterscheidet sich gründlich von den zahlreichen Büchern, die das Fest der Liebe heiter-besinnlich oder auch heiter-boshaft oder gar heiter-ätzend behandeln. Lovenberg beschreibt den im New York 1945, drei Tage vor Weihnachten spielenden Roman als ernstes, unversöhnliches Familiendrama, das unvermutet mit einem Affektmord endet. Sie würdigt die Autorin als Meisterin der genauen, "unaufgeregten" Beobachtung. Meisterhaft findet sie auch, wie Bolton das Zusammentreffen der Protagonisten am Weihnachtsfest vorbereitet. Sie fühlt sich dabei an die "ruhige Bestimmung von Bowlingkugeln" erinnert, "die unerbittlich auf die Kegel zurollen, um sie mit Wucht umzuhauen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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