Der weiße Berg erzählt eindrucksvoll vom Erwachsenwerden eines Nomadenjungen aus der Mongolei, vom Einbruch der Moderne ins archaische Leben und von der Suche nach persönlicher Identität zwischen den Welten.
Die weite Steppe der Tuwa-Nomaden in der Mongolei ist seine Heimat, hier wandern und stehen die Jurten seiner Sippe, seiner Vorfahren. Doch Dshurukuwaa besucht die ferne Schule, geht den »Weg des Wissens«. Die moderne, sozialistische Erziehung der Mongolei in den fünfziger und sechziger Jahren will die jahrhundertealten Traditionen zerstören. Der Glaube an Vater Himmel und Mutter Erde gilt als rückständig, Geister und Schamanen werden verdammt. Der jugendliche Dshurukuwaa, zum Schamanen berufen, zum Wissen verurteilt, wird erwachsen. Er verliebt sich, macht erste sexuelle Erfahrungen und trifft schließlich seine große Liebe wieder. Gleichzeitig spürt er Verantwortung gegenüber der Familie und der Vergangenheit und ist, hin- und hergerissen zwischen persönlichem Freiheitsdrang und einem ursprünglichen Leben als Jäger und Hirte, auf der Suche nach seiner ihm eigenen Bestimmung: Wer bin ich, wohin gehöre ich? Wie wollen wir leben?
Die weite Steppe der Tuwa-Nomaden in der Mongolei ist seine Heimat, hier wandern und stehen die Jurten seiner Sippe, seiner Vorfahren. Doch Dshurukuwaa besucht die ferne Schule, geht den »Weg des Wissens«. Die moderne, sozialistische Erziehung der Mongolei in den fünfziger und sechziger Jahren will die jahrhundertealten Traditionen zerstören. Der Glaube an Vater Himmel und Mutter Erde gilt als rückständig, Geister und Schamanen werden verdammt. Der jugendliche Dshurukuwaa, zum Schamanen berufen, zum Wissen verurteilt, wird erwachsen. Er verliebt sich, macht erste sexuelle Erfahrungen und trifft schließlich seine große Liebe wieder. Gleichzeitig spürt er Verantwortung gegenüber der Familie und der Vergangenheit und ist, hin- und hergerissen zwischen persönlichem Freiheitsdrang und einem ursprünglichen Leben als Jäger und Hirte, auf der Suche nach seiner ihm eigenen Bestimmung: Wer bin ich, wohin gehöre ich? Wie wollen wir leben?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2001Grüne Insel hinter Stacheldraht
Zwischen Jet und Jurte: Galsan Tschinags Roman "Der weiße Berg"
Ein Flugzeug ist gelandet in der Bezirksstadt, irgendwo in der mongolischen Steppe. Der strahlende Offizier, der ihm entsteigt, ist einer von hier, einer aus dem Volk der Tuwa, das in Jurten, großen Zelten, wohnt und im Sozialismus endlich seine halbnomadische Lebensweise und seinen reaktionären schamanistischen Glauben an die Beseeltheit der Materie aufgeben soll. In der offiziellen Sprache, die zwischen dem sowjetischen Pathos des Fortschritts und dem Mythenglauben der Tuwa einen kuriosen Kompromiß bildet, heißt das Flugzeug, das glänzend in der Steppe steht und von staunenden Kindern umringt wird: "das geflügelte Roß der bereits begonnenen Zukunft".
Solche Widersprüche zwischen Technik und Geisterglaube, Fortschritt und Schamanismus, zwischen dem weltweit triumphierenden Kommunismus und der alten Tradition der Tuwa, einer bedrohten Minderheit der Mongolei, schneiden durch den Ich-Erzähler des neuen Romans von Galsan Tschinag. Der in den vierziger Jahren als Tuwa geborene Autor, der 1962 nach Leipzig kam, um im befreundeten sozialistischen Ausland Literatur zu studieren, ist vermutlich der einzige Vertreter der mongolisch-deutschen Tuwa-Literatur, denn er schreibt seine Romane mittlerweile auf Deutsch und bleibt doch seinem Lebensthema treu: der prekären Situation jener nomadischen Tuwa, für die die mongolische Sprache, Kultur und Lebensform den lockenden Fortschritt bedeutet, dem sie ihre Traditionen opfern sollen.
Sein unverkennbar autobiographisch gefaßter Held geht durch alle Versuchungen, denen auch Tschinag ausgesetzt war. Soll er dem rückschrittlichen Schamanismus entsagen, den seine Tante als Geisterkundige verkörpert, und werden, wozu er berufen ist: ein großer sowjetischer Schriftsteller, der von der bunten Völkervielfalt des Sowjetreiches singt? Wenn er, in den Ferien von der mongolischen Schule in die Jurte der Eltern zurückgekehrt, über seinen Gedichten sitzt, trifft ihn der Tadel der Eltern. Die sind überzeugt, "Papierenes entsafte den Körper, Grübelei bringe die Flüsse im Gehirn durcheinander" und es gebe Wichtigeres zu tun, als in Bücher zu starren. Sich beispielsweise so früh wie möglich nach einer Schwiegertochter für die Eltern umzusehen. Denen käme die zarte Akina, eine kasachische Schulfreundin, die Ärztin werden möchte und eine große Zuneigung zu dem reifenden Dichter gefaßt hat, sehr recht.
Doch der Dichter, dessen Ehrgeiz Tschinag mit warmherziger Ironie gestaltet, ist ein Ungebändigter, einer, der mit sich noch hadert und ringt, nicht im Einklang lebt. In der Bezirksstadt möchte er am liebsten die Idee des Fortschritts widerrufen, in die Jurte der Nomaden zurückkehren und von der Tante zum Schamanen ausgebildet werden; in der Jurte der Tuwa sehnt er sich hinaus in die Welt, dorthin, wo der Fortschritt zu Hause ist und die Aufgeklärten und Wissenden leben. Wissen möchte der Fünfzehnjährige endlich auch etwas ganz Bestimmtes. Wie das nämlich geht, was "auf kasachisch liegen, auf mongolisch schlafen und auf tuwa sich nähern heißt. Weshalb man es tut, und wie es vor sich geht."
Mit seinem Wunsch, sexuelle Aufklärung zu erhalten und sie zugleich in der Praxis zu erproben, ist er bei der gleichaltrigen Akina freilich nicht bei der Richtigen. Erschreckt zieht sie sich von ihm zurück, der sich folglich anderswo Klarheit zu verschaffen trachtet. Der Roman von der Entwicklung eines Dichters, der sich in den Kinderglauben der Tuwa nicht mehr fügt, seine Herkunft aber auch nicht verraten und den spirituellen Reichtum der Nomaden retten möchte, ist schon ein ordentliches Stück weit gekommen, als unerwartet eine herzergreifende Liebesgeschichte daraus wird. Denn der Jüngling trifft auf eine schöne, gebildete, freizügige Frau, die ihn in jeder Hinsicht zum Erwachsenen initiiert und nur einen Makel hat: Sie ist Insassin eines Straflagers.
"Mitten in der Kiessteppe westlich von der Stadt grünt eine viereckige Insel, umschlossen von einer Stacheldrahtkoppel." Dorthin zieht es den Jungen, denn dort ist Batana zur Zwangsarbeit verpflichtet, eine junge, selbstbewußte Agronomin, die in der Steppe erfolgreich neue Pflanzen- und Getreidesorten angepflanzt, sich aber nicht den überkommenen Regeln des Zusammenlebens gefügt hat. Weil sie sich einen verheirateten Geliebten zulegte, wurde sie wegen "sittlicher Verfehlungen" hier eingesperrt; freigelassen, wird sie später einem Eifersuchtsmord zum Opfer fallen. Zwischen dem Dichter, der erwachsen werden möchte und so viele Konflikte in der eigenen Brust austragen muß, und der schönen Agronomin, die ihrer Freizügigkeit willen verachtet, ausgestoßen, inhaftiert wurde, entwickelt sich eine Liebesgeschichte, der Galsan Tschinag eindringliche Passagen widmet. Am Ende allerdings, na ja, da ist es in der mongolischen Steppe und in der Tuwa-Literatur nicht anders als in einem deutschen Entwicklungsroman: Die geliebte Frau ist tot, und der Mann, um ihren Tod gereift, ist erwachsen und kann endlich ein bedeutender Dichter werden.
KARL-MARKUS GAUSS
Galsan Tschinag: "Der weiße Berg". Roman. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2000. 289 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Jet und Jurte: Galsan Tschinags Roman "Der weiße Berg"
Ein Flugzeug ist gelandet in der Bezirksstadt, irgendwo in der mongolischen Steppe. Der strahlende Offizier, der ihm entsteigt, ist einer von hier, einer aus dem Volk der Tuwa, das in Jurten, großen Zelten, wohnt und im Sozialismus endlich seine halbnomadische Lebensweise und seinen reaktionären schamanistischen Glauben an die Beseeltheit der Materie aufgeben soll. In der offiziellen Sprache, die zwischen dem sowjetischen Pathos des Fortschritts und dem Mythenglauben der Tuwa einen kuriosen Kompromiß bildet, heißt das Flugzeug, das glänzend in der Steppe steht und von staunenden Kindern umringt wird: "das geflügelte Roß der bereits begonnenen Zukunft".
Solche Widersprüche zwischen Technik und Geisterglaube, Fortschritt und Schamanismus, zwischen dem weltweit triumphierenden Kommunismus und der alten Tradition der Tuwa, einer bedrohten Minderheit der Mongolei, schneiden durch den Ich-Erzähler des neuen Romans von Galsan Tschinag. Der in den vierziger Jahren als Tuwa geborene Autor, der 1962 nach Leipzig kam, um im befreundeten sozialistischen Ausland Literatur zu studieren, ist vermutlich der einzige Vertreter der mongolisch-deutschen Tuwa-Literatur, denn er schreibt seine Romane mittlerweile auf Deutsch und bleibt doch seinem Lebensthema treu: der prekären Situation jener nomadischen Tuwa, für die die mongolische Sprache, Kultur und Lebensform den lockenden Fortschritt bedeutet, dem sie ihre Traditionen opfern sollen.
Sein unverkennbar autobiographisch gefaßter Held geht durch alle Versuchungen, denen auch Tschinag ausgesetzt war. Soll er dem rückschrittlichen Schamanismus entsagen, den seine Tante als Geisterkundige verkörpert, und werden, wozu er berufen ist: ein großer sowjetischer Schriftsteller, der von der bunten Völkervielfalt des Sowjetreiches singt? Wenn er, in den Ferien von der mongolischen Schule in die Jurte der Eltern zurückgekehrt, über seinen Gedichten sitzt, trifft ihn der Tadel der Eltern. Die sind überzeugt, "Papierenes entsafte den Körper, Grübelei bringe die Flüsse im Gehirn durcheinander" und es gebe Wichtigeres zu tun, als in Bücher zu starren. Sich beispielsweise so früh wie möglich nach einer Schwiegertochter für die Eltern umzusehen. Denen käme die zarte Akina, eine kasachische Schulfreundin, die Ärztin werden möchte und eine große Zuneigung zu dem reifenden Dichter gefaßt hat, sehr recht.
Doch der Dichter, dessen Ehrgeiz Tschinag mit warmherziger Ironie gestaltet, ist ein Ungebändigter, einer, der mit sich noch hadert und ringt, nicht im Einklang lebt. In der Bezirksstadt möchte er am liebsten die Idee des Fortschritts widerrufen, in die Jurte der Nomaden zurückkehren und von der Tante zum Schamanen ausgebildet werden; in der Jurte der Tuwa sehnt er sich hinaus in die Welt, dorthin, wo der Fortschritt zu Hause ist und die Aufgeklärten und Wissenden leben. Wissen möchte der Fünfzehnjährige endlich auch etwas ganz Bestimmtes. Wie das nämlich geht, was "auf kasachisch liegen, auf mongolisch schlafen und auf tuwa sich nähern heißt. Weshalb man es tut, und wie es vor sich geht."
Mit seinem Wunsch, sexuelle Aufklärung zu erhalten und sie zugleich in der Praxis zu erproben, ist er bei der gleichaltrigen Akina freilich nicht bei der Richtigen. Erschreckt zieht sie sich von ihm zurück, der sich folglich anderswo Klarheit zu verschaffen trachtet. Der Roman von der Entwicklung eines Dichters, der sich in den Kinderglauben der Tuwa nicht mehr fügt, seine Herkunft aber auch nicht verraten und den spirituellen Reichtum der Nomaden retten möchte, ist schon ein ordentliches Stück weit gekommen, als unerwartet eine herzergreifende Liebesgeschichte daraus wird. Denn der Jüngling trifft auf eine schöne, gebildete, freizügige Frau, die ihn in jeder Hinsicht zum Erwachsenen initiiert und nur einen Makel hat: Sie ist Insassin eines Straflagers.
"Mitten in der Kiessteppe westlich von der Stadt grünt eine viereckige Insel, umschlossen von einer Stacheldrahtkoppel." Dorthin zieht es den Jungen, denn dort ist Batana zur Zwangsarbeit verpflichtet, eine junge, selbstbewußte Agronomin, die in der Steppe erfolgreich neue Pflanzen- und Getreidesorten angepflanzt, sich aber nicht den überkommenen Regeln des Zusammenlebens gefügt hat. Weil sie sich einen verheirateten Geliebten zulegte, wurde sie wegen "sittlicher Verfehlungen" hier eingesperrt; freigelassen, wird sie später einem Eifersuchtsmord zum Opfer fallen. Zwischen dem Dichter, der erwachsen werden möchte und so viele Konflikte in der eigenen Brust austragen muß, und der schönen Agronomin, die ihrer Freizügigkeit willen verachtet, ausgestoßen, inhaftiert wurde, entwickelt sich eine Liebesgeschichte, der Galsan Tschinag eindringliche Passagen widmet. Am Ende allerdings, na ja, da ist es in der mongolischen Steppe und in der Tuwa-Literatur nicht anders als in einem deutschen Entwicklungsroman: Die geliebte Frau ist tot, und der Mann, um ihren Tod gereift, ist erwachsen und kann endlich ein bedeutender Dichter werden.
KARL-MARKUS GAUSS
Galsan Tschinag: "Der weiße Berg". Roman. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2000. 289 S., geb., 39,80 DM.
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