In seinem Abenteuerbericht erzählt Severin von der Suche nach Moby Dick, dem legendären Weißen Wal, die ihn auf den Spuren von Melville durch den Pazifik führt. Er bleibt dem mythischen Geschöpf auf der Spur - bis er ihm plötzlich begegnet ... "Ein Vergnügen. Severin fesselt mit großartigen Detailbeschreibungen, erzählt in dichten Bildern von Abenteuern, Alltag und Festen, vor allem aber von den Menschen und deren Leben mit dem Weißen Wal." Mare.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2000Die Weltmeere sind ein Ort der Angst und des Schreckens
Einsamer niemand als Moby Dick: Drei Bücher erschließen den Stoff, aus dem Herman Melvilles Albtraum von menschlicher Hybris wurde
Das brachiale Krachen, das das neunzehnte Jahrhundert an jenem Novembertag des Jahres 1820 erschütterte, erschien später weniger als die unvorhersehbare Katastrophe eines Schiffes, sondern als logischer Höhepunkt eines Dramas, in dem sich Naturgeschichte und Zivilisation kreuzten. Der bis dato unvorstellbare Angriff des Wals, die schauderhafte Geschichte des Schiffbrüchigen des Walfängers Essex bilden nicht nur den Plot zu einem der berühmtesten Schiffsunglücke. Auch Melvilles "Moby Dick" ist ohne diese Vorgeschichte und die Legenden, die sich um den Untergang der Essex rankten, nicht denkbar. Und wie bei dem erstaunlichen, unauslotbaren Roman Melvilles, so bleibt auch bei seiner historischen Vorlage die Pointe ausdeutbar, vexierend und verweist den Lesenden auf seine eigene, gebrochene Identität und abgründige Seele.
Die objektiven Stationen der Geschichte dieses epochalen Scheiterns sind strikt kanonisiert. Ein Überlebender, der Obermaat Owen Chase, hatte bald nach seiner Rettung einen Bericht geschrieben, der als historisches Seefahrer-Dokument nun auch auf deutsch erschienen ist. Der knappe Text ist die zentrale autoritative Quelle für alle Exegeten der Katastrophe. Auch der junge Seemann, dem er 1842 an Bord der "Lima" in die Hände fiel und der später die erste große und bis heute gültige Interpretation dazu erschuf, zeigte sich vom Text nachhaltig beeindruckt und sog begierig jedes Detail in sich auf: Wie Herman Melville einst, so wälzen nun auch die ungleichen Bearbeiter Nathaniel Philbrick und Tim Severin den Mythos Moby Dick von einer Walseite auf die andere und fördern dabei neue Aspekte zutage, teils fein und sprühend wie die sommerliche Gischt vor der Küste Neuenglands, teils gewaltig wie jene pazifischen Brecher, die über die Reeling der Rettungsboote der Essex stürzten.
Hilfe, wir werden schanghait
Der Obermaat Chase hatte nach seiner Heimkehr wenig Zeit und noch weniger lyrischen Atem, um den neugierigen Zeitgenossen den ersehnten Bericht über das Schicksal der Essex im Druck zu liefern. Trotz Einsatz eines Ghostwriters ist der Text eine spröde Aneinanderreihung von Tatsachen, die den Leser bloß über das Maß der Leiden unterweist, die der Mensch ertragen kann, bevor er, wahnsinnig vor Hunger und Durst, menschenunwürdig krepiert. Chase schildert in strikter Chronologie die Abreise aus seiner Heimatstadt Nantucket im Sommer 1819, die die Essex verließ, um im fernen Pazifik ihr Glück zu suchen. Seine kalte Erzählung gewinnt ihre Höhepunkte aus dem Wissen des Lesers um die schrecklichen Ereignisse, die dem Berichterstatter widerfahren werden und an die beide, Leser und Autor, immer denken müssen, gleich ob Chase von Pannen oder von Zerstreuungen an Bord des Walfängers plaudert.
Denn an jenem entscheidenden Tag im November 1820, als die See so wunderbar heiter war, als die Sonne über dem pazifischen Äquator glänzte und als es der Besatzung geradezu ein idealer Tag zum Töten schien, da rammte zweimal ein Pottwal den Bug der Essex, die sofort kenterte und schließlich sank. Die Mannschaft rettete sich auf drei Boote, nahm vom Schiff so viel mit, wie sie konnte, und gab sich jener bodenlosen Verzweiflung hin, die sie später noch unendlich heftiger heimsuchen sollte. Denn die Männer trieben mitten im Pazifik fern der südamerikanischen Küste; das Tier, das sie selbst erbeuten sollten, hatte sie nun zur leichten Beute des unberechenbaren Ozeans gemacht.
Severin und Philbrick liefern zwei grundverschiedene Erzählungen zum Grundthema des angriffslustigen Wals. Philbrick ist der akkurate Buchhalter des Schicksals, der noch jedes verfügbare Beweisstück befragt hat, neue Quellen zutage fördert und die historischen Geschehnisse wo nur möglich mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft abgleicht. Er kritisiert aus der Perspektive der Sozialpsychologie den Führungsstil des Kapitäns, er konfrontiert den Hunger des Obermaats im Jahre 1820 mit den schaurigen wissenschaftlichen Experimenten der Amerikaner aus dem Zweiten Weltkrieg über das Aushungern des Menschen, und er bemäkelt den Wissenstransfer unter den Seefahrern. All dies montiert Philbrick zu einem dichten, wissenschaftlich fundierten Panorama, das dem Leser sogar den vorsätzlichen Angriff eines Pottwals auf ein 238-Tonnen-Schiff erklärt.
Dagegen hat Tim Severin unter dem Vorwand, etwas über die historischen Hintergründe der Legende Moby Dick zu erfahren, im Pazifik nach seinen Spuren gesucht. Er sprach mit Insulanern über die Physiognomie der Meerestiere, er wartete mit ihnen in der tödlichen Stille der See auf das Auftauchen der Wale, und er ließ die verunglückten Harpuniere in ihren schäbigen Hütten vom großen Tier erzählen, das mit einem Flossenschlag ihr Leben zerstört hat.
Das Buch hat fünf Anfänge und keinen Schluß. Sein Autor entwirft von Kapitel zu Kapitel neue, sich in ihrer Einfalt überbietende theoretisierende Leitfragen, die seine Suche rechtfertigen sollen. Man merkt ihm kaum an, daß sein Autor "Moby Dick" gelesen hat, und wenn, dann vermutlich ziemlich oberflächlich. Und dennoch ist es ein wunderbares Buch. Denn Severin ist ein Abenteurer und Erzähler, voller Neugier und Beobachtungsgabe, der den Leser mit Detailschilderungen großartig zu fesseln vermag. Er beschreibt in unvergleichlichen Bildern, wie ein alter Harpunier ihm in seinem Garten den Wurf der Lanze inszeniert, wie der triste Alltag der Südseebewohner auf ihren verarmenden Atollen aussieht und wie die pazifischen Mythen vom einzigartigen weißen Wal fortleben bis in die Gegenwart. Er erzählt vom Wal, der mehr ist als bloß eines von vielen Geschöpfen Gottes unter der pazifischen Sonne, der gar ein weißer Gott der Meere ist, den man nicht zum Zorne reizen soll und der tödliche Rache üben kann. Und genau hier, in der sakralen Überhöhung des Wals, trifft sich Severin in großartiger Geste mit dem untergründigen Thema Melvilles, der naturrechtswidrigen Zerstörung des Menschen durch den Menschen.
Schimmeliger Schiffszwieback
In der tödlichen Einsamkeit des Ozeans begannen auch Owen Chase und die anderen Insassen der Rettungsboote über ihr Unglück zu rätseln. Sie spekulierten über die Affekte des Wals und über den metaphysischen Grund dieses Schicksalsschlags. Es ergab alles keinen Sinn. Woher konnten sie sich Rettung erhoffen? Es gab kaum Schiffsverkehr in dieser Gegend. Bewohnte Inseln lagen westwärts, aber man munkelte, dort lebten bloß Kannibalen. Sie beschlossen, Kurs auf die südamerikanische Küste zu nehmen. Bevor das Schiff sank, hatten sie ihre Boote noch mit Wasser und Zwieback gefüllt. Für sechzig Tage könnte der Vorrat reichen.
Philbrick deutet die Katastrophe der Walfänger in geradezu alttestamentarischer Weise als eine spiegelnde Strafe. Im Moment das Unglücks hatte der Wal nicht nur die Jäger zu Gejagten gemacht. Auch der ganze Walfang selbst erleidet historisch das Schicksal des gefangenen und erlegten Wals. Schon das gerammte Schiff, die Essex, liegt nach dem entscheidenden Streich auf der Meeresoberfläche wie ein verendendes Tier. Sie blutet aus ihrem Rumpf den Inhalt der einst stolz gefüllten Fässer. Das Schiff verliert sein Lebenselixier. Und mehr noch: Das Walöl wird vom kostbaren Vermögen der Seeleute zu einer stinkenden Masse, die ins letzte Refugium der Havarierten schwappt und es gefährlich verpestet, statt die Insassen zu bereichern. Später werden andere Wale die Boote attackieren, wieder eine rätselhafte Bekräftigung des Rollentausches. Sogar der Heimathafen der Essex, Nantucket, wird schon bald in Pervertierung des Grundes seines Reichtums verarmen, denn er kennt nichts anderes als die elende Walschlächterei, und sie hat sich durch ihr Unmaß selbst zugrunde gerichtet.
Übernatürliche Parallelen zuhauf. Gleicht nicht Ahabs Auge dem des rachsüchtigen Wals? Der meuchelnden Gier der amerikanischen Walfänger des neunzehnten Jahrhunderts stellt der Abenteurer Severin den halb abergläubischen, halb spirituellen Umgang der heutigen Südseebewohner gegenüber. Er beschreibt ihre vormoderne Wirtschaftsgesellschaft, in der das Walfleisch die Hauptwährung ist, und bekundet Sympathie für ihr archaisches Verhältnis zur Natur. Der Walfang ist ihnen Handwerk, keine präindustrieller Moloch, der am Ende nur Opfer produziert. An einer anachronistischen Heroisierung des Walfangs schrammt Severin dabei manchmal nur knapp vorbei. Es gibt auch Walkitsch im Hause Moby Dicks. Doch auch Severin attestiert der vormodernen Jagd keine Unschuld mehr, der Walfang bleibt grausam und blutig, und man fühlt einen seelischen Schmerz, wenn Severin von den Mutter-Kind-Beziehungen unter den getriebenen Säugern spricht. Und dann betritt bei Severin rächend der einzigartige, weiße Wal die große Bühne des Ozeans, um sich mit seinen Jägern das große Schauspiel der Gerechtigkeit zu liefern. Edel, groß und klug muß dieser Wal sein. Sein Atem gilt als giftig. Im Ozean ist er ein einsamer Fürst, vor dem sich seine Feinde ängstigen, ein absolutistisches Monstrum, fürsorglich und furchterregend in einem Blast.
Synchronisiert man diese Charakterbilder mit den Beschreibungen des Antlitzes des Wals, so wird die wissenschaftliche Vorstellungswelt nicht nur der Insulaner, sondern auch von Severin selbst deutlich: Sie sind eingeschworene Physiognomiker, die fest an die Lesbarkeit der lebenden Gestalt glauben. In einer immer durchschaubarer, positivistischeren Welt verstecken sich hinter dieser hohen Walstirn mit ihren Narben verschlüsselte Zeichen, die auf eine einsame, große Seele, gottesnah und gottesähnlich, verweisen. Nicht von ungefähr betont der Historiker Philbrick, daß sich im Walfang vormoderne und industrielle Welt begegneten.
Auch für die Wirkungsgeschichte von Melvilles "Moby Dick" war diese historische Verschränkung entscheidend. Solange noch die Trankocher auf hoher See wüteten, solange der Walfang eine massenhafte Praktik war, taugte er wenig als Projektionsfläche zivilisatorischer Selbstbefragungen. Erst später begriff man ihn als jene große kulturelle Metapher, die nun auch Philbrick und Severin mit glänzenden Miniaturen und überschießenden Deutungen füllen. Daß sie die historische Vorlage des Owen Chase dabei zum "Meisterwerk" stilisieren und ihr "episches Ausmaß" attestieren, ist ein Fall von walbedingter Betriebsblindheit, die man ihnen gerne nachsieht.
Gerichtet, gerettet
Ein Boot wird gerettet durch ein englisches Schiff, kurz vor der chilenischen Küste, nach erstaunlichen 2500 Meilen auf dem offenen Ozean, ein anderes einige Tage später dreihundert Meilen weiter südlich durch ein anderes Schiff. Fünf von zwanzig Seeleuten haben überlebt. Auch die drei Männer auf der Insel werden halbtot gerettet. Das dritte Boot bleibt verschwunden.
Just in dem Jahr, als die großen Wale so ausgerottet waren, daß man von Nantucket in den Pazifik segeln mußte, um sie zu töten, als man ihnen heftiger nachstellte, da kehrte sich die Walbesessenheit wundersam gegen die Jäger, die nicht ablassen wollen von dem Tier. Denn der rachsüchtige Kapitän Ahab hört nicht auf die Worte Starbucks: "Sieh! Moby Dick sucht dich nicht. Du bist es, du, Besessener, bist's, der ihn sucht." Der moderne Roman hat einen vormodernen Kern: Die Wunde schließt der Wal nur, der sie schlug.
MILOS VEC
Nathaniel Philbrick: "Im Herzen der See". Die letzte Fahrt des Walfängers Essex. Aus dem Amerikanischen von Andrea Kann und Klaus Fritz. Blessing Verlag, München 2000. 352 S., Abb., geb., 44,- DM.
Tim Severin: "Der weiße Gott der Meere". Auf der Suche nach dem legendären Moby Dick. Aus dem Englischen von F. Florian Marzin: Verlag Rütten und Loening, Berlin 2000. 287 S., geb., 39,90 DM.
Owen Chase: "Der Untergang der Essex". Herausgegeben von Iola Haverstick und Betty Shepard. Mit einer Einleitung von Gary Kinder. Aus dem Englischen von Michael Benthack. Verlag Die Hanse, Hamburg 2000. 150 S., Abb., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einsamer niemand als Moby Dick: Drei Bücher erschließen den Stoff, aus dem Herman Melvilles Albtraum von menschlicher Hybris wurde
Das brachiale Krachen, das das neunzehnte Jahrhundert an jenem Novembertag des Jahres 1820 erschütterte, erschien später weniger als die unvorhersehbare Katastrophe eines Schiffes, sondern als logischer Höhepunkt eines Dramas, in dem sich Naturgeschichte und Zivilisation kreuzten. Der bis dato unvorstellbare Angriff des Wals, die schauderhafte Geschichte des Schiffbrüchigen des Walfängers Essex bilden nicht nur den Plot zu einem der berühmtesten Schiffsunglücke. Auch Melvilles "Moby Dick" ist ohne diese Vorgeschichte und die Legenden, die sich um den Untergang der Essex rankten, nicht denkbar. Und wie bei dem erstaunlichen, unauslotbaren Roman Melvilles, so bleibt auch bei seiner historischen Vorlage die Pointe ausdeutbar, vexierend und verweist den Lesenden auf seine eigene, gebrochene Identität und abgründige Seele.
Die objektiven Stationen der Geschichte dieses epochalen Scheiterns sind strikt kanonisiert. Ein Überlebender, der Obermaat Owen Chase, hatte bald nach seiner Rettung einen Bericht geschrieben, der als historisches Seefahrer-Dokument nun auch auf deutsch erschienen ist. Der knappe Text ist die zentrale autoritative Quelle für alle Exegeten der Katastrophe. Auch der junge Seemann, dem er 1842 an Bord der "Lima" in die Hände fiel und der später die erste große und bis heute gültige Interpretation dazu erschuf, zeigte sich vom Text nachhaltig beeindruckt und sog begierig jedes Detail in sich auf: Wie Herman Melville einst, so wälzen nun auch die ungleichen Bearbeiter Nathaniel Philbrick und Tim Severin den Mythos Moby Dick von einer Walseite auf die andere und fördern dabei neue Aspekte zutage, teils fein und sprühend wie die sommerliche Gischt vor der Küste Neuenglands, teils gewaltig wie jene pazifischen Brecher, die über die Reeling der Rettungsboote der Essex stürzten.
Hilfe, wir werden schanghait
Der Obermaat Chase hatte nach seiner Heimkehr wenig Zeit und noch weniger lyrischen Atem, um den neugierigen Zeitgenossen den ersehnten Bericht über das Schicksal der Essex im Druck zu liefern. Trotz Einsatz eines Ghostwriters ist der Text eine spröde Aneinanderreihung von Tatsachen, die den Leser bloß über das Maß der Leiden unterweist, die der Mensch ertragen kann, bevor er, wahnsinnig vor Hunger und Durst, menschenunwürdig krepiert. Chase schildert in strikter Chronologie die Abreise aus seiner Heimatstadt Nantucket im Sommer 1819, die die Essex verließ, um im fernen Pazifik ihr Glück zu suchen. Seine kalte Erzählung gewinnt ihre Höhepunkte aus dem Wissen des Lesers um die schrecklichen Ereignisse, die dem Berichterstatter widerfahren werden und an die beide, Leser und Autor, immer denken müssen, gleich ob Chase von Pannen oder von Zerstreuungen an Bord des Walfängers plaudert.
Denn an jenem entscheidenden Tag im November 1820, als die See so wunderbar heiter war, als die Sonne über dem pazifischen Äquator glänzte und als es der Besatzung geradezu ein idealer Tag zum Töten schien, da rammte zweimal ein Pottwal den Bug der Essex, die sofort kenterte und schließlich sank. Die Mannschaft rettete sich auf drei Boote, nahm vom Schiff so viel mit, wie sie konnte, und gab sich jener bodenlosen Verzweiflung hin, die sie später noch unendlich heftiger heimsuchen sollte. Denn die Männer trieben mitten im Pazifik fern der südamerikanischen Küste; das Tier, das sie selbst erbeuten sollten, hatte sie nun zur leichten Beute des unberechenbaren Ozeans gemacht.
Severin und Philbrick liefern zwei grundverschiedene Erzählungen zum Grundthema des angriffslustigen Wals. Philbrick ist der akkurate Buchhalter des Schicksals, der noch jedes verfügbare Beweisstück befragt hat, neue Quellen zutage fördert und die historischen Geschehnisse wo nur möglich mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft abgleicht. Er kritisiert aus der Perspektive der Sozialpsychologie den Führungsstil des Kapitäns, er konfrontiert den Hunger des Obermaats im Jahre 1820 mit den schaurigen wissenschaftlichen Experimenten der Amerikaner aus dem Zweiten Weltkrieg über das Aushungern des Menschen, und er bemäkelt den Wissenstransfer unter den Seefahrern. All dies montiert Philbrick zu einem dichten, wissenschaftlich fundierten Panorama, das dem Leser sogar den vorsätzlichen Angriff eines Pottwals auf ein 238-Tonnen-Schiff erklärt.
Dagegen hat Tim Severin unter dem Vorwand, etwas über die historischen Hintergründe der Legende Moby Dick zu erfahren, im Pazifik nach seinen Spuren gesucht. Er sprach mit Insulanern über die Physiognomie der Meerestiere, er wartete mit ihnen in der tödlichen Stille der See auf das Auftauchen der Wale, und er ließ die verunglückten Harpuniere in ihren schäbigen Hütten vom großen Tier erzählen, das mit einem Flossenschlag ihr Leben zerstört hat.
Das Buch hat fünf Anfänge und keinen Schluß. Sein Autor entwirft von Kapitel zu Kapitel neue, sich in ihrer Einfalt überbietende theoretisierende Leitfragen, die seine Suche rechtfertigen sollen. Man merkt ihm kaum an, daß sein Autor "Moby Dick" gelesen hat, und wenn, dann vermutlich ziemlich oberflächlich. Und dennoch ist es ein wunderbares Buch. Denn Severin ist ein Abenteurer und Erzähler, voller Neugier und Beobachtungsgabe, der den Leser mit Detailschilderungen großartig zu fesseln vermag. Er beschreibt in unvergleichlichen Bildern, wie ein alter Harpunier ihm in seinem Garten den Wurf der Lanze inszeniert, wie der triste Alltag der Südseebewohner auf ihren verarmenden Atollen aussieht und wie die pazifischen Mythen vom einzigartigen weißen Wal fortleben bis in die Gegenwart. Er erzählt vom Wal, der mehr ist als bloß eines von vielen Geschöpfen Gottes unter der pazifischen Sonne, der gar ein weißer Gott der Meere ist, den man nicht zum Zorne reizen soll und der tödliche Rache üben kann. Und genau hier, in der sakralen Überhöhung des Wals, trifft sich Severin in großartiger Geste mit dem untergründigen Thema Melvilles, der naturrechtswidrigen Zerstörung des Menschen durch den Menschen.
Schimmeliger Schiffszwieback
In der tödlichen Einsamkeit des Ozeans begannen auch Owen Chase und die anderen Insassen der Rettungsboote über ihr Unglück zu rätseln. Sie spekulierten über die Affekte des Wals und über den metaphysischen Grund dieses Schicksalsschlags. Es ergab alles keinen Sinn. Woher konnten sie sich Rettung erhoffen? Es gab kaum Schiffsverkehr in dieser Gegend. Bewohnte Inseln lagen westwärts, aber man munkelte, dort lebten bloß Kannibalen. Sie beschlossen, Kurs auf die südamerikanische Küste zu nehmen. Bevor das Schiff sank, hatten sie ihre Boote noch mit Wasser und Zwieback gefüllt. Für sechzig Tage könnte der Vorrat reichen.
Philbrick deutet die Katastrophe der Walfänger in geradezu alttestamentarischer Weise als eine spiegelnde Strafe. Im Moment das Unglücks hatte der Wal nicht nur die Jäger zu Gejagten gemacht. Auch der ganze Walfang selbst erleidet historisch das Schicksal des gefangenen und erlegten Wals. Schon das gerammte Schiff, die Essex, liegt nach dem entscheidenden Streich auf der Meeresoberfläche wie ein verendendes Tier. Sie blutet aus ihrem Rumpf den Inhalt der einst stolz gefüllten Fässer. Das Schiff verliert sein Lebenselixier. Und mehr noch: Das Walöl wird vom kostbaren Vermögen der Seeleute zu einer stinkenden Masse, die ins letzte Refugium der Havarierten schwappt und es gefährlich verpestet, statt die Insassen zu bereichern. Später werden andere Wale die Boote attackieren, wieder eine rätselhafte Bekräftigung des Rollentausches. Sogar der Heimathafen der Essex, Nantucket, wird schon bald in Pervertierung des Grundes seines Reichtums verarmen, denn er kennt nichts anderes als die elende Walschlächterei, und sie hat sich durch ihr Unmaß selbst zugrunde gerichtet.
Übernatürliche Parallelen zuhauf. Gleicht nicht Ahabs Auge dem des rachsüchtigen Wals? Der meuchelnden Gier der amerikanischen Walfänger des neunzehnten Jahrhunderts stellt der Abenteurer Severin den halb abergläubischen, halb spirituellen Umgang der heutigen Südseebewohner gegenüber. Er beschreibt ihre vormoderne Wirtschaftsgesellschaft, in der das Walfleisch die Hauptwährung ist, und bekundet Sympathie für ihr archaisches Verhältnis zur Natur. Der Walfang ist ihnen Handwerk, keine präindustrieller Moloch, der am Ende nur Opfer produziert. An einer anachronistischen Heroisierung des Walfangs schrammt Severin dabei manchmal nur knapp vorbei. Es gibt auch Walkitsch im Hause Moby Dicks. Doch auch Severin attestiert der vormodernen Jagd keine Unschuld mehr, der Walfang bleibt grausam und blutig, und man fühlt einen seelischen Schmerz, wenn Severin von den Mutter-Kind-Beziehungen unter den getriebenen Säugern spricht. Und dann betritt bei Severin rächend der einzigartige, weiße Wal die große Bühne des Ozeans, um sich mit seinen Jägern das große Schauspiel der Gerechtigkeit zu liefern. Edel, groß und klug muß dieser Wal sein. Sein Atem gilt als giftig. Im Ozean ist er ein einsamer Fürst, vor dem sich seine Feinde ängstigen, ein absolutistisches Monstrum, fürsorglich und furchterregend in einem Blast.
Synchronisiert man diese Charakterbilder mit den Beschreibungen des Antlitzes des Wals, so wird die wissenschaftliche Vorstellungswelt nicht nur der Insulaner, sondern auch von Severin selbst deutlich: Sie sind eingeschworene Physiognomiker, die fest an die Lesbarkeit der lebenden Gestalt glauben. In einer immer durchschaubarer, positivistischeren Welt verstecken sich hinter dieser hohen Walstirn mit ihren Narben verschlüsselte Zeichen, die auf eine einsame, große Seele, gottesnah und gottesähnlich, verweisen. Nicht von ungefähr betont der Historiker Philbrick, daß sich im Walfang vormoderne und industrielle Welt begegneten.
Auch für die Wirkungsgeschichte von Melvilles "Moby Dick" war diese historische Verschränkung entscheidend. Solange noch die Trankocher auf hoher See wüteten, solange der Walfang eine massenhafte Praktik war, taugte er wenig als Projektionsfläche zivilisatorischer Selbstbefragungen. Erst später begriff man ihn als jene große kulturelle Metapher, die nun auch Philbrick und Severin mit glänzenden Miniaturen und überschießenden Deutungen füllen. Daß sie die historische Vorlage des Owen Chase dabei zum "Meisterwerk" stilisieren und ihr "episches Ausmaß" attestieren, ist ein Fall von walbedingter Betriebsblindheit, die man ihnen gerne nachsieht.
Gerichtet, gerettet
Ein Boot wird gerettet durch ein englisches Schiff, kurz vor der chilenischen Küste, nach erstaunlichen 2500 Meilen auf dem offenen Ozean, ein anderes einige Tage später dreihundert Meilen weiter südlich durch ein anderes Schiff. Fünf von zwanzig Seeleuten haben überlebt. Auch die drei Männer auf der Insel werden halbtot gerettet. Das dritte Boot bleibt verschwunden.
Just in dem Jahr, als die großen Wale so ausgerottet waren, daß man von Nantucket in den Pazifik segeln mußte, um sie zu töten, als man ihnen heftiger nachstellte, da kehrte sich die Walbesessenheit wundersam gegen die Jäger, die nicht ablassen wollen von dem Tier. Denn der rachsüchtige Kapitän Ahab hört nicht auf die Worte Starbucks: "Sieh! Moby Dick sucht dich nicht. Du bist es, du, Besessener, bist's, der ihn sucht." Der moderne Roman hat einen vormodernen Kern: Die Wunde schließt der Wal nur, der sie schlug.
MILOS VEC
Nathaniel Philbrick: "Im Herzen der See". Die letzte Fahrt des Walfängers Essex. Aus dem Amerikanischen von Andrea Kann und Klaus Fritz. Blessing Verlag, München 2000. 352 S., Abb., geb., 44,- DM.
Tim Severin: "Der weiße Gott der Meere". Auf der Suche nach dem legendären Moby Dick. Aus dem Englischen von F. Florian Marzin: Verlag Rütten und Loening, Berlin 2000. 287 S., geb., 39,90 DM.
Owen Chase: "Der Untergang der Essex". Herausgegeben von Iola Haverstick und Betty Shepard. Mit einer Einleitung von Gary Kinder. Aus dem Englischen von Michael Benthack. Verlag Die Hanse, Hamburg 2000. 150 S., Abb., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main