Wer hat nicht schon mit dem Gedanken gespielt, wenigstens für zwei Wochen aus der Welt zu verschwinden? Fünf Jugendfreunde im postkommunistischen Warschau, "gut dreißig, Nachkommenschaft auf dem Hals", brechen ins Ungewisse auf.Ihres Alltags überdrüssig, lassen sie sich von Wasyl Bandurko, dem gescheiterten Pianisten, zu einem Abenteuer überreden, das sie in das wilde, spärlich besiedelte Gebiet an der polnisch-slowakischen Grenze führt. Nicht alle kennen den Zweck des Ausflugs: Bandurko will seinen eigenen Tod inszenieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.1998Am Boden der Flasche ruht der Sinn
Hochprozentig: Andrzej Stasiuks Roman "Der weiße Rabe" · Von Thomas Wirtz
Schlimmer als der Tod ist das Warten auf ihn. Wie alle letzten Sätze ist auch dieser zu überbieten. In einem wunderbar sprachtrunkenen Buch läßt Andrzej Stasiuk seine Figuren so lange den Fuselbecher der Verzweiflung leeren, bis an seinem Boden die polnische Variante dieser Wahrheit aufscheint. Sie heißt: Schlimmer als der Tod ist die Unsicherheit, ob das Leben überhaupt anfangen wird.
Fünf Freunde ziehen mit Rucksack und Zigarettenpack in das Grenzgebiet zur Slowakei, um das Fürchten zu lernen. Das Warten auf die Auferstehung in Warschau hat einen von ihnen, Wasyl, mürbe gemacht. Das Klavierspielen hat er aufgegeben, und auch das Befingern junger Knaben betreibt er nur mehr lustlos. In dieser ununterscheidbaren Landschaft von Schnee, die dem Auge alle Abwechslung entzieht und dem Gehenden Langsamkeit auf die Schultern legt, will er deshalb den Tod suchen, um das Leben zu finden. "Ereignisse müssen her." Dort, wo zerbombte Ruinen das Sterben der Partisanen von 1941 bezeugen, verfallen fünf ihrer Nachkommen in pfadfinderhafte Aufgeregtheit. Sie scheinen der Werbung ihrer Zigaretten erlegen, die auch im Schneetreiben nicht ausgehen und ihnen den blauen Dunst vom befreienden Abenteuer vormachen.
Als Kostek, fremd unter den Jugendfreunden und als Abstinenzler eminent gefährlich, mit willkürlicher Gewalt einen Offizier anfällt, entgleitet ihnen das Spiel. Plötzlich enthüllt sich das bisher unterlassene Handeln als Bedingung ihrer flanierenden Freiheit. Von nun an sind sie auf der Flucht, um das Leben nicht zu verlieren, von dessen Besitz sie vorher nichts wissen wollten. Ihre Körper zerfallen durch Krankheit, reißen im Sturz auf und fangen an zu stinken, als wollten sie die Verwesung vorwegnehmen. Was bleibt, ist die Stummheit unter den Freunden, in die von Zeit zu Zeit expressionistische Granaten der Ich-Deklamation hineinfallen. Bildmächtig bestätigt auch dieser Roman, daß Wodka nur aus Sinnfragen destilliert sein kann. Seine Prozente gibt er an eine Trinkerprosa weiter, für die Frauen kein Gesicht, Schnäpse aber immer einen Markennamen haben. In ihren erbärmlich kalten Verstecken, zwangsweise ruhiggestellt und mit den Gedanken erschreckend allein, finden die Figuren zu einem Existentialismus der Katatonie. Wie die Birne im Obstwasser untergegangen ist und ihr Weg durch den engen Flaschenhals den Rationalismus des westlichen Trinkers herausfordert, so tauchen im Osten aus sinkendem Wodkapegel immer nur die letzten Dinge auf.
Die Antwort auf das Ausbleiben von Gegenwart heißt Warten, eine Stumpfheit des Körpers, der gleichwohl für die Erweckung bereit sein soll. Dafür packt Alkohol ihn in Watte, um alle ablenkende Berührung von ihm fernzuhalten. Nichtstun ist nur die Einübung in diese Metaphysik der Lethargie, die alleine den uneingeweihten Beobachter naserümpfend von Faulheit sprechen läßt. Tatsächlich befindet sich der starrblickende Adept im aufmerksamen Gottesdienst, ist alle seine Anstrengung auf die letzten Dinge gespannt, mit denen erst das Leben nach dem Tod in Polen beginnt. Seine Dementia will die Erhellung vorbereiten. "Wenn es eine Auferstehung gibt, dann müssen im Jenseits alle den Verstand verloren haben. Vom langen Warten." Nach der Lektüre kann man davon ausgehen, daß der polnische Geisteszustand auf diesen Moment gut vorbereitet ist. Er probt nämlich schon hier den jenseitigen Ernstfall.
Am Ende der Geschichte warten zwei Tote und ein Buch. Keinen Kummer bereitet der Absturz des einen, weil er nur aus Lodz kam. Und auch der andere gehörte nie wirklich dazu, weil er neben Geld noch eine fürsorgliche Mutter besaß. Beides schädigte ihn lebenslänglich mit einer Individualität, die noch seinen Tod als Querköpfigkeit erscheinen läßt. Es praktiziert eine Erinnerung, die die Zeit in das Warten hineinpumpt und damit Lebensverantwortung übernimmt. Denn aus dem gleißenden Schnee scheinen Bilder ihrer gemeinsamen Jugend auf Nacktbadetage am Baggerloch, der vollmundige erste Kuß. Gleich einer polnischen Münchhausiade zieht das Erzählen sich aus dem Pulverschnee der Verzweiflung. Dieses Buch ist - anders als der Titel es verspricht - bis ins Gefieder hinein rabenschwarz gefärbt. Wenn irgendwo in ihm Hoffnung liegt, dann hat sie sich an seiner Oberfläche verborgen: im Umstand, daß es überhaupt geschrieben werden konnte.
Andrzej Stasiuk: "Der weiße Rabe". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1998. 348 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hochprozentig: Andrzej Stasiuks Roman "Der weiße Rabe" · Von Thomas Wirtz
Schlimmer als der Tod ist das Warten auf ihn. Wie alle letzten Sätze ist auch dieser zu überbieten. In einem wunderbar sprachtrunkenen Buch läßt Andrzej Stasiuk seine Figuren so lange den Fuselbecher der Verzweiflung leeren, bis an seinem Boden die polnische Variante dieser Wahrheit aufscheint. Sie heißt: Schlimmer als der Tod ist die Unsicherheit, ob das Leben überhaupt anfangen wird.
Fünf Freunde ziehen mit Rucksack und Zigarettenpack in das Grenzgebiet zur Slowakei, um das Fürchten zu lernen. Das Warten auf die Auferstehung in Warschau hat einen von ihnen, Wasyl, mürbe gemacht. Das Klavierspielen hat er aufgegeben, und auch das Befingern junger Knaben betreibt er nur mehr lustlos. In dieser ununterscheidbaren Landschaft von Schnee, die dem Auge alle Abwechslung entzieht und dem Gehenden Langsamkeit auf die Schultern legt, will er deshalb den Tod suchen, um das Leben zu finden. "Ereignisse müssen her." Dort, wo zerbombte Ruinen das Sterben der Partisanen von 1941 bezeugen, verfallen fünf ihrer Nachkommen in pfadfinderhafte Aufgeregtheit. Sie scheinen der Werbung ihrer Zigaretten erlegen, die auch im Schneetreiben nicht ausgehen und ihnen den blauen Dunst vom befreienden Abenteuer vormachen.
Als Kostek, fremd unter den Jugendfreunden und als Abstinenzler eminent gefährlich, mit willkürlicher Gewalt einen Offizier anfällt, entgleitet ihnen das Spiel. Plötzlich enthüllt sich das bisher unterlassene Handeln als Bedingung ihrer flanierenden Freiheit. Von nun an sind sie auf der Flucht, um das Leben nicht zu verlieren, von dessen Besitz sie vorher nichts wissen wollten. Ihre Körper zerfallen durch Krankheit, reißen im Sturz auf und fangen an zu stinken, als wollten sie die Verwesung vorwegnehmen. Was bleibt, ist die Stummheit unter den Freunden, in die von Zeit zu Zeit expressionistische Granaten der Ich-Deklamation hineinfallen. Bildmächtig bestätigt auch dieser Roman, daß Wodka nur aus Sinnfragen destilliert sein kann. Seine Prozente gibt er an eine Trinkerprosa weiter, für die Frauen kein Gesicht, Schnäpse aber immer einen Markennamen haben. In ihren erbärmlich kalten Verstecken, zwangsweise ruhiggestellt und mit den Gedanken erschreckend allein, finden die Figuren zu einem Existentialismus der Katatonie. Wie die Birne im Obstwasser untergegangen ist und ihr Weg durch den engen Flaschenhals den Rationalismus des westlichen Trinkers herausfordert, so tauchen im Osten aus sinkendem Wodkapegel immer nur die letzten Dinge auf.
Die Antwort auf das Ausbleiben von Gegenwart heißt Warten, eine Stumpfheit des Körpers, der gleichwohl für die Erweckung bereit sein soll. Dafür packt Alkohol ihn in Watte, um alle ablenkende Berührung von ihm fernzuhalten. Nichtstun ist nur die Einübung in diese Metaphysik der Lethargie, die alleine den uneingeweihten Beobachter naserümpfend von Faulheit sprechen läßt. Tatsächlich befindet sich der starrblickende Adept im aufmerksamen Gottesdienst, ist alle seine Anstrengung auf die letzten Dinge gespannt, mit denen erst das Leben nach dem Tod in Polen beginnt. Seine Dementia will die Erhellung vorbereiten. "Wenn es eine Auferstehung gibt, dann müssen im Jenseits alle den Verstand verloren haben. Vom langen Warten." Nach der Lektüre kann man davon ausgehen, daß der polnische Geisteszustand auf diesen Moment gut vorbereitet ist. Er probt nämlich schon hier den jenseitigen Ernstfall.
Am Ende der Geschichte warten zwei Tote und ein Buch. Keinen Kummer bereitet der Absturz des einen, weil er nur aus Lodz kam. Und auch der andere gehörte nie wirklich dazu, weil er neben Geld noch eine fürsorgliche Mutter besaß. Beides schädigte ihn lebenslänglich mit einer Individualität, die noch seinen Tod als Querköpfigkeit erscheinen läßt. Es praktiziert eine Erinnerung, die die Zeit in das Warten hineinpumpt und damit Lebensverantwortung übernimmt. Denn aus dem gleißenden Schnee scheinen Bilder ihrer gemeinsamen Jugend auf Nacktbadetage am Baggerloch, der vollmundige erste Kuß. Gleich einer polnischen Münchhausiade zieht das Erzählen sich aus dem Pulverschnee der Verzweiflung. Dieses Buch ist - anders als der Titel es verspricht - bis ins Gefieder hinein rabenschwarz gefärbt. Wenn irgendwo in ihm Hoffnung liegt, dann hat sie sich an seiner Oberfläche verborgen: im Umstand, daß es überhaupt geschrieben werden konnte.
Andrzej Stasiuk: "Der weiße Rabe". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1998. 348 S., geb., 38,- DM.
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