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In kristallklaren Sätzen wird das polnische Bauernleben der Vorkriegszeit in seiner ganzen harten Schönheit gezeigt und vermischt sich mit Träumen, Religion, Aberglaube und Mystik zu einem rauschhaften, detailscharfen Panorama des polnischen Lebens. "Ein magisches Buch..." (Hanna Krall)

Produktbeschreibung
In kristallklaren Sätzen wird das polnische Bauernleben der Vorkriegszeit in seiner ganzen harten Schönheit gezeigt und vermischt sich mit Träumen, Religion, Aberglaube und Mystik zu einem rauschhaften, detailscharfen Panorama des polnischen Lebens.
"Ein magisches Buch..." (Hanna Krall)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.1998

Der parfümierte Misthaufen
Weitläufig: Anna Boleckas Freuden des Landlebens

In der polnischen Gegenwartsliteratur hat der Dorfroman einen Stammplatz. Bei uns unbekannte Autoren wie Olga Tokarczuk oder Wieslaw Mysliwski wählen die ländliche Welt zum Schauplatz ihrer Romane und stoßen damit beim Publikum und der Kritik auf ein Bedürfnis nach nostalgischer Versenkung in eine überschaubare Ordnung, die das Chaos der Historie im jahreszeitlichen Zyklus von Aussaat und Ernte bannt. Ausgangspunkt dieser Literatur ist Trauer über den Verlust einer Mitte. Auch die lange verdrängte ethnische Heterogenität Vorkriegs-Polens ist neuerdings ein wichtiger Gegenstand der Erzählliteratur. Die 1951 in Warschau geborene Anna Bolecka verbindet beide Strömungen. In ihrem Roman "Der weiße Stein" begibt sie sich auf eine imaginative Exkursion in die jüdisch-polnische Welt Galiziens vor dem Ersten Weltkrieg.

Der Urgroßvater Boleckas starb 1938. In seinen letzten Jahren ahnte er das kurz darauf hereinbrechende Unheil voraus. Sein Jugendfreund Benko, ein Jude, wird bei Kriegsausbruch einen Herzinfarkt erleiden, Julcia Nachtigall, die engelsgleiche Tochter der jüdischen Nachbarn, im Lubliner Ghetto umkommen. Gegen die Schrecken der Gegenwart beschwört der Alte die verlorene Zeit seiner Kindheit herauf. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren und in Kuromeki, einem kleinen Ort an der Grenze zwischen dem russischen und dem österreichischen Teil Galiziens, von entfernten Verwandten aufgezogen, wuchs er in eine geschlossene Welt voller Wunder und Aberglauben hinein. Die friedlich zusammenlebenden katholischen Polen, protestantischen Deutschen, orthodoxen Ukrainer und Juden brachten ihre eigenen Rituale, Bräuche und Lebensweisheiten in das Dorfleben, das außerdem von den Überbleibseln der heidnischen Geisterwelt bevölkert war. In dieser Welt vor der Entzauberung war alles Vorzeichen, Warnung und Verheißung.

Boleckas Thema sind nicht die im Zusammenstoß von Alt und Neu verborgenen Konflikte; sie begnügt sich mit der epischen Schilderung eines multikulturellen Mikrokosmos, den sie mit den Augen ihres Ahnen zum idyllischen Schmelztiegel verklärt. An jüdischen Festen nimmt das ganze Dorf Anteil, und wenn ihr Kind an einer rätselhaften Krankheit leidet, dann geht die jüdische Mutter, Goj hin oder her, zum heidnischen Wunderheiler.

Nun ist historische Wahrheit nicht der einzige Maßstab, an dem sich ein mimetischer Zugriff auf eine vergangene Epoche messen lassen müßte. Als Überbrückung der Gräben zeitlicher Distanz gewinnt auch die Imagination ihr Recht. Doch die deutliche Indienststellung der Vergangenheit als Kontrastmittel zum späteren, bis heute virulenten polnischen Antisemitismus bekommt dem Roman nicht gut. Denn die Glaubwürdigkeit seiner Alltagsschilderungen ist angesichts des Fehlens einer dramatischen Handlung sein einziges Kapital. Das Dasein des Urgroßvaters findet denkbar unspektakulär zwischen Arbeit, Essen und Familie seine Erfüllung, und einzig eine helleuchtende, aber verbotene Liebe wirft etwas wie einen Schatten der Sehnsucht auf die wenig abwechslungsreich bestellten Felder seines Lebensromans.

Doch gerade die Passagen, in denen Bolecka die emotionale Tiefe des scheinbar in der Enge des Dorfes verkümmernden Lebens ausloten will, geraten ihr zu peinlichem Kitsch. Vor allem die geheime Liebe des Urgroßvaters zu der Ukrainerin Podolanka ist ein fruchtbarer Boden für Bilder und Vergleiche mit überdeutlichen Gebrauchsspuren. Seine Angebetete ist "schön wie eine pralle, reife Frucht", ihr Bild "steckte tief in ihm wie eine Pflanze, die auf Sonne und Regen wartet, um aufzublühen", ihr Gesang war "klar und kraftvoll wie Vogelgezwitscher". Und ach, die Freuden des Landlebens! Bei allem Vorbehalt gegenüber sozialistischem Realismus: Muß gleich jeder Misthaufen stilistisch parfümiert werden? Kein Euter bleibt hier ohne Euphemismus. Körper sind warm, Schnauzen feucht, Wasser klar und Gräser weich. Über die Frau des Landmanns heißt es: "Ihre Kinder wuchsen gesund heran, und sie wartete sehnsüchtig auf neuen Segen und die Zeit, wenn sie sich wieder mit der Geduld der Tiere (sic!) den Freuden der Mutterschaft würde hingeben können. Besonders das Stillen empfand sie tief."

Die sprachlichen Gemeinplätze verweigern vor allem den Nebenfiguren jede Individualität. Während das von Ritualen umfangene Sterben eines weisen Rabbis ausführlich als Beispiel der reichen jüdischen Kultur berichtet wird, ist Bolecka der Tod der beiden Frauen im Leben ihres Helden jeweils einen kurzen Satz wert. Selbst der Tötung des Lieblingshundes durch vorbeiziehende Soldaten wird mehr Platz eingeräumt. Entlarvend ist die allegorische Überhöhung: Das Tier hört auf den Namen "Dreyfus". Die gutgemeinte Absicht, gegen die Katastrophen unseres Jahrhunderts ein goldenes Zeitalter religiöser Toleranz aufzubieten, rechtfertigt nicht die moralisierende Instrumentalisierung des historischen Eigensinns. So verfehlt Anna Bolecka die Wahrheit eines Lebens, die sie ans Licht befördern wollte. RICHARD KÄMMERLINGS

Anna Bolecka: "Der weiße Stein". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Albrecht Lempp. Berlin Verlag, Berlin 1998. 240 S., geb., 34,- DM.

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