Aus der Geschichte lernen: Warum wir heute unsere liberalen Werte verteidigen müssen!
Einer der führenden Historiker in Deutschland und sein Aufruf gegen die Geschichtsvergessenheit: Wir müssen immer wieder neu für die Werte der Freiheit kämpfen!
Magnus Brechtken öffnet uns die Augen: In seiner fulminant erzählten Tour durch die Geschichte zeigt er an zehn Beispielen, wie hart die Werte von Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe erkämpft wurden, wie sehr sie das Leben der Menschen verbessert haben - und warum diese Errungenschaften heute auf dem Spiel stehen, durch Nationalisten und Populisten von rechts wie links.
Wieviel Freiheit und welche Rechte hatte ein Bürger vor 150 Jahren? Wie selbstbestimmt war das Leben einer jungen Frau um 1900? Welche Autoritäten prägten die Existenz der Menschen damals? Wie demokratisch war die Gesellschaft? Und wo stehen wir bei all dem heute?
Einer der führenden Historiker in Deutschland und sein Aufruf gegen die Geschichtsvergessenheit: Wir müssen immer wieder neu für die Werte der Freiheit kämpfen!
Magnus Brechtken öffnet uns die Augen: In seiner fulminant erzählten Tour durch die Geschichte zeigt er an zehn Beispielen, wie hart die Werte von Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe erkämpft wurden, wie sehr sie das Leben der Menschen verbessert haben - und warum diese Errungenschaften heute auf dem Spiel stehen, durch Nationalisten und Populisten von rechts wie links.
Wieviel Freiheit und welche Rechte hatte ein Bürger vor 150 Jahren? Wie selbstbestimmt war das Leben einer jungen Frau um 1900? Welche Autoritäten prägten die Existenz der Menschen damals? Wie demokratisch war die Gesellschaft? Und wo stehen wir bei all dem heute?
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass man nicht einschläft beim Lesen eines Buches von einem deutschen Historiker ist für Joachim Käpper offenbar schon ein großes Lob. Aber dieses Buch ist sogar "unterhaltsam", findet er. In erster Linie, so der Kritiker, geht es darum, das Heute beispielsweise in Anbetracht all der Fortschritte in Medizin und Politik, höher zu schätzen, als die meisten Zeitgenossen es kurioserweise tun, obwohl es ihnen so gut geht wie noch nie. Trotz vieler Umwege würde auch jetzt die Aufklärung noch weitergehen, meint der Autor, und der Kritiker schließt sich ihm aus vollem Herzen an.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2020Schützt die historische Erfahrung vor politischer Verirrung?
An der Spitze des moralischen Fortschritts: Magnus Brechtken sucht nach dem Wert der Geschichte und macht es sich dabei viel zu leicht
"Es ist durchaus erstaunlich, wie hartnäckig sich Menschenbilder und Geschichtsphantasien halten, die einer Vorstellung vom freien, selbstbestimmten Individuum zu widersprechen versuchen." So schreibt der Historiker Magnus Brechtken und zielt damit auf autoritäre Herrschaftssysteme in Russland, der Türkei oder China, aber auch auf die Politik Viktor Orbáns und Donald Trumps. Indes: "Wer im Jahr 2020 lebt, hat einen historischen Vorteil: Im Unterschied zu unseren Vorfahren kennen wir die Realitäten und die Folgen ihrer Menschenbilder und Herrschaftsmodelle und können aus den Erfahrungen lernen."
Brechtken, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, hat vor drei Jahren eine umfangreiche Biographie Albert Speers veröffentlicht, die für ihre gründliche Quellenarbeit gerühmt wurde und ihren Autor einem breiteren Publikum bekannt machte. Diesmal hat er sich etwas ganz anderes vorgenommen. "Der Wert der Geschichte" ist ein politisches Buch: Der Wert, den der Autor der Geschichte zuspricht, soll sich in der praktischen Bewältigung der Gegenwart zeigen, als Förderung einer demokratischen, emanzipatorischen, sozialen, friedensgeneigten Politik. Die Erkenntnisfortschritte in der, wie er sich ausdrückt, "harten Welt" der Natur- und Ingenieurwissenschaften liegen für alle offen zutage, da scheint ihm "merkwürdig", dass man "in der weichen Welt" der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder in altertümliche Handlungsweisen zurückfalle, wo uns doch aus der Geschichte "ein riesiger Fundus an Erfahrung und Wissen" zur Verfügung stehe.
Wer sich auch nur kurz einmal mit Wissenschaftstheorie befasst hat, wird das weniger merkwürdig finden. Mit der traditionellen Unterscheidung von nomothetischen Naturwissenschaften und idiographischen Geistes- oder Humanwissenschaften kommt man schon weiter. Die Naturwissenschaften neigen zur Gesetzbildung; ein Kriterium gelungener experimenteller Arbeit ist die Wiederholbarkeit des Experiments. Die Geisteswissenschaften dagegen beschreiben Individualitäten, eine Epoche etwa, einen Stil, ein Werk, eine gesellschaftliche Formation. Dabei hat Brechtken den fundamentalen Unterschied zwischendurch am Wickel, wenn er gegen den Glauben an eine vorbestimmt ablaufende Geschichte polemisiert, also den Unwägbarkeiten, der inneren Heterogenität der historischen Welt ihre Rolle zuweist. Aber er ist intellektuell so fahrig, dass ihm gar nicht auffällt, was das für seine Vorstellung vom Lernen aus der Geschichte bedeutet: Aus einem Gegenstand, der seiner Natur nach diskontinuierlich ist, lässt sich nicht so leicht etwas lernen. Und dass uns heute die historische Erfahrung ein sicherer Schutz vor politischer Verirrung ist, wer sollte das glauben? Auch 1930 gab es schon eine ernsthafte Geschichtswissenschaft, hierzulande nicht weniger als in den Nachbarländern, und doch haben Historiker das Verhängnis des Nationalsozialismus nicht klarer erkannt als andere Deutsche.
Brechtkens Buch setzt sich ein für die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Überwindung des Nationalismus, den Frieden und den sozialen Ausgleich bei Wahrung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Das alles ist nicht unsympathisch, aber was hat das mit dem "Wert der Geschichte" zu schaffen? Der Autor beschreibt die Kämpfe für die genannten Ideale, für das Frauenwahlrecht etwa, und die furchtbaren Folgen von Nationalismus und Krieg. Das Dumme dabei ist aber, dass der Kampf des Westens für Fortschritt und Aufklärung bei Brechtken, dem scharfen Religionskritiker (Religion sieht er als großen Treiber des Fanatismus, ein Vorwurf, den er auch dem Marxismus und natürlich dem Nationalsozialismus macht), etwas Predigthaftes, ja Pfäffisches bekommt. Das Bewusstsein, an der Spitze des moralischen Fortschritts zu stehen, ist intellektuell und moralisch nicht sehr attraktiv, es hat etwas Selbstzufriedenes.
Brechtken sieht schon, dass der Erfolg der chinesischen Volkswirtschaft für Europa eine Herausforderung bedeutet. Wir haben geglaubt, wirtschaftlicher Erfolg sei nicht möglich ohne Freiheit der Marktteilnehmer, die einhergehe mit Demokratie und politischer Freiheit. Nun könnte es so sein, dass uns China eines anderen belehrt. Aber nein, Brechtken fordert für Europa umstandslos die Fortsetzung des bewährten Weges mit Stärkung des sozialen Ausgleichs, so werde die hiesige ökonomische Dynamik gesichert. Was möglicherweise in China neu ist, ob das Land vielleicht über Kraftquellen verfügt, die jenseits unserer Wertvorstellungen liegen, das wird nicht einmal angetippt.
Ein anderes Beispiel seiner gusseisernen Selbstsicherheit: Im Kapitel über die politisch schädlichen Folgen der Religion kommt der Autor kurz auf Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmtes Diktum zu sprechen, dass der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann. Dahinter liegt die Annahme, dass der Staat eines Gemeinsinns bedarf, dessen Entstehung durch eine gewisse Homogenität erleichtert wird; aus ganz anderer Richtung hat der britische Historiker Tony Judt ähnlich geurteilt: Der Sozialstaat brauche eine "funktionierende Vertrauensgemeinschaft", eine Gesellschaft mit Vertrauen aber sei "tendenziell kompakt und recht homogen".
Judt war Jude, Belehrungen über die dunklen Seiten homogener Gesellschaften brauchte er sicherlich nicht. Aber Brechtken fertigt solche Gedanken einfach ab: Es bedürfe nicht der Homogenität, "sondern der Humanität aus rationaler Freiheit". Doch genau das ist ja die Frage, die hier nicht beantwortet, sondern abgewürgt wird. Dass Humanität aus "rationaler Freiheit" sprudele, dass Rationalität zugleich Humanität und Moral bedeute - warum sollte das so sein? Rationalität kann mit blanker Amoralität einhergehen.
Was "rationale Freiheit" ist, erfährt man auch nicht genau; so wenig wie man versteht, ob zwischen "Rationalität, Aufklärung und Vernunft als Prinzipien des Fortschritts" zu differenzieren ist, oder die Worte "Rationalität, Aufklärung und Vernunft" hier alle das Gleiche meinen. Die Naivität, mit der Brechtken das Wort (von "Begriff" mag man kaum sprechen) "Rationaliät" verwendet, ist erstaunlich. Er habe kein "Fachbuch der Geschichtswissenschaft" geschrieben, sagt der Autor, er habe eine "barrierefreie Zusammenfassung" geben wollen. Aber er hat verkannt, dass ein Buch für Fachfremde zu schreiben auch Mühe machen sollte, nicht weniger Mühe als eines für die Kollegen.
STEPHAN SPEICHER
Magnus Brechtken:
"Der Wert der Geschichte". Zehn Lektionen für die
Gegenwart.
Siedler Verlag, München 2020. 303 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An der Spitze des moralischen Fortschritts: Magnus Brechtken sucht nach dem Wert der Geschichte und macht es sich dabei viel zu leicht
"Es ist durchaus erstaunlich, wie hartnäckig sich Menschenbilder und Geschichtsphantasien halten, die einer Vorstellung vom freien, selbstbestimmten Individuum zu widersprechen versuchen." So schreibt der Historiker Magnus Brechtken und zielt damit auf autoritäre Herrschaftssysteme in Russland, der Türkei oder China, aber auch auf die Politik Viktor Orbáns und Donald Trumps. Indes: "Wer im Jahr 2020 lebt, hat einen historischen Vorteil: Im Unterschied zu unseren Vorfahren kennen wir die Realitäten und die Folgen ihrer Menschenbilder und Herrschaftsmodelle und können aus den Erfahrungen lernen."
Brechtken, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, hat vor drei Jahren eine umfangreiche Biographie Albert Speers veröffentlicht, die für ihre gründliche Quellenarbeit gerühmt wurde und ihren Autor einem breiteren Publikum bekannt machte. Diesmal hat er sich etwas ganz anderes vorgenommen. "Der Wert der Geschichte" ist ein politisches Buch: Der Wert, den der Autor der Geschichte zuspricht, soll sich in der praktischen Bewältigung der Gegenwart zeigen, als Förderung einer demokratischen, emanzipatorischen, sozialen, friedensgeneigten Politik. Die Erkenntnisfortschritte in der, wie er sich ausdrückt, "harten Welt" der Natur- und Ingenieurwissenschaften liegen für alle offen zutage, da scheint ihm "merkwürdig", dass man "in der weichen Welt" der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder in altertümliche Handlungsweisen zurückfalle, wo uns doch aus der Geschichte "ein riesiger Fundus an Erfahrung und Wissen" zur Verfügung stehe.
Wer sich auch nur kurz einmal mit Wissenschaftstheorie befasst hat, wird das weniger merkwürdig finden. Mit der traditionellen Unterscheidung von nomothetischen Naturwissenschaften und idiographischen Geistes- oder Humanwissenschaften kommt man schon weiter. Die Naturwissenschaften neigen zur Gesetzbildung; ein Kriterium gelungener experimenteller Arbeit ist die Wiederholbarkeit des Experiments. Die Geisteswissenschaften dagegen beschreiben Individualitäten, eine Epoche etwa, einen Stil, ein Werk, eine gesellschaftliche Formation. Dabei hat Brechtken den fundamentalen Unterschied zwischendurch am Wickel, wenn er gegen den Glauben an eine vorbestimmt ablaufende Geschichte polemisiert, also den Unwägbarkeiten, der inneren Heterogenität der historischen Welt ihre Rolle zuweist. Aber er ist intellektuell so fahrig, dass ihm gar nicht auffällt, was das für seine Vorstellung vom Lernen aus der Geschichte bedeutet: Aus einem Gegenstand, der seiner Natur nach diskontinuierlich ist, lässt sich nicht so leicht etwas lernen. Und dass uns heute die historische Erfahrung ein sicherer Schutz vor politischer Verirrung ist, wer sollte das glauben? Auch 1930 gab es schon eine ernsthafte Geschichtswissenschaft, hierzulande nicht weniger als in den Nachbarländern, und doch haben Historiker das Verhängnis des Nationalsozialismus nicht klarer erkannt als andere Deutsche.
Brechtkens Buch setzt sich ein für die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Überwindung des Nationalismus, den Frieden und den sozialen Ausgleich bei Wahrung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Das alles ist nicht unsympathisch, aber was hat das mit dem "Wert der Geschichte" zu schaffen? Der Autor beschreibt die Kämpfe für die genannten Ideale, für das Frauenwahlrecht etwa, und die furchtbaren Folgen von Nationalismus und Krieg. Das Dumme dabei ist aber, dass der Kampf des Westens für Fortschritt und Aufklärung bei Brechtken, dem scharfen Religionskritiker (Religion sieht er als großen Treiber des Fanatismus, ein Vorwurf, den er auch dem Marxismus und natürlich dem Nationalsozialismus macht), etwas Predigthaftes, ja Pfäffisches bekommt. Das Bewusstsein, an der Spitze des moralischen Fortschritts zu stehen, ist intellektuell und moralisch nicht sehr attraktiv, es hat etwas Selbstzufriedenes.
Brechtken sieht schon, dass der Erfolg der chinesischen Volkswirtschaft für Europa eine Herausforderung bedeutet. Wir haben geglaubt, wirtschaftlicher Erfolg sei nicht möglich ohne Freiheit der Marktteilnehmer, die einhergehe mit Demokratie und politischer Freiheit. Nun könnte es so sein, dass uns China eines anderen belehrt. Aber nein, Brechtken fordert für Europa umstandslos die Fortsetzung des bewährten Weges mit Stärkung des sozialen Ausgleichs, so werde die hiesige ökonomische Dynamik gesichert. Was möglicherweise in China neu ist, ob das Land vielleicht über Kraftquellen verfügt, die jenseits unserer Wertvorstellungen liegen, das wird nicht einmal angetippt.
Ein anderes Beispiel seiner gusseisernen Selbstsicherheit: Im Kapitel über die politisch schädlichen Folgen der Religion kommt der Autor kurz auf Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmtes Diktum zu sprechen, dass der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann. Dahinter liegt die Annahme, dass der Staat eines Gemeinsinns bedarf, dessen Entstehung durch eine gewisse Homogenität erleichtert wird; aus ganz anderer Richtung hat der britische Historiker Tony Judt ähnlich geurteilt: Der Sozialstaat brauche eine "funktionierende Vertrauensgemeinschaft", eine Gesellschaft mit Vertrauen aber sei "tendenziell kompakt und recht homogen".
Judt war Jude, Belehrungen über die dunklen Seiten homogener Gesellschaften brauchte er sicherlich nicht. Aber Brechtken fertigt solche Gedanken einfach ab: Es bedürfe nicht der Homogenität, "sondern der Humanität aus rationaler Freiheit". Doch genau das ist ja die Frage, die hier nicht beantwortet, sondern abgewürgt wird. Dass Humanität aus "rationaler Freiheit" sprudele, dass Rationalität zugleich Humanität und Moral bedeute - warum sollte das so sein? Rationalität kann mit blanker Amoralität einhergehen.
Was "rationale Freiheit" ist, erfährt man auch nicht genau; so wenig wie man versteht, ob zwischen "Rationalität, Aufklärung und Vernunft als Prinzipien des Fortschritts" zu differenzieren ist, oder die Worte "Rationalität, Aufklärung und Vernunft" hier alle das Gleiche meinen. Die Naivität, mit der Brechtken das Wort (von "Begriff" mag man kaum sprechen) "Rationaliät" verwendet, ist erstaunlich. Er habe kein "Fachbuch der Geschichtswissenschaft" geschrieben, sagt der Autor, er habe eine "barrierefreie Zusammenfassung" geben wollen. Aber er hat verkannt, dass ein Buch für Fachfremde zu schreiben auch Mühe machen sollte, nicht weniger Mühe als eines für die Kollegen.
STEPHAN SPEICHER
Magnus Brechtken:
"Der Wert der Geschichte". Zehn Lektionen für die
Gegenwart.
Siedler Verlag, München 2020. 303 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Heute ist alles besser
Magnus Brechtken warnt vor Geschichtsmystik
Einer von der Zunft empört zurückgewiesenen Ansicht zufolge lesen sich Bücher mancher deutscher Historiker schon bei den ersten Sätzen so, dass der Schlummer selbst die Wohlwollenden bald von der Last der Lektüre befreit. Der Münchner Zeithistoriker Magnus Brechtken freilich gehört da nicht zu den Verdächtigen. Sein Buch „Der Wert der Geschichte“ beginnt höchst unterhaltsam (und bleibt es).
Man denke, schreibt er, an einen Patienten, der sich den Blinddarm operieren lässt. Gäbe es eine Zeitmaschine in die Vergangenheit, würde dieser Patient – wäre er unklug genug, sie zu nutzen –, schwerlich lebend zurückkehren in die kommode Gegenwart. Statt Hightech-Diagnostik würde der Arzt die Eingeweide eines Huhns zu Rate ziehen und aus diesen herauslesen, was dem Kranken wohl fehlen könnte. Zur Operation rückte die Chirurgin mit einem Küchenmesser an (und nur die Mächte des Himmels wüssten, ob es nicht zuvor zum Aufschneiden des Huhns Verwendung fand). Und vielleicht „könnte unser Patient noch mit letzter Kraft darüber staunen, dass sich die Pflegekräfte zum Gebet versammeln, statt ihm Antibiotika zu verabreichen“.
Was schließen wir daraus? Dass heute alles besser ist oder jedenfalls sehr, sehr vieles. Dass es der Menschheit bei allen Nöten vergleichsweise viel besser geht, als es die Populisten, Querulanten, Verschwörungsmystiker und leider auch viele normale Bürger wissen wollen. Oft ist zu hören, schreibt Brechtken, „man lerne aus der Geschichte, dass man aus ihr nichts lernen könne. Dabei ist die Antwort recht einfach: Wir können, wenn überhaupt, nur aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns gar nicht verfügbar.“
Brechtken, Vizedirektor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, nimmt die Vergangenheit als Folie für ein leidenschaftliches Plädoyer, die Errungenschaften der Gegenwart nicht modisch geringzuschätzen: Frieden, Freiheit, Demokratie, Aufklärung. Zu Recht und höchst anschaulich führt er diesen Fortschritt auf die Erkenntnis zurück, dass der Mensch von Natur aus frei und zur Vernunft fähig ist. Er erläutert dies prägnant an Beispielen wie der Überwindung religiöser Dogmatik und des Nationalismus oder an der Gleichberechtigung der Frauen. Dabei entwirft Brechtken keine verkürzte Weltsicht wie Francis Fukuyama, der 1992, nach dem Kollaps des Kommunismus, schon das legendäre „Ende der Geschichte“ gekommen sah; eher erinnert sein Ansatz an den optimistischen US-Philosophen Steven Pinker („Aufklärung jetzt“). Brechtken sieht den Weg des menschlichen Fortschritts als labyrinthisch an, voller Irrwege, Rückschläge und Widersprüche.
Zum Beispiel: Die erste große Proklamation der Demokratie, die Gründungsurkunde der USA von 1776, verfassten Männer, von denen manche, wie Thomas Jefferson, schwarze Sklaven besaßen und die trotzdem festschrieben, dass alle Menschen „gleich geschaffen sind“. Solche krassen Widersprüche zu benennen, schreibt Brechtken, „widerlegt in keiner Weise den historischen Fortschritt. Denn der Maßstab, sich auf die Universalität der Menschenrechte hin zu orientieren und die Ordnung der Gesellschaft an ihr auszurichten“, sei gerade die Stärke der Demokratie. Die Antirassismus-Proteste des Jahres 2020 zeigten daher den Willen der offenen Gesellschaft, Ungerechtigkeiten zu überwinden. Wenn man fragt, was diese Gesellschaft, die oft auseinanderzudriften scheint, noch zusammenhält: Diese kluge und lesenswerte Buch ist ein Beitrag dazu.
JOACHIM KÄPPNER
Magnus Brechtken:
Der Wert der Geschichte.
Zehn Lektionen für
die Gegenwart.
Siedler-Verlag,
München 2020.
304 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Magnus Brechtken warnt vor Geschichtsmystik
Einer von der Zunft empört zurückgewiesenen Ansicht zufolge lesen sich Bücher mancher deutscher Historiker schon bei den ersten Sätzen so, dass der Schlummer selbst die Wohlwollenden bald von der Last der Lektüre befreit. Der Münchner Zeithistoriker Magnus Brechtken freilich gehört da nicht zu den Verdächtigen. Sein Buch „Der Wert der Geschichte“ beginnt höchst unterhaltsam (und bleibt es).
Man denke, schreibt er, an einen Patienten, der sich den Blinddarm operieren lässt. Gäbe es eine Zeitmaschine in die Vergangenheit, würde dieser Patient – wäre er unklug genug, sie zu nutzen –, schwerlich lebend zurückkehren in die kommode Gegenwart. Statt Hightech-Diagnostik würde der Arzt die Eingeweide eines Huhns zu Rate ziehen und aus diesen herauslesen, was dem Kranken wohl fehlen könnte. Zur Operation rückte die Chirurgin mit einem Küchenmesser an (und nur die Mächte des Himmels wüssten, ob es nicht zuvor zum Aufschneiden des Huhns Verwendung fand). Und vielleicht „könnte unser Patient noch mit letzter Kraft darüber staunen, dass sich die Pflegekräfte zum Gebet versammeln, statt ihm Antibiotika zu verabreichen“.
Was schließen wir daraus? Dass heute alles besser ist oder jedenfalls sehr, sehr vieles. Dass es der Menschheit bei allen Nöten vergleichsweise viel besser geht, als es die Populisten, Querulanten, Verschwörungsmystiker und leider auch viele normale Bürger wissen wollen. Oft ist zu hören, schreibt Brechtken, „man lerne aus der Geschichte, dass man aus ihr nichts lernen könne. Dabei ist die Antwort recht einfach: Wir können, wenn überhaupt, nur aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns gar nicht verfügbar.“
Brechtken, Vizedirektor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, nimmt die Vergangenheit als Folie für ein leidenschaftliches Plädoyer, die Errungenschaften der Gegenwart nicht modisch geringzuschätzen: Frieden, Freiheit, Demokratie, Aufklärung. Zu Recht und höchst anschaulich führt er diesen Fortschritt auf die Erkenntnis zurück, dass der Mensch von Natur aus frei und zur Vernunft fähig ist. Er erläutert dies prägnant an Beispielen wie der Überwindung religiöser Dogmatik und des Nationalismus oder an der Gleichberechtigung der Frauen. Dabei entwirft Brechtken keine verkürzte Weltsicht wie Francis Fukuyama, der 1992, nach dem Kollaps des Kommunismus, schon das legendäre „Ende der Geschichte“ gekommen sah; eher erinnert sein Ansatz an den optimistischen US-Philosophen Steven Pinker („Aufklärung jetzt“). Brechtken sieht den Weg des menschlichen Fortschritts als labyrinthisch an, voller Irrwege, Rückschläge und Widersprüche.
Zum Beispiel: Die erste große Proklamation der Demokratie, die Gründungsurkunde der USA von 1776, verfassten Männer, von denen manche, wie Thomas Jefferson, schwarze Sklaven besaßen und die trotzdem festschrieben, dass alle Menschen „gleich geschaffen sind“. Solche krassen Widersprüche zu benennen, schreibt Brechtken, „widerlegt in keiner Weise den historischen Fortschritt. Denn der Maßstab, sich auf die Universalität der Menschenrechte hin zu orientieren und die Ordnung der Gesellschaft an ihr auszurichten“, sei gerade die Stärke der Demokratie. Die Antirassismus-Proteste des Jahres 2020 zeigten daher den Willen der offenen Gesellschaft, Ungerechtigkeiten zu überwinden. Wenn man fragt, was diese Gesellschaft, die oft auseinanderzudriften scheint, noch zusammenhält: Diese kluge und lesenswerte Buch ist ein Beitrag dazu.
JOACHIM KÄPPNER
Magnus Brechtken:
Der Wert der Geschichte.
Zehn Lektionen für
die Gegenwart.
Siedler-Verlag,
München 2020.
304 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Schon das kluge Vorwort lohnt das hochaktuelle Buch.« HÖRZU