Welche Vorstellungen hatte das "andere Deutschland" über eine künftige deutsche Wirtschaftsordnung? Gab es überhaupt eine Gemeinsamkeit, etwa zwischen dem "manchesterliberalen" Goerdeler, den "staatssozialistischen" Kreisauern um Moltke und Yorck von Wartenburg oder gar den "Sozialutopisten" um Popitz? Diese Gemeinsamkeit scheint größer gewesen zu sein, als bisher zumeist angenommen wurde. Einen Schlüssel für diese Einschätzung liefern die Arbeiten und Entwürfe der "Freiburger Kreise" (das sog. "Freiburger Konzil", der Freiburger Bonhoeffer-Kreis und die Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath, u.a. um Eucken, Böhm, von Dietze und Lampe), deren bestimmender Einfluss nicht nur auf die Soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit, sondern bereits auf die Wirtschaftsvorstellungen des bürgerlichen Widerstands hier anhand neuer Quellen umfassend nachgewiesen wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2003Widerstand und Wohlstand
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Hitler-Gegner
Daniela Rüther: Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002. 491 Seiten, 68,- [Euro].
Wenn vom bürgerlichen Widerstand gegen Hitler die Rede ist, geht es zumeist um die politischen Zusammenhänge: Die Wiederherstellung von Recht und Moral als Ziele der Opposition stehen ganz im Zentrum des Interesses, während die sozialpolitischen, erst recht aber die wirtschaftspolitischen Absichten der Verschwörer meist ein Schattendasein fristen. Dabei ist schon in den fünfziger Jahren von der Forschung - beispielsweise durch die Arbeiten Gerhard Ritters, der während des Krieges in der Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre der Akademie für Deutsches Recht tätig war und als Mann des Widerstands den regen Gedankenaustausch der bürgerlichen Hitler-Gegner über wirtschaftliche Fragen genau kannte - darauf verwiesen worden, für wie wichtig die ökonomische Komponente für ein "Leben nach Hitler" erachtet wurde. Daniela Rüther hat die vielfältigen Denkschriften, Überlegungen, Stellungnahmen und Zukunftsentwürfe zu wirtschaftspolitischen Fragen derjenigen, die an der Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligt waren, einem kritischen Blick unterzogen. Ihre Ergebnisse ergänzen, präzisieren und korrigieren manche bisherigen Befunde.
Einigkeit herrschte im bürgerlichen Widerstand darüber, daß in einer künftigen Nachkriegsordnung der Wettbewerb wieder an die Stelle des Zwangsverwaltungssystems treten sollte, das im "Dritten Reich" im Zuge der Kriegsvorbereitung bestimmend geworden war. Von wohl entscheidender Bedeutung für die Meinungsfindungen und prinzipiellen Erörterungen waren daher die volkswirtschaftlichen Anregungen der "Freiburger Schule" der Nationalökonomie, als deren wichtigste Vertreter Erwin von Beckerath, Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe gelten können.
Die Meinungsfindung konnte unter den Bedingungen des Krieges und der allgegenwärtigen Gefahr der Entdeckung durch die Gestapo allerdings nicht geradlinig verlaufen; der Prozeß zu einer Verständigung war einem ständigen Auf und Ab ausgesetzt, bis sich verschiedene Positionen herausbildeten, die anhand der Protagonisten des bürgerlichen Widerstandes skizziert werden: Carl Goerdeler als ziviler Motor des bürgerlichen Aufbegehrens gegen Hitler, die Männer des Kreisauer Kreises um die Grafen Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg und schließlich der preußische Finanzministers Johannes Popitz.
Manches im wirtschaftspolitischen Programm des bürgerlichen Widerstands verweist bereits auf die in der Bundesrepublik erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft: Die Oppositionellen konnten dem Manchester-Liberalismus wenig abgewinnen - sicherlich, weil sie den Leistungsgedanken als ordnendes gesellschaftliches Element wieder stärker verankern wollten, aber auch, weil sie, einem konservativen Gerechtigkeits- und Moralbegriff verhaftet, den wirtschaftlichen Liberalismus ohne eine soziale Komponente nicht akzeptieren mochten.
Goerdelers Rolle
Hinsichtlich der Rolle Goerdelers kommt die Arbeit zu dem Schluß, dieser könne keineswegs als "Systemträger" im Staat Hitlers angesehen werden, sondern sei vielmehr dem "tradierten Pflichtethos" der Konservativen verhaftet gewesen. Wirtschaftspolitisch könne man ihn trotz aller Vorlieben für die freie Wirtschaft nicht als Liberalen bezeichnen, weil er sich eher von Vorstellungen unveränderlicher "Naturgesetze" habe leiten lassen. Vom Gedankengut des 19. Jahrhunderts durchdrungen, sei auch sein Zusammenspiel mit den "Kreisauern" schwierig gewesen, obwohl ihre Ansichten gar nicht so weit auseinander gelegen hätten. Wie die Autorin jedoch aus ihren Quellen herauslesen will, daß Goerdeler als wichtiger Exponent des zivilen Widerstands "frühzeitig isoliert" gewesen sei, bleibt schleierhaft.
Bei den "Kreisauern" kam besonders Yorck eine Schlüsselrolle bei dem Versuch zu, einen wirtschaftlichen "dritten Weg" jenseits von Zentralverwaltungswirtschaft und Laisser-faire-Liberalismus zu finden. Rüther kommt zu dem Ergebnis, daß zumindest in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der "Kreisauer" die sozialistischen Zielsetzungen kaum eine Rolle gespielt hätten. Im sozialpolitischen Programm hingegen war, nicht zuletzt durch den Einfluß der Vertreter der Arbeiterbewegung und der katholischen Kirche, der soziale Akzent deutlich zu erkennen. So waren die Entwürfe der "Kreisauer" weniger sozialromantisch gefärbt, als sie mitunter bis heute wahrgenommen werden. Demgegenüber erscheinen die Theorien von Popitz in einem weniger guten Licht. Sie wirken durch manchen sozialrevolutionären Zungenschlag kaum als die Ideen eines Mannes der "extremen Rechten". Ob sie deshalb, wie die Verfasserin meint, als "esoterisch" eingeschätzt werden müssen, ist dagegen zweifelhaft.
So wichtig die Ergebnisse sind, die manche pauschalen Urteile über die Wirtschaftspolitik des bürgerlichen Widerstands zu modifizieren vermögen, kann das Buch kaum als großer Wurf gelten. Die vorgestellten Männer - und einige Frauen - des Widerstands werden als Menschen nur schemenhaft erkennbar. Es wird kaum deutlich, daß sie auch außerökonomische Wertvorstellungen hatten, die ihr Handeln wesentlich bestimmten. Was sie dachten, welche Sorgen sie angesichts des nationalsozialistischen Unrechtsstaates bewegten, darüber erfährt man in diesem nicht gerade schmalen Buch so gut wie nichts. Die Regimegegner erscheinen nur in Form ihrer Denkschriften und wirtschaftspolitischen Skizzen und wirken daher merkwürdig blaß. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den methodischen Ansatz, dem sich die Verfasserin verpflichtet glaubt: Sie möchte den wirtschaftspolitischen Impetus des Widerstands in den Vordergrund stellen und verfällt dabei bisweilen einem Quellenpositivismus, der jeder noch so entlegenen flüchtigen Skizze den Charakter einer Staatsschrift zukommen läßt. Die Regimegegner erscheinen beinahe als Technokraten, die außer Statistiken, Wirtschaftsplänen und ökonomischen Theorien nicht viel anderes im Kopf hatten. Eine solch mechanistische Sicht auf den Widerstand hat wahrscheinlich viel damit zu tun, daß eine jüngere Generation das Aufbegehren gegen Hitler nur noch als abstrakten Vorgang kennt und das Gespür dafür verloren hat, was Bürgerliche in den Widerstand gegen das totalitäre Regime trieb: das geradezu verzweifelte Ringen um die Frage, wie sie sich gegenüber einem verbrecherischen Regime zu verhalten hatten, das in bis dahin nicht bekannter Radikalität die Gebote Gottes mißachtete und die Grundsätze der Moral und des Rechts brach.
JOACHIM SCHOLTYSECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Hitler-Gegner
Daniela Rüther: Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002. 491 Seiten, 68,- [Euro].
Wenn vom bürgerlichen Widerstand gegen Hitler die Rede ist, geht es zumeist um die politischen Zusammenhänge: Die Wiederherstellung von Recht und Moral als Ziele der Opposition stehen ganz im Zentrum des Interesses, während die sozialpolitischen, erst recht aber die wirtschaftspolitischen Absichten der Verschwörer meist ein Schattendasein fristen. Dabei ist schon in den fünfziger Jahren von der Forschung - beispielsweise durch die Arbeiten Gerhard Ritters, der während des Krieges in der Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre der Akademie für Deutsches Recht tätig war und als Mann des Widerstands den regen Gedankenaustausch der bürgerlichen Hitler-Gegner über wirtschaftliche Fragen genau kannte - darauf verwiesen worden, für wie wichtig die ökonomische Komponente für ein "Leben nach Hitler" erachtet wurde. Daniela Rüther hat die vielfältigen Denkschriften, Überlegungen, Stellungnahmen und Zukunftsentwürfe zu wirtschaftspolitischen Fragen derjenigen, die an der Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligt waren, einem kritischen Blick unterzogen. Ihre Ergebnisse ergänzen, präzisieren und korrigieren manche bisherigen Befunde.
Einigkeit herrschte im bürgerlichen Widerstand darüber, daß in einer künftigen Nachkriegsordnung der Wettbewerb wieder an die Stelle des Zwangsverwaltungssystems treten sollte, das im "Dritten Reich" im Zuge der Kriegsvorbereitung bestimmend geworden war. Von wohl entscheidender Bedeutung für die Meinungsfindungen und prinzipiellen Erörterungen waren daher die volkswirtschaftlichen Anregungen der "Freiburger Schule" der Nationalökonomie, als deren wichtigste Vertreter Erwin von Beckerath, Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe gelten können.
Die Meinungsfindung konnte unter den Bedingungen des Krieges und der allgegenwärtigen Gefahr der Entdeckung durch die Gestapo allerdings nicht geradlinig verlaufen; der Prozeß zu einer Verständigung war einem ständigen Auf und Ab ausgesetzt, bis sich verschiedene Positionen herausbildeten, die anhand der Protagonisten des bürgerlichen Widerstandes skizziert werden: Carl Goerdeler als ziviler Motor des bürgerlichen Aufbegehrens gegen Hitler, die Männer des Kreisauer Kreises um die Grafen Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg und schließlich der preußische Finanzministers Johannes Popitz.
Manches im wirtschaftspolitischen Programm des bürgerlichen Widerstands verweist bereits auf die in der Bundesrepublik erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft: Die Oppositionellen konnten dem Manchester-Liberalismus wenig abgewinnen - sicherlich, weil sie den Leistungsgedanken als ordnendes gesellschaftliches Element wieder stärker verankern wollten, aber auch, weil sie, einem konservativen Gerechtigkeits- und Moralbegriff verhaftet, den wirtschaftlichen Liberalismus ohne eine soziale Komponente nicht akzeptieren mochten.
Goerdelers Rolle
Hinsichtlich der Rolle Goerdelers kommt die Arbeit zu dem Schluß, dieser könne keineswegs als "Systemträger" im Staat Hitlers angesehen werden, sondern sei vielmehr dem "tradierten Pflichtethos" der Konservativen verhaftet gewesen. Wirtschaftspolitisch könne man ihn trotz aller Vorlieben für die freie Wirtschaft nicht als Liberalen bezeichnen, weil er sich eher von Vorstellungen unveränderlicher "Naturgesetze" habe leiten lassen. Vom Gedankengut des 19. Jahrhunderts durchdrungen, sei auch sein Zusammenspiel mit den "Kreisauern" schwierig gewesen, obwohl ihre Ansichten gar nicht so weit auseinander gelegen hätten. Wie die Autorin jedoch aus ihren Quellen herauslesen will, daß Goerdeler als wichtiger Exponent des zivilen Widerstands "frühzeitig isoliert" gewesen sei, bleibt schleierhaft.
Bei den "Kreisauern" kam besonders Yorck eine Schlüsselrolle bei dem Versuch zu, einen wirtschaftlichen "dritten Weg" jenseits von Zentralverwaltungswirtschaft und Laisser-faire-Liberalismus zu finden. Rüther kommt zu dem Ergebnis, daß zumindest in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der "Kreisauer" die sozialistischen Zielsetzungen kaum eine Rolle gespielt hätten. Im sozialpolitischen Programm hingegen war, nicht zuletzt durch den Einfluß der Vertreter der Arbeiterbewegung und der katholischen Kirche, der soziale Akzent deutlich zu erkennen. So waren die Entwürfe der "Kreisauer" weniger sozialromantisch gefärbt, als sie mitunter bis heute wahrgenommen werden. Demgegenüber erscheinen die Theorien von Popitz in einem weniger guten Licht. Sie wirken durch manchen sozialrevolutionären Zungenschlag kaum als die Ideen eines Mannes der "extremen Rechten". Ob sie deshalb, wie die Verfasserin meint, als "esoterisch" eingeschätzt werden müssen, ist dagegen zweifelhaft.
So wichtig die Ergebnisse sind, die manche pauschalen Urteile über die Wirtschaftspolitik des bürgerlichen Widerstands zu modifizieren vermögen, kann das Buch kaum als großer Wurf gelten. Die vorgestellten Männer - und einige Frauen - des Widerstands werden als Menschen nur schemenhaft erkennbar. Es wird kaum deutlich, daß sie auch außerökonomische Wertvorstellungen hatten, die ihr Handeln wesentlich bestimmten. Was sie dachten, welche Sorgen sie angesichts des nationalsozialistischen Unrechtsstaates bewegten, darüber erfährt man in diesem nicht gerade schmalen Buch so gut wie nichts. Die Regimegegner erscheinen nur in Form ihrer Denkschriften und wirtschaftspolitischen Skizzen und wirken daher merkwürdig blaß. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den methodischen Ansatz, dem sich die Verfasserin verpflichtet glaubt: Sie möchte den wirtschaftspolitischen Impetus des Widerstands in den Vordergrund stellen und verfällt dabei bisweilen einem Quellenpositivismus, der jeder noch so entlegenen flüchtigen Skizze den Charakter einer Staatsschrift zukommen läßt. Die Regimegegner erscheinen beinahe als Technokraten, die außer Statistiken, Wirtschaftsplänen und ökonomischen Theorien nicht viel anderes im Kopf hatten. Eine solch mechanistische Sicht auf den Widerstand hat wahrscheinlich viel damit zu tun, daß eine jüngere Generation das Aufbegehren gegen Hitler nur noch als abstrakten Vorgang kennt und das Gespür dafür verloren hat, was Bürgerliche in den Widerstand gegen das totalitäre Regime trieb: das geradezu verzweifelte Ringen um die Frage, wie sie sich gegenüber einem verbrecherischen Regime zu verhalten hatten, das in bis dahin nicht bekannter Radikalität die Gebote Gottes mißachtete und die Grundsätze der Moral und des Rechts brach.
JOACHIM SCHOLTYSECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Joachim Scholtyseck macht sich angesichts dieser Studie zu den wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler Sorgen, dass die jüngere Generation das Gespür dafür verloren habe, was Bürgerliche "in den Widerstand getrieben" habe: "das geradezu verzweifelte Ringen um die Frage, wie sie sich gegenüber einem verbrecherischen Regime zu verhalten hatten, das in bis dahin nicht bekannter Radikalität die Gebote Gottes missachtete". Für den Rezensenten belegt Rüthers Studie dies, weil sie ihren Gegenstand wissenschaftlich eingrenzt und sich an schriftliche Quellen hält. So kommt sie dann etwa zu dem Ergebnis, berichtet der Rezensent, dass man Carl Goerdeler "trotz aller Vorlieben für die freie Wirtschaft nicht als Liberalen bezeichnen" könne, weil er sich "eher von Vorstellungen unveränderlicher 'Naturgesetze' habe leiten lassen" und "vom Gedankengut des 19. Jahrhunderts durchdrungen" gewesen sei. Mit der eigentlichen These der Autorin, wonach die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der meisten anderen Mitglieder der bürgerlichen Opposition große Übereinstimmung mit denen der "Väter der sozialen Marktwirtschaft" aufgewiesen hätten, kann der Rezensent sich zwar anfreunden. Dass die bürgerlichen Regimegegner in dieser Studie am Ende dann aber, wie Scholtyseck schreibt, "beinahe als Technokraten" erscheinen, gefällt ihm gar nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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