Juan Guillermos aufregendes und raues Leben spielt sich über den Dächern von Mexiko-City ab. Als sein Bruder stirbt, stürzt auch Juan in einen tiefen Abgrund. Guillermo Arriaga schreibt die epische Geschichte von Schuld und Rache neu - in einer Welt, in der der Tod kein Fremder ist.Juan Guillermo kennt Mexiko-City besser als jeder andere. Mit seinen Freunden streift er durch sein Viertel, gewinnt Mutproben über den Dächern der Stadt und hält die Direktorin der Schule auf Trab. Sein großes Idol dieser unbeschwerten Tage ist sein großer Bruder Carlos. Ein belesener und geschäftstüchtiger junger Mann, der für Juan unantastbar zu sein scheint. Dann wird Carlos ermordet und Juan muss sich der grausamen Frage stellen, ob er seinen Tod hätte verhindern können. Er sinnt auf Rache, doch erst die Schicksalsgemeinschaft mit der schönen Chelo und einem gefährlichen Wolf zeigt ihm einen Weg aus dem Strudel von Verzweiflung und Gewalt. Guillermo Arriaga erschafft ein Epos der menschlichen Abgründe, aus dem in dunkelster Nacht die Menschlichkeit hervorbricht.
buecher-magazin.deEin Roman über Trauer, Gewalt und eine Stadt: Guillermo Arriaga entwirft in "Der Wilde" ein vielschichtiges Bild seiner Heimatstadt Mexico City Ende der 1960er-Jahre. Juan Guillermo treibt sich mit seinen Freunden auf den Straßen herum, hadert mit der englischen Privatschule, auf die seine Eltern ihn schicken - und bewundert seinen großen Bruder. Doch dann gerät alles ins Wanken, Menschen sterben um ihn herum. Überwältigt von Trauer und Verlust plant er eine Sühnetat. Er hofft auf einen Ausweg an der Seite von Nachbarstochter Chelo und einem Wolf, der ebenso wütend und einsam ist wie er. Berühmt geworden ist Guillermo Arriaga mit seinen Drehbüchern zu den Filmen "Amores Perros", "21 Gramm" und "Babel", alle verfilmt von Alejandro González Iñárritu. Wie in den Filmen gibt es auch im Buch verschiedene nebeneinander laufende Handlungsstränge, wie die Jagd auf einen Wolf und Initiationsriten eines rechten Geheimbundes. Im Mittelpunkt dieses überbordenden Romans steht indes der 17-jährige Juan, der mit jugendlicher Absolutheit seine Trauer wie seine Rache für unausweichlich hält. Damit erzählt Arriaga viel über das Leben und verschiedene Gesellschaften, doch leider traut er seinen Lesern nicht zu, Uneindeutigkeiten zu ertragen, sondern erklärt und erläutert zu viel.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Kann man Wölfe erziehen?
"Amores perros" war noch gar nichts dagegen: In seinem wuchtigen Roman "Der Wilde" verstrickt Guillermo Arriaga die tierische Natur des Menschen mit einer Geschichte Mexikos um 1970.
Von Jan Wiele
Die verwundete Kreatur ist die konstante Größe im Werk von Guillermo Arriaga. Wer auch nur einen Film der sogenannten Todes-Trilogie aus "Amores perros" (2000), "21 Gramm" (2003) und "Babel" (2006) gesehen hat, für die Arriaga die Drehbücher schrieb, wird sich vielleicht schaudernd an Szenen erinnern, in denen sowohl Menschen als auch Tiere so schwer verletzt herumkriechen, dass es kaum anzuschauen ist: ein langes Leiden, das nur wenige überstehen.
Das Symboltier des vorliegenden Romans "Der Wilde", Arriagas bislang umfangreichstes und vielschichtigstes Werk, wirkt fast wie eine Variation jenes fiesen Kampfhundes aus "Amores perros", der die schwere Verletzung zu Anfang des Films knapp überlebt, dann aber umso stärker zurückkommt und schließlich alle anderen Hunde um ihn herum totbeißt. Hier nun steht ein wildes Tier im Mittelpunkt, das den halben Roman über als Wolfshund gilt - bis schließlich herauskommt, dass es sich sogar um einen reinrassigen Wolf handelt.
Den in der Großstadt als Haustier zu halten, ist an sich schon keine gute Idee, und dann machen seine Besitzer auch noch alles falsch: Sie binden ihn von klein an fest, lassen das auf Interaktion und Autorität angewiesene Tier allein und wecken damit seine Aggressivität. Allen im Radius seiner Kette bekommt das gar nicht gut: Katzen macht er mit einem Biss fertig, so dass der Schädel zerknackt, und einem Automechaniker, der nichtsahnend vorüberläuft, reißt der Wolf den Bizeps aus, so dass der Mann für immer arbeitsunfähig wird. Dessen Rache fruchtet aber nicht: Weder mit Gift noch mit Feuer noch durch ein Gewehr ist das Biest totzukriegen, stattdessen wird der Automechaniker schließlich von einer Nazi-Rockerbande fast totgeschlagen.
Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt, soll das wohl sagen, erst recht nicht in Mexiko City um 1969, jener Zeit, zu der das Buch größtenteils spielt. Das Massaker an Studenten in Tlatelolco vom Oktober 1968, das einmal kurz erwähnt wird, mag für die kriminelle und ruchlos gewalttätige Obrigkeit des Landes zu dieser Zeit einstehen, und an einer anderen Stelle des Romans sagt jemand: "Mexiko ist doch ein einziger Sumpf."
In diesem Sumpf versucht ein Ehepaar mit zwei Söhnen irgendwie anständig zu überleben und den beiden trotz aller Widrigkeiten doch noch menschliche Grundwerte mitzugeben. Der Vater verkauft ein eigentlich dringend benötigtes Auto, um damit eine gute Privatschule zu bezahlen, aber auch dort geht es nicht gerecht zu: Als der jüngere Sohn bei ersten erotischen Erfahrungen mit einer Mitschülerin ertappt wird, die beide gern machen wollten, stellt man ihn als Täter hin und will gleich beide Brüder ob des Vorfalls von der Schule verweisen. Das wird letztlich nur verhindert durch die Hilfe eines Senators, der dem Vater des Mädchens, seinem Konkurrenten, eins auswischen will und stattdessen das Mädchen in einer Schmierkampagne als Flittchen darstellen lässt, was wiederum dazu führt, dass dieses die Schule verlassen muss: Auch die gute Familie kann also nicht umhin, sich böser Mittel zu bedienen. Dass die beiden Brüder bald selbst im Sumpf stecken, scheint in einer solchen Welt unausweichlich - wie tief, erfährt der Leser, der lange an die Gutherzigkeit der beiden glaubt, nur häppchenweise in dieser langen Geschichte.
Während Arriagas Milieustudie über sich durchbeißende Jugendliche, die keinen Weg an der Kriminalität vorbei mehr sehen, an sich nicht besonders originell ist, muss man sagen: Die Art, wie er sie erzählt, ist es durchaus. Überraschend ist zunächst, dass das Schlimmste gleich zu Anfang verraten wird: "Im Laufe der kommenden vier Jahre würden alle sterben. Mein Bruder, meine Eltern, meine Großmutter, die Wellensittiche und King." Von einer "Lawine des Todes", die über die Familie hinwegrollt, ist die Rede. Der hier spricht, ist der jüngere der beiden Söhne. Die Art seines Erzählens mit durcheinandergeratener Chronologie mag man einerseits auf das Trauma des Erlebten zurückführen - sein älterer Bruder wird heimtückisch ermordet, Eltern und Oma wählen den Freitod beziehungsweise sterben vor Gram -, es ist aber, wenn man über die Motivation der Figur hinausblickt auf den Autor, auch eine bewusst an Faulkner und anderen modernen Romanciers orientierte Erzählweise, die trotz des antiklimaktischen Beginns eine Spannung im Leser erzeugt: Der ist erst einmal damit beschäftigt, die Zeitebenen für sich zu ordnen und wird dann, obwohl er schon um die Katastrophe weiß, schrittweise immer wieder überrascht von den grausamen Details, mit denen sie eintritt.
Man könnte auch von einem einkreisenden Erzählen sprechen, denn auf bestimmte Themen kommt Arriaga immer wieder zurück. Es sind vor allem das Tierische in der Natur des Menschen und die Rache. Das Tierische tritt zunächst hervor in einer Art von Fuchsschläue, mit welcher der ältere Bruder Carlos von einem Kleinkriminellen zum Drogenhändler im großen Stil aufsteigt. Er ist von der Polizei nicht zu fassen, weil er immer wieder auf geheimnisvolle Weise entwischt - bis sein eigener Bruder ihn unter Druck ausliefert, was er für immer bereuen wird.
Carlos wird getötet von einer Gruppe religiöser Fanatiker, die "sich als Soldaten Christi betrachteten" und "die katholische Wahrheit verteidigen mussten, wenn nötig mit ihrem Leben". Sie sind gegen Alkohol und Drogen, aber auch gegen Abtreibung und gegen Juden. Wer ihnen im Weg steht, muss Relegation zwischen Prügelstrafe und Tod fürchten. Carlos wird ertränkt in einem Wassertank, der sein Versteck war.
Die Rache wird folglich zum Lebensthema des jüngeren Bruders und Erzählers Juan Guillermo. Lange plant er seine Vergeltung am Anführer der Fanatiker, der sich Humberto nennt. Bei ihrer Vorbereitung wird auch Juan zum Tier, und hier kommt nun ausgiebig der Wolf ins Spiel, den der Junge nach Verlust seiner gesamten Familie bei sich aufnimmt, um ihn zu zähmen. Das Wilde aus dem Buchtitel wird somit mehr und mehr zur Klammer zwischen Hauptfigur und dem Raubtier namens Colmillo ("Fangzahn"), und Arriaga reizt den Vergleich auf mehr als siebenhundert Seiten bis ins Letzte aus - mit dem Ergebnis, dass Juan am Ende gar "wilder als der Wolf" wird.
Mit der Rache ist es indessen nicht ganz so einfach, denn so groß Juans Hass auf den Mörder seines Bruders ist, kann er die grausame Vendetta doch nicht wie gewollt ausführen. Es kommt, auch durch die Liebe einer Frau und die Zuwendung eines väterlichen Freundes, der selbst Waisenkind war, anders.
Mit dem späten Aufleuchten der Gnade ist immerhin ein Unterschied zwischen Mensch und Tier in den Roman eingezogen, der lange fehlte - schließlich töten Wölfe nicht aus Rachegelüsten. Den Text durchzieht allerdings geradezu eine Obsession mit dem Wolf; selbst Jimi Hendrix, den der Erzähler den "langweiligen" Beatles vorzieht, wird als Wolfsmusiker bezeichnet. Ein Großteil des Buches, eigentlich ein zweiter Roman, erzählt die Vorgeschichte des mexikanischen Stadtwolfs, eine Art tierische Familiensaga in Alaska, die nicht ganz frei von Kitsch ist. Die Grundfrage, die sowohl an Juan als auch an Colmillo gestellt wird, lautet: Kann man Wölfe erziehen?
Das Symbolische und Motivische wirkt in Arriagas Roman etwas überdeterminiert, etwa in einer strapazierten Uterus-Metapher und angesichts mancher Wunden und Narben. Er flicht zudem noch viele Fremdtexte ein, darunter solche von Nietzsche, Borges und General von Clausewitz, deren anschließende Übertragung auf die Fabel dem Buch fast didaktische Züge verleiht. Auch lyrische Einsprengsel hat es: Ganz deutlich wollte Arriaga mit diesem Werk mehr als ein Drehbuch liefern, hat es dabei vielleicht übertrieben. Aber so prekär die Analogie zwischen Mensch und Wolf auch ist: Die tierische Beharrlichkeit, mit der Arriaga sie durchspielt und en passant eine Art Sozialgeschichte Mexikos erzählt, hat schon etwas von einem großen Wurf.
Guillermo Arriaga: "Der Wilde". Roman.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 746 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Amores perros" war noch gar nichts dagegen: In seinem wuchtigen Roman "Der Wilde" verstrickt Guillermo Arriaga die tierische Natur des Menschen mit einer Geschichte Mexikos um 1970.
Von Jan Wiele
Die verwundete Kreatur ist die konstante Größe im Werk von Guillermo Arriaga. Wer auch nur einen Film der sogenannten Todes-Trilogie aus "Amores perros" (2000), "21 Gramm" (2003) und "Babel" (2006) gesehen hat, für die Arriaga die Drehbücher schrieb, wird sich vielleicht schaudernd an Szenen erinnern, in denen sowohl Menschen als auch Tiere so schwer verletzt herumkriechen, dass es kaum anzuschauen ist: ein langes Leiden, das nur wenige überstehen.
Das Symboltier des vorliegenden Romans "Der Wilde", Arriagas bislang umfangreichstes und vielschichtigstes Werk, wirkt fast wie eine Variation jenes fiesen Kampfhundes aus "Amores perros", der die schwere Verletzung zu Anfang des Films knapp überlebt, dann aber umso stärker zurückkommt und schließlich alle anderen Hunde um ihn herum totbeißt. Hier nun steht ein wildes Tier im Mittelpunkt, das den halben Roman über als Wolfshund gilt - bis schließlich herauskommt, dass es sich sogar um einen reinrassigen Wolf handelt.
Den in der Großstadt als Haustier zu halten, ist an sich schon keine gute Idee, und dann machen seine Besitzer auch noch alles falsch: Sie binden ihn von klein an fest, lassen das auf Interaktion und Autorität angewiesene Tier allein und wecken damit seine Aggressivität. Allen im Radius seiner Kette bekommt das gar nicht gut: Katzen macht er mit einem Biss fertig, so dass der Schädel zerknackt, und einem Automechaniker, der nichtsahnend vorüberläuft, reißt der Wolf den Bizeps aus, so dass der Mann für immer arbeitsunfähig wird. Dessen Rache fruchtet aber nicht: Weder mit Gift noch mit Feuer noch durch ein Gewehr ist das Biest totzukriegen, stattdessen wird der Automechaniker schließlich von einer Nazi-Rockerbande fast totgeschlagen.
Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt, soll das wohl sagen, erst recht nicht in Mexiko City um 1969, jener Zeit, zu der das Buch größtenteils spielt. Das Massaker an Studenten in Tlatelolco vom Oktober 1968, das einmal kurz erwähnt wird, mag für die kriminelle und ruchlos gewalttätige Obrigkeit des Landes zu dieser Zeit einstehen, und an einer anderen Stelle des Romans sagt jemand: "Mexiko ist doch ein einziger Sumpf."
In diesem Sumpf versucht ein Ehepaar mit zwei Söhnen irgendwie anständig zu überleben und den beiden trotz aller Widrigkeiten doch noch menschliche Grundwerte mitzugeben. Der Vater verkauft ein eigentlich dringend benötigtes Auto, um damit eine gute Privatschule zu bezahlen, aber auch dort geht es nicht gerecht zu: Als der jüngere Sohn bei ersten erotischen Erfahrungen mit einer Mitschülerin ertappt wird, die beide gern machen wollten, stellt man ihn als Täter hin und will gleich beide Brüder ob des Vorfalls von der Schule verweisen. Das wird letztlich nur verhindert durch die Hilfe eines Senators, der dem Vater des Mädchens, seinem Konkurrenten, eins auswischen will und stattdessen das Mädchen in einer Schmierkampagne als Flittchen darstellen lässt, was wiederum dazu führt, dass dieses die Schule verlassen muss: Auch die gute Familie kann also nicht umhin, sich böser Mittel zu bedienen. Dass die beiden Brüder bald selbst im Sumpf stecken, scheint in einer solchen Welt unausweichlich - wie tief, erfährt der Leser, der lange an die Gutherzigkeit der beiden glaubt, nur häppchenweise in dieser langen Geschichte.
Während Arriagas Milieustudie über sich durchbeißende Jugendliche, die keinen Weg an der Kriminalität vorbei mehr sehen, an sich nicht besonders originell ist, muss man sagen: Die Art, wie er sie erzählt, ist es durchaus. Überraschend ist zunächst, dass das Schlimmste gleich zu Anfang verraten wird: "Im Laufe der kommenden vier Jahre würden alle sterben. Mein Bruder, meine Eltern, meine Großmutter, die Wellensittiche und King." Von einer "Lawine des Todes", die über die Familie hinwegrollt, ist die Rede. Der hier spricht, ist der jüngere der beiden Söhne. Die Art seines Erzählens mit durcheinandergeratener Chronologie mag man einerseits auf das Trauma des Erlebten zurückführen - sein älterer Bruder wird heimtückisch ermordet, Eltern und Oma wählen den Freitod beziehungsweise sterben vor Gram -, es ist aber, wenn man über die Motivation der Figur hinausblickt auf den Autor, auch eine bewusst an Faulkner und anderen modernen Romanciers orientierte Erzählweise, die trotz des antiklimaktischen Beginns eine Spannung im Leser erzeugt: Der ist erst einmal damit beschäftigt, die Zeitebenen für sich zu ordnen und wird dann, obwohl er schon um die Katastrophe weiß, schrittweise immer wieder überrascht von den grausamen Details, mit denen sie eintritt.
Man könnte auch von einem einkreisenden Erzählen sprechen, denn auf bestimmte Themen kommt Arriaga immer wieder zurück. Es sind vor allem das Tierische in der Natur des Menschen und die Rache. Das Tierische tritt zunächst hervor in einer Art von Fuchsschläue, mit welcher der ältere Bruder Carlos von einem Kleinkriminellen zum Drogenhändler im großen Stil aufsteigt. Er ist von der Polizei nicht zu fassen, weil er immer wieder auf geheimnisvolle Weise entwischt - bis sein eigener Bruder ihn unter Druck ausliefert, was er für immer bereuen wird.
Carlos wird getötet von einer Gruppe religiöser Fanatiker, die "sich als Soldaten Christi betrachteten" und "die katholische Wahrheit verteidigen mussten, wenn nötig mit ihrem Leben". Sie sind gegen Alkohol und Drogen, aber auch gegen Abtreibung und gegen Juden. Wer ihnen im Weg steht, muss Relegation zwischen Prügelstrafe und Tod fürchten. Carlos wird ertränkt in einem Wassertank, der sein Versteck war.
Die Rache wird folglich zum Lebensthema des jüngeren Bruders und Erzählers Juan Guillermo. Lange plant er seine Vergeltung am Anführer der Fanatiker, der sich Humberto nennt. Bei ihrer Vorbereitung wird auch Juan zum Tier, und hier kommt nun ausgiebig der Wolf ins Spiel, den der Junge nach Verlust seiner gesamten Familie bei sich aufnimmt, um ihn zu zähmen. Das Wilde aus dem Buchtitel wird somit mehr und mehr zur Klammer zwischen Hauptfigur und dem Raubtier namens Colmillo ("Fangzahn"), und Arriaga reizt den Vergleich auf mehr als siebenhundert Seiten bis ins Letzte aus - mit dem Ergebnis, dass Juan am Ende gar "wilder als der Wolf" wird.
Mit der Rache ist es indessen nicht ganz so einfach, denn so groß Juans Hass auf den Mörder seines Bruders ist, kann er die grausame Vendetta doch nicht wie gewollt ausführen. Es kommt, auch durch die Liebe einer Frau und die Zuwendung eines väterlichen Freundes, der selbst Waisenkind war, anders.
Mit dem späten Aufleuchten der Gnade ist immerhin ein Unterschied zwischen Mensch und Tier in den Roman eingezogen, der lange fehlte - schließlich töten Wölfe nicht aus Rachegelüsten. Den Text durchzieht allerdings geradezu eine Obsession mit dem Wolf; selbst Jimi Hendrix, den der Erzähler den "langweiligen" Beatles vorzieht, wird als Wolfsmusiker bezeichnet. Ein Großteil des Buches, eigentlich ein zweiter Roman, erzählt die Vorgeschichte des mexikanischen Stadtwolfs, eine Art tierische Familiensaga in Alaska, die nicht ganz frei von Kitsch ist. Die Grundfrage, die sowohl an Juan als auch an Colmillo gestellt wird, lautet: Kann man Wölfe erziehen?
Das Symbolische und Motivische wirkt in Arriagas Roman etwas überdeterminiert, etwa in einer strapazierten Uterus-Metapher und angesichts mancher Wunden und Narben. Er flicht zudem noch viele Fremdtexte ein, darunter solche von Nietzsche, Borges und General von Clausewitz, deren anschließende Übertragung auf die Fabel dem Buch fast didaktische Züge verleiht. Auch lyrische Einsprengsel hat es: Ganz deutlich wollte Arriaga mit diesem Werk mehr als ein Drehbuch liefern, hat es dabei vielleicht übertrieben. Aber so prekär die Analogie zwischen Mensch und Wolf auch ist: Die tierische Beharrlichkeit, mit der Arriaga sie durchspielt und en passant eine Art Sozialgeschichte Mexikos erzählt, hat schon etwas von einem großen Wurf.
Guillermo Arriaga: "Der Wilde". Roman.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 746 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2019Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf
Es geht um Leben und Tod, Schuld und Sühne, Verrat und Rache: Ist „Der Wilde“ von Guillermo Arriaga tatsächlich der große Mexiko-Roman? Eher ja
In einem Trailer zu seinem neuen Roman „Der Wilde“ streunt Guillermo Arriaga über die Dächer von Unidad Modelo, einem seinerzeit berüchtigten Viertel von Mexiko Stadt. Fast niemand, so heißt es im Buch, gehe unbewaffnet aus dem Haus. Auf den Dächern werden Hundekämpfe ausgetragen, nicht zwischen Pitbulls, sondern zwischen gewöhnlichen Hunderassen. Arriaga verweist auf die schmalen, schachtartigen Gassen zwischen den Häusern; die lassen sich leicht überspringen. Die Polizei kommt den jungen Kriminellen kaum hinterher. Die Dächer sind Orte der Zuflucht genauso wie der Flucht.
Arriaga zeigt auf einen Wassertank, das beste Versteck seit Langem. Als Carlos, der ältere Bruder des Ich-Erzählers Juan, mit Drogen zu handeln anfängt, Morphium und LSD, tauchen er und seine Komplizen gern in diesen Tanks ab. Zum Atmen stecken sie einen Strohhalm in den Mund, der nach oben reicht. Das haben sie im Kino gelernt, bei einer Szene, wo US-Soldaten auf der Flucht in einen Fluss steigen und untertauchen; durch einen Strohhalm bekommen sie Luft.
Dem Kino hängt Guillermo Arriaga ganz besonders an. Für die frühen Filme von Alejandro Gonzáles Iñárritu hat er die Drehbücher geschrieben, „Amores Perros“, „21 Gramm“ und „Babel“. Er erzählt seine Geschichten so, wie sie Shakespeare erzählen würde, lebte er heute in Mexiko. Es geht um Leben und Tod, um Liebe und Hass, um Schuld und Sühne, Verrat und Rache. Glühende Leidenschaften flackern auf und entziehen sich nicht selten dem Einspruch der Vernunft. All diese Motive sind auch in „Der Wilde“ versammelt, seinem mittlerweile vierten Roman. Im Jahr 1958 wurde Arriaga in Mexiko Stadt geboren. So ist er zwar etwas jünger als der Erzähler, aber er dürfte sich seine Erinnerungen ans Ende der Sechzigerjahre bewahrt haben.
1968 ist gerade vorbei, das Jahr des Massakers an Studenten in Tlatelolco. Aber die Staatsmacht wirkt nervös und schlägt, wenn nötig, erbarmungslos zu. Noch ein paar Jahre später werden, wie der aktuelle Netflix-Film „Roma“ von Alfonso Cuarón aufzeigt, Demonstrationszüge angegriffen, auch von rechtsextremen Schlägertrupps, die mit Stöcken auf Studenten einprügeln. Als die fanatische Rechte zu stark wird, ändert die Staatsmacht ihre Strategie; dieser Drehpunkt spielt auch im Roman eine Rolle: „Die linken Jugendbewegungen, die 1968 und 1971 so brutal unterdrückt worden waren, hatten die Regierung gereizt. Anfangs erlaubte und förderte sie daher subversive ultrarechte Gruppierungen, um die jungen ,Kommunisten und Anarchisten‘, die die staatliche Ordnung untergruben, zu bändigen und zu bekämpfen. Als aber die Macht und die Reichweite dieser Gruppierungen eine gewisse Grenze überschritten, beschloss die Regierung, gegen sie vorzugehen.“
Im Stadtviertel Unidad Modelo machen sich Junge Christgeweihte breit, eine gewalttätige Gang des radikalen Katholizismus. Sie attackieren alle, die anders denken als sie, Ungläubige, Juden, Kommunisten, Schwule, aber auch Vergifter, womit sie Drogenhändler meinen. Um sie auszuhorchen, schleicht sich Juan bei ihnen ein und verrät, kalt hinters Licht geführt, das Versteck seines Bruders Carlos, den Wassertank auf dem Dach. Mit Zementsäcken beschweren sie den Deckel und drehen den Hahn auf. Carlos ertrinkt. Worauf Juan beschließt, seinen geliebten Bruder zu rächen.
Als Kinder nannten sie sich Carlos der Mutige und Juan der Wilde. Damit wäre Juan die Titelfigur. Genauso gut aber könnte ein Wolf im Norden Kanadas, mit dem die Parallelhandlung ansetzt, dafür stehen. Ein Trapper tauft das große, kräftige Leittier auf den Namen Nujuaqtutuq, was in der Sprache der Inuit nichts anderes bedeutet als „der Wilde“. Vielleicht wäre „Das Wilde“ sogar der treffendere Titel, weil er Mensch und Tier, dazu die Verhältnisse gleichermaßen einfasste. Diese Lösung hat Nicolette Krebitz gewählt, für ihren Film „Wild“, in dem eine junge Frau einen Wolf bei sich in der Wohnung einquartiert; als wild entpuppt sich hier nicht nur der Wolf, der Wolf vielleicht am wenigsten. Wölfe sind ja die zutraulichsten Haustiere. Im Roman aber ist der wilde Wolf gemeint. Und so wie in Cuaróns „Roma“ eine Galerie von Hundeköpfen, die einst auf einer Hazienda gebellt haben, an der Wand hängt, müsste in Arriagas „Der Wilde“ eine Galerie von Wolfsköpfen hängen.
In der Nachbarschaft von Juan wird, isoliert in einem Käfig, ein Wolfshund gehalten. Weil er etliche Menschen angefallen hat, soll er eingeschläfert werden. Juan bringt es fertig, dass ihm das Tier überlassen wird. Den Papieren entnimmt er, dass es sich um einen echten Wolf handelt, importiert aus Kanada und, so will es die Dramaturgie, ein Nachkomme des sagenhaften Nujuaqtutuq. Es folgt die gewaltsame Zähmung des Wolfs, die Unterwerfung, ein Kampf mit schweren Verletzungen.
Nun wäre es leicht, das Wilde der von Menschen gemachten Verhältnisse romanselig ins Gezähmte zu überführen und damit in die Zivilisation Aber in diese Falle tappt Arriaga nicht. Ein jüdischer Pelzhändler steckt Juan ein Büchlein zu, es heißt „Vom Verzeihen“, „um den emotionalen Unrat loszuwerden, der mit der Rache einhergeht; verzeihen, um aus dem Sumpf des Grolls und des Selbstmitleids herauszukommen“. Geschrieben hat es Albert Rosenthal, dessen Familie im Holocaust ermordet worden ist und der dann als Nazijäger die Täter der Justiz auslieferte. An diese Art von Gerechtigkeit will Juan, das mexikanische Rechtssystem vor Augen, nicht glauben. Unbeeindruckt sinnt er weiter auf Rache.
So bleiben das Wilde und das Gezähmte in einer heiklen Schwebe. Dieser Balanceakt glückt Arriaga in Fragen der Liebe leider nicht ganz so gut. Als fürchte er, die Liebe könnte ihren guten Ruf verlieren. Und dürfte ihr inneres Wüten nicht zulassen. Juan, so erfährt man gleich am Anfang, hat seine ganze Familie verloren. Und jetzt verliebt er sich ausgerechnet in die sexuell freizügige Chelo, die Männer verzehrt wie einen schnellen Imbiss. Auch mit Carlos hat sie etwas gehabt, die Schlampe. Juan wird fast wahnsinnig vor Eifersucht. Dabei könnte Chelo seine Rettung sein. Der Roman jedoch lässt diese Rettung nur zu, indem er Chelo zu einem reumütigen, anschmiegsamen Kätzchen verkleinert, das immerzu „Ich liebe dich“ schnurrt, bis man es nicht mehr hören kann. Einmal, immerhin, sagt sie: „Ich liebe dich, du Tier.“ Das hätte Potenzial.
Ist dieses Buch also, wie der Verlag so schön sagt, „der große Mexiko-Roman“? Eher ja. Selbst wenn der aufregend in der Wildnis spielende Kanada-Strang mit der Zeit etwas zäh wird und an Plausibilität verliert. Selbst wenn ununterbrochen Aktion auf Aktion folgt und die Sprache sich nie selbst genügt. Arriaga berichtet von der Korruption des Systems, egal ob Anwälte, Richter oder Polizisten. Als Juan an die fetten Konten des ermordeten Bruders gelangt, ist die Polizei nicht mehr so abgeneigt, ihn zu unterstützen und die Faschos von den Jungen Christgeweihten zu verhaften, teils auch zu foltern und zu töten. Bestechend vibriert ein existenzieller Grundton auf langer Strecke. „Das Leben ist diese Linie aus Licht zwischen dem Nichts und dem Nichts.“ Insofern leuchtet dieses Buch.
RALPH HAMMERTHALER
Erst ließ die Regierung den
Rechten freie Hand,
dann wurden sie zu mächtig
Die Zähmung des
Wolfes ist ein Kampf mit
schweren Verletzungen
Guillermo Arriaga:
Der Wilde. Roman.
Aus dem Spanischen
von Matthias Strobel.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2018.
746 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Es geht um Leben und Tod, Schuld und Sühne, Verrat und Rache: Ist „Der Wilde“ von Guillermo Arriaga tatsächlich der große Mexiko-Roman? Eher ja
In einem Trailer zu seinem neuen Roman „Der Wilde“ streunt Guillermo Arriaga über die Dächer von Unidad Modelo, einem seinerzeit berüchtigten Viertel von Mexiko Stadt. Fast niemand, so heißt es im Buch, gehe unbewaffnet aus dem Haus. Auf den Dächern werden Hundekämpfe ausgetragen, nicht zwischen Pitbulls, sondern zwischen gewöhnlichen Hunderassen. Arriaga verweist auf die schmalen, schachtartigen Gassen zwischen den Häusern; die lassen sich leicht überspringen. Die Polizei kommt den jungen Kriminellen kaum hinterher. Die Dächer sind Orte der Zuflucht genauso wie der Flucht.
Arriaga zeigt auf einen Wassertank, das beste Versteck seit Langem. Als Carlos, der ältere Bruder des Ich-Erzählers Juan, mit Drogen zu handeln anfängt, Morphium und LSD, tauchen er und seine Komplizen gern in diesen Tanks ab. Zum Atmen stecken sie einen Strohhalm in den Mund, der nach oben reicht. Das haben sie im Kino gelernt, bei einer Szene, wo US-Soldaten auf der Flucht in einen Fluss steigen und untertauchen; durch einen Strohhalm bekommen sie Luft.
Dem Kino hängt Guillermo Arriaga ganz besonders an. Für die frühen Filme von Alejandro Gonzáles Iñárritu hat er die Drehbücher geschrieben, „Amores Perros“, „21 Gramm“ und „Babel“. Er erzählt seine Geschichten so, wie sie Shakespeare erzählen würde, lebte er heute in Mexiko. Es geht um Leben und Tod, um Liebe und Hass, um Schuld und Sühne, Verrat und Rache. Glühende Leidenschaften flackern auf und entziehen sich nicht selten dem Einspruch der Vernunft. All diese Motive sind auch in „Der Wilde“ versammelt, seinem mittlerweile vierten Roman. Im Jahr 1958 wurde Arriaga in Mexiko Stadt geboren. So ist er zwar etwas jünger als der Erzähler, aber er dürfte sich seine Erinnerungen ans Ende der Sechzigerjahre bewahrt haben.
1968 ist gerade vorbei, das Jahr des Massakers an Studenten in Tlatelolco. Aber die Staatsmacht wirkt nervös und schlägt, wenn nötig, erbarmungslos zu. Noch ein paar Jahre später werden, wie der aktuelle Netflix-Film „Roma“ von Alfonso Cuarón aufzeigt, Demonstrationszüge angegriffen, auch von rechtsextremen Schlägertrupps, die mit Stöcken auf Studenten einprügeln. Als die fanatische Rechte zu stark wird, ändert die Staatsmacht ihre Strategie; dieser Drehpunkt spielt auch im Roman eine Rolle: „Die linken Jugendbewegungen, die 1968 und 1971 so brutal unterdrückt worden waren, hatten die Regierung gereizt. Anfangs erlaubte und förderte sie daher subversive ultrarechte Gruppierungen, um die jungen ,Kommunisten und Anarchisten‘, die die staatliche Ordnung untergruben, zu bändigen und zu bekämpfen. Als aber die Macht und die Reichweite dieser Gruppierungen eine gewisse Grenze überschritten, beschloss die Regierung, gegen sie vorzugehen.“
Im Stadtviertel Unidad Modelo machen sich Junge Christgeweihte breit, eine gewalttätige Gang des radikalen Katholizismus. Sie attackieren alle, die anders denken als sie, Ungläubige, Juden, Kommunisten, Schwule, aber auch Vergifter, womit sie Drogenhändler meinen. Um sie auszuhorchen, schleicht sich Juan bei ihnen ein und verrät, kalt hinters Licht geführt, das Versteck seines Bruders Carlos, den Wassertank auf dem Dach. Mit Zementsäcken beschweren sie den Deckel und drehen den Hahn auf. Carlos ertrinkt. Worauf Juan beschließt, seinen geliebten Bruder zu rächen.
Als Kinder nannten sie sich Carlos der Mutige und Juan der Wilde. Damit wäre Juan die Titelfigur. Genauso gut aber könnte ein Wolf im Norden Kanadas, mit dem die Parallelhandlung ansetzt, dafür stehen. Ein Trapper tauft das große, kräftige Leittier auf den Namen Nujuaqtutuq, was in der Sprache der Inuit nichts anderes bedeutet als „der Wilde“. Vielleicht wäre „Das Wilde“ sogar der treffendere Titel, weil er Mensch und Tier, dazu die Verhältnisse gleichermaßen einfasste. Diese Lösung hat Nicolette Krebitz gewählt, für ihren Film „Wild“, in dem eine junge Frau einen Wolf bei sich in der Wohnung einquartiert; als wild entpuppt sich hier nicht nur der Wolf, der Wolf vielleicht am wenigsten. Wölfe sind ja die zutraulichsten Haustiere. Im Roman aber ist der wilde Wolf gemeint. Und so wie in Cuaróns „Roma“ eine Galerie von Hundeköpfen, die einst auf einer Hazienda gebellt haben, an der Wand hängt, müsste in Arriagas „Der Wilde“ eine Galerie von Wolfsköpfen hängen.
In der Nachbarschaft von Juan wird, isoliert in einem Käfig, ein Wolfshund gehalten. Weil er etliche Menschen angefallen hat, soll er eingeschläfert werden. Juan bringt es fertig, dass ihm das Tier überlassen wird. Den Papieren entnimmt er, dass es sich um einen echten Wolf handelt, importiert aus Kanada und, so will es die Dramaturgie, ein Nachkomme des sagenhaften Nujuaqtutuq. Es folgt die gewaltsame Zähmung des Wolfs, die Unterwerfung, ein Kampf mit schweren Verletzungen.
Nun wäre es leicht, das Wilde der von Menschen gemachten Verhältnisse romanselig ins Gezähmte zu überführen und damit in die Zivilisation Aber in diese Falle tappt Arriaga nicht. Ein jüdischer Pelzhändler steckt Juan ein Büchlein zu, es heißt „Vom Verzeihen“, „um den emotionalen Unrat loszuwerden, der mit der Rache einhergeht; verzeihen, um aus dem Sumpf des Grolls und des Selbstmitleids herauszukommen“. Geschrieben hat es Albert Rosenthal, dessen Familie im Holocaust ermordet worden ist und der dann als Nazijäger die Täter der Justiz auslieferte. An diese Art von Gerechtigkeit will Juan, das mexikanische Rechtssystem vor Augen, nicht glauben. Unbeeindruckt sinnt er weiter auf Rache.
So bleiben das Wilde und das Gezähmte in einer heiklen Schwebe. Dieser Balanceakt glückt Arriaga in Fragen der Liebe leider nicht ganz so gut. Als fürchte er, die Liebe könnte ihren guten Ruf verlieren. Und dürfte ihr inneres Wüten nicht zulassen. Juan, so erfährt man gleich am Anfang, hat seine ganze Familie verloren. Und jetzt verliebt er sich ausgerechnet in die sexuell freizügige Chelo, die Männer verzehrt wie einen schnellen Imbiss. Auch mit Carlos hat sie etwas gehabt, die Schlampe. Juan wird fast wahnsinnig vor Eifersucht. Dabei könnte Chelo seine Rettung sein. Der Roman jedoch lässt diese Rettung nur zu, indem er Chelo zu einem reumütigen, anschmiegsamen Kätzchen verkleinert, das immerzu „Ich liebe dich“ schnurrt, bis man es nicht mehr hören kann. Einmal, immerhin, sagt sie: „Ich liebe dich, du Tier.“ Das hätte Potenzial.
Ist dieses Buch also, wie der Verlag so schön sagt, „der große Mexiko-Roman“? Eher ja. Selbst wenn der aufregend in der Wildnis spielende Kanada-Strang mit der Zeit etwas zäh wird und an Plausibilität verliert. Selbst wenn ununterbrochen Aktion auf Aktion folgt und die Sprache sich nie selbst genügt. Arriaga berichtet von der Korruption des Systems, egal ob Anwälte, Richter oder Polizisten. Als Juan an die fetten Konten des ermordeten Bruders gelangt, ist die Polizei nicht mehr so abgeneigt, ihn zu unterstützen und die Faschos von den Jungen Christgeweihten zu verhaften, teils auch zu foltern und zu töten. Bestechend vibriert ein existenzieller Grundton auf langer Strecke. „Das Leben ist diese Linie aus Licht zwischen dem Nichts und dem Nichts.“ Insofern leuchtet dieses Buch.
RALPH HAMMERTHALER
Erst ließ die Regierung den
Rechten freie Hand,
dann wurden sie zu mächtig
Die Zähmung des
Wolfes ist ein Kampf mit
schweren Verletzungen
Guillermo Arriaga:
Der Wilde. Roman.
Aus dem Spanischen
von Matthias Strobel.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2018.
746 Seiten, 26 Euro.
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»Temporeich erzählt, kreist die Geschichte des von Schuldgefühlen getriebenen Jugendlichen um die Frage, wie die Toten das Leben prägen. Eine mitreißende Coming-of-Age-Geschichte, die in einem Milieu spielt, in dem viel zu jung gestorben wird.«Heike Karen Ruge, Jungel World, 24.01.2019»Fressen oder gefressen werden, "Der Wilde" taucht in menschliche Abgründe, dort wo animalische Instinkte lauern. Er seziert die Logik der Gewalt, die aus staatlichem Versagen entsteht, aus Armut, aus Ideologie. [...] Ein ständiger Flirt mit dem Abgrund, Zoom auf unsere Ängste. [...] Das Nebeneinander von Grausamkeit und Zärtlichkeit. Arriaga ist der Chronist Mexikos. Ein Roman wie das Land in dem er spielt.«Ronja Mira Dittrich, Kulturzeit, 17.01.2019»Guillermo Arriaga erschafft eine Geschichte der menschlichen Abgründe, aus denen in dunkelster Nacht die Menschlichkeit hervorbricht.«Stadtzauber Kulturmagazin, Januar/Februar 2019»Ein düsteres, zuweilen tief berührendes Meisterwerk über Freundschaft, Verrat, Gnadenlosigkeit und das Sterben vor der Zeit.«Werner Krause, Kleine Zeitung Graz, 05.01.2019»Der Drehbuchautor Guillermo Arriaga hat mit "Der Wilde" einen Roman geschrieben, der von der ersten Seite an eine enorme Sogwirkung auf den Leser ausübt und ihn über die stramme Länge von knapp 750 Seiten förmlich mitzerrt.«Axel Vits, KommBuch, 18.12.2018»Er zeigt Juan Guillermo als juvenilen Wiedergänger McCarthys Cornelius Suttree aus dessen Roman "Verlorene" auf den Dächern von Mexiko-Stadt -im Zentrum einer Geschichte über die archaische, unbezwingbare Wildheit im Menschen. Das ist stark! Und die Pointe eines gewaltigen Romans, dessen Schöpfer auf sämtliche formalen Regeln pfeift- und stattdessen finster-entschlossen zum letzten Halali bläst.«Peter Henning, Spiegel Online, 17.12.2018»Guillermo Arriaga erzählt grandios von Sex, Mord und Rache in Mexiko.«Bunte, 13.12.2018»ein wirklich packende und lohnende Lektüre«Jörn Pinnow, Literaturkurier, 13.12.2018»Der Epos "Der Wilde" ist packend erzählt. Es verknüpft die schmerzhaften Erlebnisse eines Jugendlichen in Mexiko mit einem Wolf in Kanada«Eva-Christina Meier, TAZ, 03.12.2018»Ein ständiger Flirt mit dem Abgrund [...] Grausamkeit und Zärtlichkeit. Arriaga ist der Chronist Mexikos. Ein Roman wie das Land, in dem er spielt [...] Blut, Dreck und Hoden - ein wuchtiger Roman im Stil des magischen Realismus«Ronja Mira Dittrich, ttt, 02.12.2018»"Amores perros" war noch gar nichts dagegen: In seinem wuchtigen Roman "Der Wilde" verstrickt Guillermo Arriaga die tierische Natur des Menschen mit einer Geschichte Mexikos um 1970«Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2018»[...] so prekär die Analogie zwischen Mensch und Wolf auch ist: Die tierische Beharrlichkeit, mit der Arriaga sie durchspielt und en passant eine Art Sozialgeschichte Mexikos erzählt hat schon etwas von einem großen Wurf«Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2018»Der Mexikaner Guillermo Arriaga beherrscht nicht nur Drehbuchschreiben. Sein Roman "Der Wilde" ist furios. [...] was für ein Glück für den Leser.«Matthias Schmidt, Stern, 08.11.2018»Kunstvolles Erzählstückwerk. Rasant wechselt Arriaga zwischen Rück- undVorausblenden, Schauplätzen und Textsorten, um die Hintergründe derKatastrophe Stück für Stück zu offenbaren.«Judith Hoffmann, Ö1 - Morgenjournal, 29.10.2018»Romantisch, brutal und lesenswert [...] Wirklich lohnende Lektüre!«Ulrike Sárkány, NDR Kultur, 26.10.2018»"Der Wilde" taucht in die Abgründe der menschlichen Seele.«Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Kultur - Lesart, 22.10.2018
»Er zeigt Juan Guillermo als juvenilen Wiedergänger McCarthys Cornelius Suttree aus dessen Roman "Verlorene" auf den Dächern von Mexiko-Stadt -im Zentrum einer Geschichte über die archaische, unbezwingbare Wildheit im Menschen. Das ist stark! Und die Pointe eines gewaltigen Romans, dessen Schöpfer auf sämtliche formalen Regeln pfeift- und stattdessen finster-entschlossen zum letzten Halali bläst.« Peter Henning, Spiegel Online, 17.12.2018 Peter Henning SPIEGEL Online 20181217