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Per Leo fragt in dieser bahnbrechenden Studie nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Er zeigt, dass der Wille zur Ausgrenzung sich weniger als eigenständige Ideologie artikulierte, sondern in eine diff us rationale Weltanschauungskultur eingebettet war, die in dieser Form nur in Deutschland entstehen konnte. Am Beispiel des charakterologischen Diskurses rekonstruiert Leo die Route, auf der das allgemeine Problem menschlicher Ungleichheit und die besondere Frage nach dem "jüdischen Wesen" ihren Weg aus dem 19. ins 20. Jahrhundert…mehr

Produktbeschreibung
Per Leo fragt in dieser bahnbrechenden Studie nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Er zeigt, dass der Wille zur Ausgrenzung sich weniger als eigenständige Ideologie artikulierte, sondern in eine diff us rationale Weltanschauungskultur eingebettet war, die in dieser Form nur in Deutschland entstehen konnte. Am Beispiel des charakterologischen Diskurses rekonstruiert Leo die Route, auf der das allgemeine Problem menschlicher Ungleichheit und die besondere Frage nach dem "jüdischen Wesen" ihren Weg aus dem 19. ins 20. Jahrhundert fanden. Indem er darstellt, wie ab 1900 die Charakterologie - mit dem Philosophen und Graphologen Ludwig Klages als Leit?figur - zu einem zentralen Orientierungspunkt in der deutschen Geisteslandschaft wurde, ermöglicht Leo auch eine neue Sicht auf die immer noch ungeklärte Frage, wie die deutsche Bildungsschicht im Dritten Reich ankommen konnte. War es nicht möglich, persönliche Individualität ebenso als Charakterform aufzufassen wie rassische Typizität? Musste das "Land der Dichter und Denker" in der Naziherrschaft? wirklich untergehen?
Autorenporträt
Leo, Per

Per Leo, geboren 1972 in Erlangen, studierte in Freiburg und Berlin Philosophie, Neuere und Neueste Geschichte und Slawistik. Er lebt und arbeitet in Berlin als freier Autor und Schatullenproduzent. Für seine Dissertation Der Wille zum Wesen wurde er mit dem Sonderpreis "Judentum und Antisemitismus" der Humboldt Universität Berlin ausgezeichnet.
Für Flut und Boden: Roman einer Familie war Per Leo für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 nominiert.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Anders als Götz Aly in seinem Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" bleibt Per Leo für Patrick Bahners nicht den Mustern der Volkscharakterkunde verhaftet, sondern versucht, aufklärerisch und mitunter durchaus aphoristisch zuspitzend, wie Bahners einräumt, in seiner Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus Gedankenverbindungen und ihre Wirkungsweise zu analysieren. Wenn der Autor dabei die Charakterologie als wichtigen Bestandteil herausarbeitet, hat Bahners allerdings einen Einwand. Die Marginalisierung der Schriften Ludwig Klages' durch Leo versteht er nicht. Seiner Meinung nach verpasst der Autor damit eine Chance und unterschätzt Klages im Zusammenhang mit seinem Thema.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2014

Schmuggelgut für den Rassenwahn

Wie Diskriminierung von Juden salonfähig wurde: Per Leo sieht in weltanschaulicher Literatur die Ursachen für den fehlenden Widerstand breiter bürgerlicher Schichten gegen den militanten Antisemitismus.

In einem einflussreichen Lehrbuch der "Menschlichen Erblehre", das 1936 in vierter Auflage erschien, vermerkte der Rassenhygieniker Fritz Lenz, seit 1923 Ordinarius in München, die "größte Schwierigkeit einer Rassenpsychologie" liege "in der Abgrenzung der Rassen und in der Zuordnung der Individuen zu einer Rasse". Es sei nämlich nicht möglich, einen Menschen nach seinen physischen Merkmalen zu bestimmen wie eine Pflanze. "Daraus folgt nicht etwa, dass es wesentliche geistige Rassenunterschiede überhaupt nicht gäbe. Es folgt daraus aber, dass für die Erfassung der geistigen Rassenunterschiede ein gewisser Sinn für das Typische, gewissermaßen ein künstlerischer Blick nicht entbehrt werden kann."

Für das ungeschulte Auge nimmt sich die Flucht des Menschennaturwissenschaftlers in die Kunst wie ein improvisiertes Ausweichmanöver aus. Der Leser, der in Per Leos aus einer historischen Dissertation hervorgegangenem Buch auf diese Sätze stößt, wird dagegen in der Verlegenheitsformel ein Denkmuster erkennen. Durch eingehende Interpretation eines disparaten Textmaterials hat Leo den Leser mit den Charakteristika eines intellektuellen Großunternehmens vertraut gemacht, das dem gebildeten Bewusstsein, auf das es einmal einen gewaltigen Einfluss ausübte, komplett entfallen ist.

Leo meint das fehlende Zwischenglied der Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus gefunden zu haben. Sein Buch antwortet auf die Frage: Wie ist es zu erklären, dass die Entrechtung der Juden unter Duldung und Mitwirkung breitester Kreise der bürgerlichen Schichten vor sich ging, obwohl der antisemitischen Doktrin nur eine Minderheit der Gebildeten zustimmte? Leo hat die Charakterologie ausgegraben, die auch als Menschenkunde firmierte, eine Kunstlehre der Unterscheidung von Menschentypen, die mit wissenschaftlichem Anspruch auftrat und zugleich gegen die Fachwissenschaften gerichtet war. Analog zur heutigen Alternativmedizin kann man von einer Alternativwissenschaft sprechen. Versatzstücke der Völkerpsychologie verbanden sich mit Spekulationen über das Geschlechterverhältnis und mit kulturkritischen Überlegungen, die sich als Ansätze einer soziologischen Rollentheorie ansehen lassen. Den Juden wurde unter dem Eindruck des Problems der Assimilation eine Sonderrolle zugewiesen, der Charakter der Charakterlosigkeit.

Es ist der Clou von Leos Genealogie der Unmoral, dass diese als Gattungspsychologie kostümierte Zeitdiagnostik in der Regel gerade nicht biologistisch im Sinne des Schlagworts der heutigen Geschichtspädagogik argumentierte. Man knüpfte zwar an die vormoderne Physiognomik an, insofern man aus der Erscheinung eines Menschen dessen Eigenart herauslesen wollte, verwarf aber die Vorstellung einer festen Kopplung von körperlichen Merkmalen und geistigen Zügen. Der Jude, vermeintlich der geborene Schauspieler, wurde zum Lehrbuchbeispiel der Entkopplung von innen und außen gemacht. Charakteristisches Endprodukt dieser Hermeneutik des Verdachts ist aber erst die Figur des "inneren Juden", der kein Jude ist. Das Bonmot Carl Schmitts, man solle Richard Wagner als "innerjüdische Angelegenheit behandeln", das heißt im Autor von "Das Judentum in der Musik" den in dieser Schrift charakterisierten Typus wiedererkennen, drückt keineswegs nur eine private Obsession aus, sondern muss in seinem Aberwitz als repräsentativ gelten.

Charakterologische Traktate werden unter Weltanschauungsliteratur einsortiert. Leo nimmt den Begriff der Weltanschauung beim Wort und verwendet ihn für die deutsche Tradition eines Orientierungswissens, das im Anschaulichen das den disziplinären Wissenschaften entglittene Weltganze zu erfassen meinte. Den Status der weltanschaulichen Wissensbestände innerhalb der vermeintlich wertfreien Wissenschaften bestimmt Leo als Schmuggelgut: importiert, aber nicht deklariert. Dem Projekt einer Rassenpsychologie, das sich nach dem Stand der biologischen Erkenntnis nicht ausweisen ließ, lieh das Vorwissen einer angelesenen Menschenartenkenntnis Plausibilität.

Der künstlerische Blick, der bei Lenz den Erbforscher vom Bestimmtheitszwang erlösen sollte, war selbst der Definition zugänglich. Eine Bestimmung des "künstlerischen" oder auch "abgekürzten Verfahrens" der Gruppenseelenkunde hat Leo in Werner Sombarts Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" von 1911 gefunden. Dem "inneren Gesicht", der "Intuition" genialer Menschen, legte der Staatswissenschaftler dar, seien "die wertvollsten Einblicke in die Wesenheit sozialer Gruppen" zu verdanken. Bei der "Charakteristik" einer "Eigenart" gelte es, diese "Aufschlüsse" zur "Grundlage des Gesamtmaterials" zu machen, "das wir dann erst mit Hilfe des nüchternen wissenschaftlichen Verfahrens verbessern". Komplementär Lenz: Man müsse "die hypothetischen Bilder, die der intuitive Blick liefert, immer wieder mit dem Erfahrungsmaterial" aus "Völkerkunde und Geschichte" vergleichen.

Der meistgelesene Charakterologe war Ludwig Klages (1872 bis 1956). Per Leo geriet auf die Spur seines Themas, als er im Nachlass seines Großvaters, eines Abteilungsleiters im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, "Handschrift und Charakter" entdeckte, ein Standardwerk von Klages, der eine florierende graphologische Praxis unterhielt. Erst im vierten Teil seiner Arbeit nimmt Leo die Texte von Klages unter die Lupe, wobei er graphologische Gutachten aus dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv einbezieht. Vorher soll "der Idealtyp charakterologischen Denkens aus den Texten anderer Autoren rekonstruiert werden", womit Leo belegen möchte, dass dem Werk von Klages "vor allem symptomatische Bedeutung zukommt". Der Idealtyp ist einer der Begriffe aus der Erbmasse Max Webers, die vor allem Verwirrung angerichtet haben. Leo sieht nur scheinbar von Klages ab, zieht vor allem solche Autoren heran, die Klages zu den Wegbereitern seiner "Wissenschaft vom Ausdruck" stilisierte, indem er etwa Schriften des Naturphilosophen Carl Gustav Carus und des Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen neu herausgab. Klages wird zum Symptom für eine Tradition, deren Konturen er selbst gezogen hat.

Das soll die Wichtigkeit der von Leo freigelegten Motivzusammenhänge einer Morphologie des Menschenlebens nicht schmälern, in der die Berufung auf Goethe für eine Hautfarbenlehre herhalten musste. Eher spielt Leo ohne Not die Bedeutung von Klages herunter, dessen ambivalente Beurteilung durch Walter Benjamin Ausgangspunkt für die gleichzeitig mit Leos Buch erschienene Monographie von Nitzan Lebovic, einem Schüler von Saul Friedländer, über Klages und die nationalsozialistische Biopolitik ist ("The Philosophy of Life and Death", Palgrave/Macmillan 2013). In Leos Vorgeschichte der Charakterologie gerät in dichten Begriffsanalysen zur Erkenntnistheorie das Telos bisweilen aus dem Blick, weil der Autor es verschmäht, die Kommentare von Klages zu den Autoren zu zitieren. Ein höchst gehaltreiches Kapitel hat die "psychologische Weltanschauung" Nietzsches zum Gegenstand - aber nur am Rande erwähnt Leo, dass es von Klages ein ganzes Buch über "Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches" gibt.

In der Konzentration auf eine reine Dogmengeschichte, die für eine geschichtswissenschaftliche Arbeit ganz und gar ungewöhnlich ist, liegt aber auch eine Stärke: Leo demonstriert die Macht von Gedankenverbindungen; mit dem Verdikt des Irrationalismus ist die Überzeugungskraft der Autoren vom Schlage eines Ludwig Klages nicht zu erklären. Nicht minder bemerkenswert ist Leos Talent zur aphoristischen Zuspitzung seiner Thesen. Sein Buch ist ein aufklärerisches Gegenstück zu Götz Alys Traktat "Warum die Deutschen? Warum die Juden?", dessen Doppelporträt des eifrigen Juden und des faulen Deutschen den Mustern der Volkscharakterkunde verhaftet bleibt. Karl Löwith merkte in seiner von Leo nicht zitierten Rezension des Nietzschebuches von Klages kritisch an, in dessen Eindeutschung des Ressentiments zum Lebensneid gehe verloren, dass der Begriff mit der lateinischen Vorsilbe den "Ausdruck einer Gefühlsreaktion" bezeichne. "Letztlich sinnt radikaler Lebensneid auf Mord, um so das Unerreichbare wenigstens aus der Welt zu schaffen."

PATRICK BAHNERS.

Per Leo: "Der Wille zum Wesen". Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013. 734 S., geb., 49,90 [Euro].

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