Ob ein Anzeigeverhalten als denunziatorisch gewertet, das heißt moralisch abgelehnt wird oder nicht, hängt im wesentlichen davon ab, ob der Wertende die Norm, deren Verletzung angezeigt wird, als legitim anerkennt oder nicht. Das gilt für die Wahrnehmung der Zeitgenossen wie für die des historischen Betrachters. Damit führt die Frage nach der Denunziation ins Herz der Demokratie. Sie fragt nach einer Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, deren strafbewehrte Normen den Menschen nicht von außen auferlegt, sondern von ihnen selbst aus Überzeugung getragen werden.Anzeige und Denunziation sind nicht nur begriffsgeschichtlich, sondern auch strukturell identisch. Der Band untersucht anhand verschiedener historischer Bereiche, warum, wann und wie die Meldung eines Normverstoßes an eine strafbefugte Obrigkeit den Hautgout der 'Denunziation' bekommt.Das Thema Denunziation hat unter dem Eindruck der Enthüllungen über die Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi in der DDR und durch die zunehmende Einsicht in die breite Kooperation zwischen Gestapo und Bevölkerung im Dritten Reich einige wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Insbesondere wurde erkundet, ob frühere Epochen ebenfalls Formen von Denunziation kannten und wie sie sich zu denen des 20. Jahrhunderts verhalten. Dabei ergab sich das terminologische Problem, daß der Begriff der 'Denunziation' früher etwas anderes meinte als heute: er war ein wertneutraler juristischer Fachbegriff im Sinne der heutigen 'Anzeige'. Ausgehend von der Frage, wie es zu dieser semantischen Abwertung kam, versucht der vorliegende Band, die Eigenart denunziatorischer Vorgänge zu bestimmen, die bis heute deren Faszinosum begründet.Allen Beiträgen des Bandes liegt die Annahme zugrunde, daß die Denunziation im heutigen Verständnis eine Normendiskrepanz zwischen der Obrigkeit und der Bevölkerung voraussetzt, so daß das angezeigte Delikt zwar der Obrigkeit, aber nicht dem Gros der Bevölkerung als strafwürdig erscheint. Die Loyalität nach oben gerät dadurch in Konflikt mit lebensweltlichen Loyalitäten. Der Unterschied zwischen einer Denunziation und einer 'normalen' (Straf-)Anzeige liegt nicht im Vorgang an sich, sondern in der affektiven Wertung, je nachdem ob die Normendiskrepanz besteht und somit die Anzeige als ein Treuebruch empfunden wird oder nicht.Der einleitende Essay von Bernhard Schlink beschreibt die Denunziation als eine Form des Verrats neben anderen wie Verleugnen oder Korruption. Gemeinsam ist allen der Bruch einer Loyalitätsbeziehung, der im Fall der Denunziation speziell durch die Anzeige bei einem Machthaber geschieht. Schlink stellt heraus, daß der Verrat in der Gegenwart eine andere Gestalt hat als früher, weil die Loyalitätsbindungen vielfältiger und schwächer geworden sind. - Mit der Pejorisierung des Wortes 'Denunziation' und seiner Verdrängung aus der Juristensprache befaßt sich Michael Schröter. Er findet, daß die Verwendung als Schimpfwort ab ca. 1820 zu belegen ist. Als hauptsächliche Träger der semantischen Abwertung erscheinen politisch-oppositionelle Akademikergruppen, die vielleicht auf einen früheren studentischen Sprach-gebrauch zurückgriffen.Arnd Koch fasst das Rechtsinstitut der Denunciatio (Anzeige im frühneuzeitlichen Strafprozeß) ins Auge und zeigt, wie mißtrauisch man der (Straf-)Anzeige, die dem Anzeigeerstatter keine Beweispflichten auferlegte, über Jahrhunderte entgegentrat. Offenbar hängt die negative Konnotation des heutigen Denunziationsbegriffs auch mit der normalen Institution der Anzeige zusammen, die dem Staat neue Chancen zu regulierenden Eingriffen eröffnete. - Die Hexenverfolgungen des 16./17. Jahrhunderts gelten vielfach als ein klassisches Spielfeld der Denunziation. Michael Schröter untersucht die verschiedenen Schritte auf dem Weg zu einem Hexenprozeß und stellt fest, daß der Begriff auf keinen von ihnen paßt. Insbesondere teilte in diesem Fall, soweit die Verfolgungen der Abwehr von Schadenszauber dienten, die Bevölkerung die Vorstellungen der s
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2008Ein Grundmuster von brutaler Schlichtheit
A denunziert B beim Machthaber C, der B exekutiert: Ein fabelhafter Band über Theorie und Geschichte der Denunziation.
Am Anfang steht ein starker Affekt: Nichts scheint verabscheuungswürdiger als die Denunziation oder der Denunziant. Seit den Verdikten Heinrich Heines oder Hoffmann von Fallerslebens ("Der größte Lump") und spätestens aufgrund der Erfahrungen der Denunziationspraxis im Nationalsozialismus und des Spitzelsystems in der DDR ist diese stark abwertende Bedeutung des Begriffs irreversibel. In der Verachtung des Denunzianten sind sich alle einig.
Den Gründen für diese moralische Aufwallung nachzuspüren und gleichzeitig den damit umschriebenen Sachverhalt soziologisch und historisch differenziert freizulegen und "affektneutral" zu diskutieren ist das Verdienst eines von Michael Schröter herausgegebenen Bandes "Der willkommene Verrat". Das thematische Spektrum der Aufsätze ist weit gespannt: Es reicht von der historisch-semantischen Analyse der Wandlungen des Denunziationsbegriffs (Michael Schröter) und seiner Verwendung in der frühneuzeitlichen Rechtsprechung (Arnd Koch) über die Exemplifizierung einzelner Elemente in den Hexenprozessen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts (Michael Schröter) bis zur Kriminalisierung politischer Oppositionsbewegungen im Preußen des neunzehnten Jahrhunderts (Jakob Julius Nolte). Erörtert werden neuere Erscheinungen von Denunziation und Bespitzelung in den Diktaturen des Dritten Reichs und der DDR (Gerhard Sälter, Arnd Koch). Gerahmt werden diese Beiträge durch zwei Essays, eine Abhandlung Bernhard Schlinks zur Struktur und Dynamik des Verrats sowie eine resümierende Betrachtung Michael Schröters.
Das Grundmuster der Denunziation ist von brutaler Schlichtheit: A denunziert B beim Machthaber C, der B exekutiert. Es handelt sich um eine triadische Struktur, in der Bürger oder Untertanen zu Lasten eines Dritten mit der Staatsmacht kooperieren und die es auch Mindermächtigen erlaubt, im Bündnis mit einer übermächtigen Sanktionsgewalt eigene Ziele und Schädigungsabsichten zu verwirklichen. Denn die Initiative des Prozesses liegt bei A, auch wenn es letztlich der Apparat ist, der die Blutarbeit erledigt. Immerhin schafft die Anzeige gesellschaftliche Ordnung und Stabilität. Sie sorgt dafür, dass geltende Rechtsnormen durchgesetzt werden. Doch auch aus der Sicht der Machthaber ist die Sache ambivalent: Die Obrigkeit braucht und schätzt die Information, misstraut aber oft dem Informanten.
Grundsätzlich ist die Chance der Denunziation in allen Herrschaftssystemen gegeben. Was totalitäre Systeme von demokratischen Herrschaftsordnungen unterscheidet, ist vor allem die Ausdehnung des Denunziationsangebots möglicher Straftatbestände auf die Privatsphäre. Dadurch rückt das Element des Verrats in den Vordergrund. Erst wenn die Anzeige bei den Behörden gleichzeitig den Charakter eines Bruchs lebensweltlicher Solidaritätsnormen hat, können wir im heutigen Sinne von Denunziation sprechen.
Dass dies nicht immer so war, verdeutlicht die facettenreiche Begriffsanalyse Michael Schröters. Als juristischer Terminus technicus war die "denunciatio" (synonym mit Anzeige) bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein weitgehend wert- und affektneutraler Begriff. Erst durch die Oppositionsbewegungen des Vormärz und deren Dauerbeobachtung durch ein ausgefeiltes Spitzelsystem bekommt er nach und nach jenen stark abwertenden Charakter, den wir heute kennen. Aus einem rechtlichen Fachbegriff wird so ein politisches Schimpfwort. Die sozialen Trägerschichten dieses Bedeutungswandels sind vor allem die von politischer Verfolgung bedrohten Burschenschaften, die ihrem Dissens zu den Ordnungsprinzipien der Obrigkeit auch auf diese Weise Ausdruck verleihen.
Grundelemente des heutigen Verständnisses von Denunziation sind Heimtücke und niedere Beweggründe wie Neid, ferner Eigenantrieb und Initiative. Im Zentrum steht jedoch stets der Verrat. Dabei ist, wie Bernhard Schlinks schöner Einleitungsessay zeigt, die Denunziation nur eine Variante des Verrats, die von anderen Versionen, etwa der Verleugnung, der Kollaboration und der Korruption, zu unterscheiden ist. Immer handelt es sich jedoch im formalen Sinne um eine Dreiecksstruktur, also eine Beziehungskombination zwischen einem Verräter, dem Verratenen und dem Nutznießer des Verrats.
Das, was der Denunziant verrät, sind die lebensweltlichen Bindungen und Vertrauensbezüge des sozialen Nahfelds und der Nachbarschaft. Er liefert einen Gleichen der Staatsmacht ans Messer. Im Konflikt zwischen horizontaler und vertikaler Loyalität schlägt er sich auf die Seite der Herrschenden. Dabei wird die Verletzung der Sittennorm, wie das Beispiel des "Petzens" - der "Infantilform der Denunziation" - zeigt, vor allem dann als besonders verwerflich empfunden, wenn sie die Solidargemeinschaft der Abhängigen aufbricht oder ein in den Streitigkeiten der Gemeinschaft Unterlegener sich durch das Bündnis mit der übermächtigen Sanktionsinstanz nachträglich doch noch durchzusetzen versucht.
Ein Glanzstück des Bandes ist der Aufsatz von Michael Schröter über die Hexenverfolgungen. Obwohl diese häufig als Paradefall einer ausufernden Denunziationspraxis angeführt werden, lassen sich zentrale Elemente unseres heutigen Denunziationsbegriffs im historischen Material kaum oder nur zum Teil wiederfinden. Weder erfolgte die Beschuldigung heimlich (und wurde oftmals von jemandem vorgebracht, der sich selbst als Opfer eines Schadenszaubers sah), noch kann im zeitgenössischen Normverständnis, bei dem der Glaube an die Wirksamkeit von Schadenszauber weithin selbstverständlich und verbreitet war, von einem grundsätzlichen Loyalitätskonflikt ausgegangen werden, wie er im heutigen Gebrauch des Begriffs vorausgesetzt ist.
Sicher gab es vor allem dort, wo "stehende Hexenausschüsse" eingerichtet waren, mitunter auch die Situation, dass Anzeigen wegen Hexerei auch aus anderweitigen persönlichen Streitmotiven erfolgten; trotzdem ist die Gefahr einer Projektion heutiger Wahrnehmungsschemata und moralischer Wertungen auf die damaligen Prozesse deshalb besonders groß, weil die seinerzeit durchgesetzten Normen uns aus heutiger "aufgeklärter" Weltsicht nur mehr abstrus und die dabei vollzogenen Strafen grausam erscheinen.
Wie gesagt, ein instruktiver Band. Er klärt systematische Fragen an hochselektivem Material, lässt aber naturgemäß auch einige Sach- und Problemfelder offen. Dazu gehören zum Beispiel die Verstrickungsmechanismen und Dilemmata der Verfolgungsbehörden, also die gegenseitige Überwachung und Bespitzelung der Spitzel. Da derjenige, bei dem jemand denunziert wird, nicht weiß, ob die Anzeige nicht auch noch bei anderen Stellen vorliegt, muss er, wenn er nicht selbst in die Schusslinie geraten will, energisch tätig werden, auch wenn ihm dies vielleicht sogar widerstrebt.
So kann Ulrich Mühe als Stasi-Offizier in "Das Leben der Anderen" den Loyalitätswechsel ja nur deshalb durchhalten, weil es ihm gelingt, die Dinge so einzurichten, dass er die Überwachung von einem bestimmten Punkt der Entwicklung als Einzelauftrag weiterführt und so die interne Kontrolle umgeht - eine in der Realität äußerst unwahrscheinliche Konstellation. Die Welt der Denunziation und Bespitzelung ist ein Universum der Ungewissheit und Unsicherheit, das auch die Träger der Repression umfasst und gefangenhält.
Deshalb müssen auch die Moralfragen stets differenziert und auf den Einzelfall bezogen werden. Die Kritik der Macht und ihres Missbrauchs setzt ihre Entdämonisierung voraus. Es ist eine weitere Stärke des Bandes, dass er auch in dieser Hinsicht den Problemen von Schuld, moralischen Dilemmata oder gar Tragik nicht ausweicht, gleichzeitig aber eng am Material argumentiert und jede Übereindeutigkeit vermeidet.
RAINER PARIS
Michael Schröter (Hrsg.): "Der willkommene
Verrat". Beiträge zur Denunziationsforschung.
Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2007. 254 S., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
A denunziert B beim Machthaber C, der B exekutiert: Ein fabelhafter Band über Theorie und Geschichte der Denunziation.
Am Anfang steht ein starker Affekt: Nichts scheint verabscheuungswürdiger als die Denunziation oder der Denunziant. Seit den Verdikten Heinrich Heines oder Hoffmann von Fallerslebens ("Der größte Lump") und spätestens aufgrund der Erfahrungen der Denunziationspraxis im Nationalsozialismus und des Spitzelsystems in der DDR ist diese stark abwertende Bedeutung des Begriffs irreversibel. In der Verachtung des Denunzianten sind sich alle einig.
Den Gründen für diese moralische Aufwallung nachzuspüren und gleichzeitig den damit umschriebenen Sachverhalt soziologisch und historisch differenziert freizulegen und "affektneutral" zu diskutieren ist das Verdienst eines von Michael Schröter herausgegebenen Bandes "Der willkommene Verrat". Das thematische Spektrum der Aufsätze ist weit gespannt: Es reicht von der historisch-semantischen Analyse der Wandlungen des Denunziationsbegriffs (Michael Schröter) und seiner Verwendung in der frühneuzeitlichen Rechtsprechung (Arnd Koch) über die Exemplifizierung einzelner Elemente in den Hexenprozessen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts (Michael Schröter) bis zur Kriminalisierung politischer Oppositionsbewegungen im Preußen des neunzehnten Jahrhunderts (Jakob Julius Nolte). Erörtert werden neuere Erscheinungen von Denunziation und Bespitzelung in den Diktaturen des Dritten Reichs und der DDR (Gerhard Sälter, Arnd Koch). Gerahmt werden diese Beiträge durch zwei Essays, eine Abhandlung Bernhard Schlinks zur Struktur und Dynamik des Verrats sowie eine resümierende Betrachtung Michael Schröters.
Das Grundmuster der Denunziation ist von brutaler Schlichtheit: A denunziert B beim Machthaber C, der B exekutiert. Es handelt sich um eine triadische Struktur, in der Bürger oder Untertanen zu Lasten eines Dritten mit der Staatsmacht kooperieren und die es auch Mindermächtigen erlaubt, im Bündnis mit einer übermächtigen Sanktionsgewalt eigene Ziele und Schädigungsabsichten zu verwirklichen. Denn die Initiative des Prozesses liegt bei A, auch wenn es letztlich der Apparat ist, der die Blutarbeit erledigt. Immerhin schafft die Anzeige gesellschaftliche Ordnung und Stabilität. Sie sorgt dafür, dass geltende Rechtsnormen durchgesetzt werden. Doch auch aus der Sicht der Machthaber ist die Sache ambivalent: Die Obrigkeit braucht und schätzt die Information, misstraut aber oft dem Informanten.
Grundsätzlich ist die Chance der Denunziation in allen Herrschaftssystemen gegeben. Was totalitäre Systeme von demokratischen Herrschaftsordnungen unterscheidet, ist vor allem die Ausdehnung des Denunziationsangebots möglicher Straftatbestände auf die Privatsphäre. Dadurch rückt das Element des Verrats in den Vordergrund. Erst wenn die Anzeige bei den Behörden gleichzeitig den Charakter eines Bruchs lebensweltlicher Solidaritätsnormen hat, können wir im heutigen Sinne von Denunziation sprechen.
Dass dies nicht immer so war, verdeutlicht die facettenreiche Begriffsanalyse Michael Schröters. Als juristischer Terminus technicus war die "denunciatio" (synonym mit Anzeige) bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein weitgehend wert- und affektneutraler Begriff. Erst durch die Oppositionsbewegungen des Vormärz und deren Dauerbeobachtung durch ein ausgefeiltes Spitzelsystem bekommt er nach und nach jenen stark abwertenden Charakter, den wir heute kennen. Aus einem rechtlichen Fachbegriff wird so ein politisches Schimpfwort. Die sozialen Trägerschichten dieses Bedeutungswandels sind vor allem die von politischer Verfolgung bedrohten Burschenschaften, die ihrem Dissens zu den Ordnungsprinzipien der Obrigkeit auch auf diese Weise Ausdruck verleihen.
Grundelemente des heutigen Verständnisses von Denunziation sind Heimtücke und niedere Beweggründe wie Neid, ferner Eigenantrieb und Initiative. Im Zentrum steht jedoch stets der Verrat. Dabei ist, wie Bernhard Schlinks schöner Einleitungsessay zeigt, die Denunziation nur eine Variante des Verrats, die von anderen Versionen, etwa der Verleugnung, der Kollaboration und der Korruption, zu unterscheiden ist. Immer handelt es sich jedoch im formalen Sinne um eine Dreiecksstruktur, also eine Beziehungskombination zwischen einem Verräter, dem Verratenen und dem Nutznießer des Verrats.
Das, was der Denunziant verrät, sind die lebensweltlichen Bindungen und Vertrauensbezüge des sozialen Nahfelds und der Nachbarschaft. Er liefert einen Gleichen der Staatsmacht ans Messer. Im Konflikt zwischen horizontaler und vertikaler Loyalität schlägt er sich auf die Seite der Herrschenden. Dabei wird die Verletzung der Sittennorm, wie das Beispiel des "Petzens" - der "Infantilform der Denunziation" - zeigt, vor allem dann als besonders verwerflich empfunden, wenn sie die Solidargemeinschaft der Abhängigen aufbricht oder ein in den Streitigkeiten der Gemeinschaft Unterlegener sich durch das Bündnis mit der übermächtigen Sanktionsinstanz nachträglich doch noch durchzusetzen versucht.
Ein Glanzstück des Bandes ist der Aufsatz von Michael Schröter über die Hexenverfolgungen. Obwohl diese häufig als Paradefall einer ausufernden Denunziationspraxis angeführt werden, lassen sich zentrale Elemente unseres heutigen Denunziationsbegriffs im historischen Material kaum oder nur zum Teil wiederfinden. Weder erfolgte die Beschuldigung heimlich (und wurde oftmals von jemandem vorgebracht, der sich selbst als Opfer eines Schadenszaubers sah), noch kann im zeitgenössischen Normverständnis, bei dem der Glaube an die Wirksamkeit von Schadenszauber weithin selbstverständlich und verbreitet war, von einem grundsätzlichen Loyalitätskonflikt ausgegangen werden, wie er im heutigen Gebrauch des Begriffs vorausgesetzt ist.
Sicher gab es vor allem dort, wo "stehende Hexenausschüsse" eingerichtet waren, mitunter auch die Situation, dass Anzeigen wegen Hexerei auch aus anderweitigen persönlichen Streitmotiven erfolgten; trotzdem ist die Gefahr einer Projektion heutiger Wahrnehmungsschemata und moralischer Wertungen auf die damaligen Prozesse deshalb besonders groß, weil die seinerzeit durchgesetzten Normen uns aus heutiger "aufgeklärter" Weltsicht nur mehr abstrus und die dabei vollzogenen Strafen grausam erscheinen.
Wie gesagt, ein instruktiver Band. Er klärt systematische Fragen an hochselektivem Material, lässt aber naturgemäß auch einige Sach- und Problemfelder offen. Dazu gehören zum Beispiel die Verstrickungsmechanismen und Dilemmata der Verfolgungsbehörden, also die gegenseitige Überwachung und Bespitzelung der Spitzel. Da derjenige, bei dem jemand denunziert wird, nicht weiß, ob die Anzeige nicht auch noch bei anderen Stellen vorliegt, muss er, wenn er nicht selbst in die Schusslinie geraten will, energisch tätig werden, auch wenn ihm dies vielleicht sogar widerstrebt.
So kann Ulrich Mühe als Stasi-Offizier in "Das Leben der Anderen" den Loyalitätswechsel ja nur deshalb durchhalten, weil es ihm gelingt, die Dinge so einzurichten, dass er die Überwachung von einem bestimmten Punkt der Entwicklung als Einzelauftrag weiterführt und so die interne Kontrolle umgeht - eine in der Realität äußerst unwahrscheinliche Konstellation. Die Welt der Denunziation und Bespitzelung ist ein Universum der Ungewissheit und Unsicherheit, das auch die Träger der Repression umfasst und gefangenhält.
Deshalb müssen auch die Moralfragen stets differenziert und auf den Einzelfall bezogen werden. Die Kritik der Macht und ihres Missbrauchs setzt ihre Entdämonisierung voraus. Es ist eine weitere Stärke des Bandes, dass er auch in dieser Hinsicht den Problemen von Schuld, moralischen Dilemmata oder gar Tragik nicht ausweicht, gleichzeitig aber eng am Material argumentiert und jede Übereindeutigkeit vermeidet.
RAINER PARIS
Michael Schröter (Hrsg.): "Der willkommene
Verrat". Beiträge zur Denunziationsforschung.
Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2007. 254 S., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Richtig dankbar zeigt sich Rainer Paris angesichts eines Aufsatzbandes zum Thema Denunziation. Was der Herausgeber Michael Schröter an Beiträgen versammelt hat, eröffnet dem Rezensenten moralische, soziologische und historische Aspekte des "willkommenen Verrats", bietet Begriffsanalyse und klärt "systematische Fragen" an "hochselektivem Material". Paris lernt, wann der Begriff seinen abwertenden Charakter erhielt, wie sich die "Dreiecksstruktur" des Verrats gestaltet und, "glanzvoll" in Schröters eigenem Beitrag, ob sich die Hexenverfolgung in diesen Zusammenhang einordnen lassen. Für Paris ein "instruktiver" Band mit Lücken zwar (etwa zur "Bespitzelung der Spitzel"), dessen Argumentation für ihn angenehm "eng am Material" entlang führt und der es vermeidet, wie er schreibt, allzu eindeutig zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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