Eine Frau am Rande der Gesellschaft
Maria hat Zeit. Tagsüber sitzt sie auf einer Bank vor der Kirche, beobachtet dort das Treiben, ein Kommen und Gehen, Leute mit Zielen und wenig Zeit. Vor zwei Jahren hat Maria ihre Arbeit verloren. Alt ist sie nicht, doch der Markt braucht sie nicht mehr. Ihr Leben läuft rückwärts an ihr vorbei, mit all seinen Möglichkeiten, Träumen und Unfällen.
Mit besonderem Gespür für das Absurde im Alltäglichen zeichnet Anna Weidenholzer das Bild einer Frau am Rande der Gesellschaft.
Maria hat Zeit. Tagsüber sitzt sie auf einer Bank vor der Kirche, beobachtet dort das Treiben, ein Kommen und Gehen, Leute mit Zielen und wenig Zeit. Vor zwei Jahren hat Maria ihre Arbeit verloren. Alt ist sie nicht, doch der Markt braucht sie nicht mehr. Ihr Leben läuft rückwärts an ihr vorbei, mit all seinen Möglichkeiten, Träumen und Unfällen.
Mit besonderem Gespür für das Absurde im Alltäglichen zeichnet Anna Weidenholzer das Bild einer Frau am Rande der Gesellschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2012Die Uhr läuft, die Zeit steht still
Wer die Arbeit verliert II: Die junge Schriftstellerin Anna Weidenholzer hat einen feinherben Roman über Arbeitslosigkeit und ihre Folgen geschrieben. In "Der Winter tut den Fischen gut" geht es um Demütigungen im Gewand sozialstaatlicher Wohltaten.
Die Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre hat gerade in Österreich wesentliche Texte über den damit einhergehenden Verlust der Selbstachtung des Einzelnen wie auch der Solidarität mit seinen Schicksalsgenossen gezeitigt: die empathischen Rollengedichte Theodor Kramers, Rudolf Brunngrabers großen Zeitroman "Karl und das 20. Jahrhundert" - und einen Klassiker der Soziologie, die Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel.
Wie das Gesicht der Arbeitslosigkeit heute, zur Zeit einer spätkapitalistischen Melancholie, aussieht, die Masse aller traurigen Einzelfälle, das gemäßigte Elend staatlich verwalteter Entbehrung, das hat literarisch bisher wenig Kontur gewonnen. Die 1984 in Linz geborene Anna Weidenholzer nimmt sich in ihrem zweiten Buch - nach dem Erzählband "Der Platz des Hundes" (2010) - dieses Themas an und nennt darin auch "Die Arbeitslosen von Marienthal" als Quelle.
Allerdings ist "Der Winter tut den Fischen gut" viel mehr als ein Buch über Arbeitslosigkeit: Es macht aus dem Fall der Maria Beerenberger eine individuelle Lebensgeschichte, es gibt der ehemaligen Verkäuferin im Textilfachhandel, gekündigt mit 47, nach neunzehn Jahren, Gesicht und Stimme - ohne Pathos und ohne plumpe Parteilichkeit. Maria ist nicht nur "Arbeitslose", sie ist eine Frau mit Vergangenheit, einer mittelprächtigen Ehe, einer großen Jugendliebe, einem unerfüllten Berufswunsch: Sängerin wollte sie einmal werden. Jetzt wechselt sie die Straßenseite, wenn sie Bekannte trifft, und führt Scheintelefonate, um ja nicht müßig zu erscheinen.
Der mit den Anforderungen des Erwerbslebens wie der Gesellschaft nicht mehr kompatible Sonderling: seit Wilhelm Genazino ist das keine originelle Figur. Und doch ist dieser Roman einer Boutiquenverkäuferin alles andere als Konfektion. Schon der Aufbau der Erzählung überzeugt durch Eigensinn: Das Buch beginnt mit einem ideal ausgemalten Bewerbungsgespräch, an dessen Ende der Entschluss steht: "Fangen wir von hinten an." Dann folgt sogleich Kapitel 54, es wird zurückgezählt bis zu Kapitel 1, das logischerweise in der Kindheit spielt. Indem die "verflossenen Leben" und Lieben ins Visier geraten, samt allen nicht genommenen Abzweigungen und nicht ergriffenen Möglichkeiten, bekommt auch das drohend Monolithische der Zukunft Sprünge: Auswege werden vorstellbar.
Die Geschichte bewegt sich paradox im Krebsgang vorwärts, wobei Weidenholzer das Prinzip nicht sklavisch einhält: Mittels etlicher Vor- und Rückverweise baut sie eine besondere Spannung auf; wir erfahren etwa bald, dass Maria Witwe ist, dann taucht ihr Mann Walter, ein Automechaniker, auf - aber wir wissen lange nicht, wie er gestorben ist. Er lebt jedenfalls ungesund und trinkt zu viel, er neigt zu Wutanfällen und wirft Maria vor, dass sie keine Kinder bekommen haben. Der Autorin gelingt es, solch banale Lebenserschwernisse durch eine Fülle von Details plastisch, interessant, bisweilen auch sacht komisch erscheinen zu lassen. Maßgeschneidert wirkt, bis in die Dialoge hinein, die Sprache: Sie ist schlicht, prägnant und von einer schartigen Schönheit.
Einzelne Sätze sehen wir scharf ausgeleuchtet. So ist der Boutiquenbesitzer Herr Willert ein wandelndes Verkaufsbenimmbuch, seine Ratschläge durchsetzen musterhaft den Text: "Man darf den Händen die Arbeit nicht ansehen" oder "Achten Sie auf Ihre Figur". Doch dass Maria all diese Direktiven befolgt, nützt ihr gar nichts. Herr Willert, die merkantile Autorität, ist nur scheinbar ein Mann vom alten Schlag, im Augenblick der Entscheidung opfert er die bewährte Kraft dem Spardruck. Jetzt ist Maria der netten Beraterin und dem weniger netten Berater vom Arbeitsamt ausgeliefert, das, trendig in "Arbeitsmarktservice" umgetauft, auch kein freundlicheres Gesicht hat: Unbotmäßigkeit wird bestraft. Und die Ratgeber-Literatur für Arbeitslose vermittelt blanken Hohn: "Machen Sie konsequent, systematisch, parallel, schnell und viel."
Von Beginn an fallen die Uhren ins Auge: die silberne Armbanduhr des erträumten Personalchefs, der Wecker, mit dem in der Hand Maria noch Stunden weiterschläft, die Küchenuhr, die dem dahineilenden Vormittag auf den Fersen ist. Die Uhr läuft, und die Zeit steht still. Die Tagesfreizeit wird zum Gefängnis. Die kleinen Rituale, die Maria liebt, beginnen sie immer mehr einzuschnüren, bis sie sich am Rande einer Depression bewegt. Als Haustier legt sie sich eine Kaulquappe zu, weil eine solche nicht auffällt, aber aus dem Frosch wird kein Märchenprinz. "Der Winter tut den Fischen gut", wie Maria zum Fischverkäufer bemerkt, aber leider der Kühlschrank nicht dem Frosch.
Schlimmere Opfer sind nicht zu beklagen, doch das Abgründige lauert in dieser feinherben Geschichte gleich am Wegesrand. So sagt der Sohn der Apfelfrau zu seiner Mutter: "Wenn du stirbst, fälle ich deine Bäume, sobald du tot umfällst, schneide ich sie alle um." Aber es gibt auch die Hausmeisterin Milica, die für Maria Kaffee kocht und ihr aus dem Satz eine schöne Zukunft liest. Stark muss er schon sein, der Kaffee: "Das ist doch gut, wenn das Herz klopft, wenn man weiß, dass man noch am Leben ist."
DANIELA STRIGL
Anna Weidenholzer: "Der Winter tut den Fischen gut". Roman.
Residenz Verlag, St. Pölten, Salzburg, Wien 2012. 234 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer die Arbeit verliert II: Die junge Schriftstellerin Anna Weidenholzer hat einen feinherben Roman über Arbeitslosigkeit und ihre Folgen geschrieben. In "Der Winter tut den Fischen gut" geht es um Demütigungen im Gewand sozialstaatlicher Wohltaten.
Die Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre hat gerade in Österreich wesentliche Texte über den damit einhergehenden Verlust der Selbstachtung des Einzelnen wie auch der Solidarität mit seinen Schicksalsgenossen gezeitigt: die empathischen Rollengedichte Theodor Kramers, Rudolf Brunngrabers großen Zeitroman "Karl und das 20. Jahrhundert" - und einen Klassiker der Soziologie, die Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel.
Wie das Gesicht der Arbeitslosigkeit heute, zur Zeit einer spätkapitalistischen Melancholie, aussieht, die Masse aller traurigen Einzelfälle, das gemäßigte Elend staatlich verwalteter Entbehrung, das hat literarisch bisher wenig Kontur gewonnen. Die 1984 in Linz geborene Anna Weidenholzer nimmt sich in ihrem zweiten Buch - nach dem Erzählband "Der Platz des Hundes" (2010) - dieses Themas an und nennt darin auch "Die Arbeitslosen von Marienthal" als Quelle.
Allerdings ist "Der Winter tut den Fischen gut" viel mehr als ein Buch über Arbeitslosigkeit: Es macht aus dem Fall der Maria Beerenberger eine individuelle Lebensgeschichte, es gibt der ehemaligen Verkäuferin im Textilfachhandel, gekündigt mit 47, nach neunzehn Jahren, Gesicht und Stimme - ohne Pathos und ohne plumpe Parteilichkeit. Maria ist nicht nur "Arbeitslose", sie ist eine Frau mit Vergangenheit, einer mittelprächtigen Ehe, einer großen Jugendliebe, einem unerfüllten Berufswunsch: Sängerin wollte sie einmal werden. Jetzt wechselt sie die Straßenseite, wenn sie Bekannte trifft, und führt Scheintelefonate, um ja nicht müßig zu erscheinen.
Der mit den Anforderungen des Erwerbslebens wie der Gesellschaft nicht mehr kompatible Sonderling: seit Wilhelm Genazino ist das keine originelle Figur. Und doch ist dieser Roman einer Boutiquenverkäuferin alles andere als Konfektion. Schon der Aufbau der Erzählung überzeugt durch Eigensinn: Das Buch beginnt mit einem ideal ausgemalten Bewerbungsgespräch, an dessen Ende der Entschluss steht: "Fangen wir von hinten an." Dann folgt sogleich Kapitel 54, es wird zurückgezählt bis zu Kapitel 1, das logischerweise in der Kindheit spielt. Indem die "verflossenen Leben" und Lieben ins Visier geraten, samt allen nicht genommenen Abzweigungen und nicht ergriffenen Möglichkeiten, bekommt auch das drohend Monolithische der Zukunft Sprünge: Auswege werden vorstellbar.
Die Geschichte bewegt sich paradox im Krebsgang vorwärts, wobei Weidenholzer das Prinzip nicht sklavisch einhält: Mittels etlicher Vor- und Rückverweise baut sie eine besondere Spannung auf; wir erfahren etwa bald, dass Maria Witwe ist, dann taucht ihr Mann Walter, ein Automechaniker, auf - aber wir wissen lange nicht, wie er gestorben ist. Er lebt jedenfalls ungesund und trinkt zu viel, er neigt zu Wutanfällen und wirft Maria vor, dass sie keine Kinder bekommen haben. Der Autorin gelingt es, solch banale Lebenserschwernisse durch eine Fülle von Details plastisch, interessant, bisweilen auch sacht komisch erscheinen zu lassen. Maßgeschneidert wirkt, bis in die Dialoge hinein, die Sprache: Sie ist schlicht, prägnant und von einer schartigen Schönheit.
Einzelne Sätze sehen wir scharf ausgeleuchtet. So ist der Boutiquenbesitzer Herr Willert ein wandelndes Verkaufsbenimmbuch, seine Ratschläge durchsetzen musterhaft den Text: "Man darf den Händen die Arbeit nicht ansehen" oder "Achten Sie auf Ihre Figur". Doch dass Maria all diese Direktiven befolgt, nützt ihr gar nichts. Herr Willert, die merkantile Autorität, ist nur scheinbar ein Mann vom alten Schlag, im Augenblick der Entscheidung opfert er die bewährte Kraft dem Spardruck. Jetzt ist Maria der netten Beraterin und dem weniger netten Berater vom Arbeitsamt ausgeliefert, das, trendig in "Arbeitsmarktservice" umgetauft, auch kein freundlicheres Gesicht hat: Unbotmäßigkeit wird bestraft. Und die Ratgeber-Literatur für Arbeitslose vermittelt blanken Hohn: "Machen Sie konsequent, systematisch, parallel, schnell und viel."
Von Beginn an fallen die Uhren ins Auge: die silberne Armbanduhr des erträumten Personalchefs, der Wecker, mit dem in der Hand Maria noch Stunden weiterschläft, die Küchenuhr, die dem dahineilenden Vormittag auf den Fersen ist. Die Uhr läuft, und die Zeit steht still. Die Tagesfreizeit wird zum Gefängnis. Die kleinen Rituale, die Maria liebt, beginnen sie immer mehr einzuschnüren, bis sie sich am Rande einer Depression bewegt. Als Haustier legt sie sich eine Kaulquappe zu, weil eine solche nicht auffällt, aber aus dem Frosch wird kein Märchenprinz. "Der Winter tut den Fischen gut", wie Maria zum Fischverkäufer bemerkt, aber leider der Kühlschrank nicht dem Frosch.
Schlimmere Opfer sind nicht zu beklagen, doch das Abgründige lauert in dieser feinherben Geschichte gleich am Wegesrand. So sagt der Sohn der Apfelfrau zu seiner Mutter: "Wenn du stirbst, fälle ich deine Bäume, sobald du tot umfällst, schneide ich sie alle um." Aber es gibt auch die Hausmeisterin Milica, die für Maria Kaffee kocht und ihr aus dem Satz eine schöne Zukunft liest. Stark muss er schon sein, der Kaffee: "Das ist doch gut, wenn das Herz klopft, wenn man weiß, dass man noch am Leben ist."
DANIELA STRIGL
Anna Weidenholzer: "Der Winter tut den Fischen gut". Roman.
Residenz Verlag, St. Pölten, Salzburg, Wien 2012. 234 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sabine Vogels Rezension zu Anna Weidenholzers Roman "Der Winter tut den Fischen gut" wird selbst zu einem Stück Literatur, wenn sie den nüchternen Stil, in dem die junge Autorin vom trüben Alltag der arbeitslosen und menschenscheuen Maria erzählt, in ihrer Besprechung aufnimmt. Hauptsatz an Hauptsatz reihend, fasst Vogel den Inhalt zusammen: Sinnbildlich für ihre Trostlosigkeit, umgibt sich Maria mit lauter Toten und Schatten, wie der Asche ihres Hundes Berti, der Erinnerung an ihren verstorbenen Mann Walter und dem toten Frosch Otto, der erfroren war, nachdem sie ihn fürsorglich für den Winterschlaf in den Kühlschrank gelegt hatte. Trotz der "hoffnungslos depressiven Geschichte", überträgt Vogel damit eine Situationskomik, die entsteht, wenn sich durch die Weltabgeschiedenheit die Prioritäten des Alltags verschieben. Absolut lesenswert findet sie den Roman, der verdrängte Schicksale von Menschen, die "der Welt verloren gegangen" sind, zurück ins Bewusstsein holt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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