Allein unter 60 Frauen - der Witwentröster Sie sind 80 Jahre alt und älter, sie stinken, sie treiben Unfug, und sie erinnern sich an nichts: die Witwen. Jan Oltrogge, der junge Zivildienstleistende, will sie zum Reden bringen. Er wäscht sie, er wirbt um sie, er erfüllt ihnen die ausgefallensten Wünsche. Doch als das alles nicht hilft, greift er zu anderen Methoden.
Kein Ort, an dem man Abenteuer erwartet: die Luisenstiftung, ein Frauen-Altersheim in Altona. Aber was Jan Oltrogge, der Witwentröster, zu erzählen hat, ist außergewöhnlich und spannend: seine besessene Suche nach dem Geheimnis der Witwen. Seine Diagnosen sind fragwürdig, seine Maßnahmen sind drastisch und stehen quer zu allen Pflegeplänen. Und natürlich stößt er auf Widerstand: Die Schwestern sitzen ihm im Nacken und pochen auf Erfüllung des Arbeitspensums, die Angehörigen benutzen ihn, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ganz auf sich gestellt, verfolgt Jan sein geheimes Programm. Bald zeigen sich die ersten Erfolge: Die Witwen beginnen, sich zu erinnern - und wieder zu leben. Doch dann kommt das Sommerfest, und Jan verliert die Kontrolle über das Geschehen.
Marc Wortmanns eindrucksvolles Romandebüt erzählt drastisch und unterhaltsam von einer Generation, die nicht ohne Grund vergesslich geworden ist, und von einem Helden, der die Geister nicht mehr loswird, die er rief.
Kein Ort, an dem man Abenteuer erwartet: die Luisenstiftung, ein Frauen-Altersheim in Altona. Aber was Jan Oltrogge, der Witwentröster, zu erzählen hat, ist außergewöhnlich und spannend: seine besessene Suche nach dem Geheimnis der Witwen. Seine Diagnosen sind fragwürdig, seine Maßnahmen sind drastisch und stehen quer zu allen Pflegeplänen. Und natürlich stößt er auf Widerstand: Die Schwestern sitzen ihm im Nacken und pochen auf Erfüllung des Arbeitspensums, die Angehörigen benutzen ihn, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ganz auf sich gestellt, verfolgt Jan sein geheimes Programm. Bald zeigen sich die ersten Erfolge: Die Witwen beginnen, sich zu erinnern - und wieder zu leben. Doch dann kommt das Sommerfest, und Jan verliert die Kontrolle über das Geschehen.
Marc Wortmanns eindrucksvolles Romandebüt erzählt drastisch und unterhaltsam von einer Generation, die nicht ohne Grund vergesslich geworden ist, und von einem Helden, der die Geister nicht mehr loswird, die er rief.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2002Ein Herz für alte Damen
Wie Medizin: Marc Wortmanns unzeitgemäßes Romandebüt
Wer ins Altersheim zieht, hat meist schon seine letzte Ruhestätte vor Augen. Gleichzeitig bringt es diese Situation oft mit sich, daß die neuen Heimbewohner sich stärker mit der Jugend konfrontiert sehen als in den Jahren zuvor. Jan Oltrogge, neunzehnjähriger Zivildienstleistender und Ich-Erzähler in Marc Wortmanns Debütroman "Der Witwentröster", ist der einzige Mann in der Luisenstiftung in Hamburg-Altona. Die alten Damen, aber auch das übrige weibliche Personal scheinen zunächst eine undurchdringliche Front zu bilden. Längst sind sie aus dem Alter heraus, in dem Frauen noch auf den Richtigen warten. Gleichgültig nehmen die "Witwen", wie die Heimbewohnerinnen korrekt bezeichnet werden wollen, zur Kenntnis, daß die Schwestern Verstärkung bekommen haben. Jan, von allen bald nur "der junge Mann" genannt, erkennt rasch, daß seine Berufung nicht allein darin liegen kann, Bettpfannen zu leeren, Windeln zu wechseln und Gebisse zu reinigen. Er will mehr, seit er einmal in der Heimbibliothek herumgestöbert und im Lexikon das Wort "Witwe" nachgeschlagen hat. Die Definition öffnet ihm die Augen: "die ihres Mannes beraubte", die "Mangel" hat. Fortan will Jan vor allem eines: den "Mangel" der Witwen ausmachen, ihn erforschen und schließlich fortwischen. So wird er zum "Witwentröster", zu einem, "der die Leere zu füllen versucht".
"Man muß Opfer bringen, wenn man Witwen trösten will", behauptet der Erzähler gleich zu Anfang - und vergißt dabei zu erwähnen, daß auch die Witwe einiges aushalten muß, sobald der Tröster es auf sie abgesehen hat. Die Abwehr der Damen ist olfaktorisch. Die penetranten, beißenden Ausdünstungen alter Leiber, die stechenden Dämpfe aus Nachttöpfen und der modrige Mief in Kleidung, Vorhängen und Bettlaken machen Jans Kreuzzug ins Land der Erinnerung zur Tortur. Die Weigerung der Damen, die eigene Vergangenheit zu reflektieren, macht Unterhaltungen über den Heimalltag hinaus zunächst unmöglich. Das ist Jan zuwenig. Im Schildkrötentempo schleift er den Widerstand seiner Patientinnen ab. Seine Methoden sind grausam, aber effektiv: Er beobachtet jede der Witwen, spricht mit Angehörigen, merkt sich selbst scheinbare Nebensächlichkeiten.
Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Jan zu wissen glaubt, welche Lebenslüge die jeweilige Dame zu verdrängen, zu vergessen oder zu retuschieren versucht. Bei seiner Mission wird er angetrieben von der Überzeugung, daß erst die Bloßlegung dieses wunden Punkts den Weg zum befreiten Sterben öffnet. Mit einer wilden Entschlossenheit, die ihn den Schwestern suspekt und den Witwen zusehends unentbehrlich macht, betreibt Jan das "Witwentrösten". Das hat nichts Falsches, Beflissenes an sich, wie etwa die Tröstungen eines Erbschleichers. Es genügt ihm nicht, von den Witwen gemocht zu werden. Vielmehr will er ihnen alles sein: der verlorene Ehemann, der gefallene Bruder, der vernachlässigte Sohn. Er verteilt Obst oder Medikamente und wechselt dabei die Rolle von Zimmer zu Zimmer. Kein Wunder, daß die Bewohnerinnen ihn irgendwann ebenso sehr brauchen wie fürchten. Denn Jan hat Erfolg: Mit der Rückkehr der Erinnerung kommt Leben in die Frauen, und mit den Schlaken im Kopf lösen sich auch die Ablagerungen in den Gedärmen.
Marc Wortmann, Jahrgang 1966, hat sich einen ungewöhnlichen Schauplatz für seinen ersten Roman ausgesucht. Sein Thema ist das Alter, nicht die Jugend: Damit geht er dem Vergleich mit vielen anderen Debüts raffiniert aus dem Weg und vermeidet die Gefahr, in die wohlfeilen Schilderungen einer Generationsbefindlichkeit einzutauchen. Ihn interessiert das, was verloren zu gehen droht: die Biographien der alten Damen. Und so ist es auch nur folgerichtig, daß man über den Ich-Erzähler nichts erfährt, was außerhalb der Mauern des Altenpflegeheims liegt: "Ich habe über 5000 Jahre hinweggetröstet. Diese 5000 Jahre sind nicht als chronologische Abfolge zu betrachten, sondern als eine Vielzahl von Leben, die nebeneinander existieren."
Die Lebensdramen, die Jan aufdeckt, sind nicht besonders überraschend, doch gerade das macht sie authentisch. Großen Anteil daran, daß der Leser dem Witwentröster so bereitwillig von Zimmer zu Zimmer und über knapp 350 Seiten folgt, hat Wortmanns erstaunlich sichere Sprache. In kurzen Passagen und klaren Sätzen, die nicht durch besondere Originalität auffallen wollen, schildert er die Fortschritte des Witwentrösters. Dabei ist der Autor durchaus nicht zimperlich, wenn es darum geht, sinnliche Eindrücke zu beschreiben. Die alten Frauen werden von ihm nicht schöner, wohlriechender oder netter geschildert, als sie sind. Ihr Zustand wird nicht beschönigt, aber auch nicht flapsig verspottet. Nicht jede der zahlreichen Beschreibungen von Gestank und Fäkalien wäre nötig gewesen, und manches Mal geraten Sprache und Handlung durch den häufigen Einschub bilanzierender Abschnitte ins Stocken. Zuguterletzt aber erfährt die spiegelglatte Oberfläche doch noch einige wohltuende Brüche. Der Witwentröster jedenfalls verläßt die Louisenstiftung nach anderthalb Jahren nicht als moderner Heiliger, und die Witwen widersetzen sich, wenn sie nicht gestorben sind, weiterhin ihrer Erinnerung. So hinterläßt der Roman den bitteren, aber auch tröstlichen Nachgeschmack wirksamer Medizin.
Marc Wortmann: "Der Witwentröster". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 347 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Medizin: Marc Wortmanns unzeitgemäßes Romandebüt
Wer ins Altersheim zieht, hat meist schon seine letzte Ruhestätte vor Augen. Gleichzeitig bringt es diese Situation oft mit sich, daß die neuen Heimbewohner sich stärker mit der Jugend konfrontiert sehen als in den Jahren zuvor. Jan Oltrogge, neunzehnjähriger Zivildienstleistender und Ich-Erzähler in Marc Wortmanns Debütroman "Der Witwentröster", ist der einzige Mann in der Luisenstiftung in Hamburg-Altona. Die alten Damen, aber auch das übrige weibliche Personal scheinen zunächst eine undurchdringliche Front zu bilden. Längst sind sie aus dem Alter heraus, in dem Frauen noch auf den Richtigen warten. Gleichgültig nehmen die "Witwen", wie die Heimbewohnerinnen korrekt bezeichnet werden wollen, zur Kenntnis, daß die Schwestern Verstärkung bekommen haben. Jan, von allen bald nur "der junge Mann" genannt, erkennt rasch, daß seine Berufung nicht allein darin liegen kann, Bettpfannen zu leeren, Windeln zu wechseln und Gebisse zu reinigen. Er will mehr, seit er einmal in der Heimbibliothek herumgestöbert und im Lexikon das Wort "Witwe" nachgeschlagen hat. Die Definition öffnet ihm die Augen: "die ihres Mannes beraubte", die "Mangel" hat. Fortan will Jan vor allem eines: den "Mangel" der Witwen ausmachen, ihn erforschen und schließlich fortwischen. So wird er zum "Witwentröster", zu einem, "der die Leere zu füllen versucht".
"Man muß Opfer bringen, wenn man Witwen trösten will", behauptet der Erzähler gleich zu Anfang - und vergißt dabei zu erwähnen, daß auch die Witwe einiges aushalten muß, sobald der Tröster es auf sie abgesehen hat. Die Abwehr der Damen ist olfaktorisch. Die penetranten, beißenden Ausdünstungen alter Leiber, die stechenden Dämpfe aus Nachttöpfen und der modrige Mief in Kleidung, Vorhängen und Bettlaken machen Jans Kreuzzug ins Land der Erinnerung zur Tortur. Die Weigerung der Damen, die eigene Vergangenheit zu reflektieren, macht Unterhaltungen über den Heimalltag hinaus zunächst unmöglich. Das ist Jan zuwenig. Im Schildkrötentempo schleift er den Widerstand seiner Patientinnen ab. Seine Methoden sind grausam, aber effektiv: Er beobachtet jede der Witwen, spricht mit Angehörigen, merkt sich selbst scheinbare Nebensächlichkeiten.
Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Jan zu wissen glaubt, welche Lebenslüge die jeweilige Dame zu verdrängen, zu vergessen oder zu retuschieren versucht. Bei seiner Mission wird er angetrieben von der Überzeugung, daß erst die Bloßlegung dieses wunden Punkts den Weg zum befreiten Sterben öffnet. Mit einer wilden Entschlossenheit, die ihn den Schwestern suspekt und den Witwen zusehends unentbehrlich macht, betreibt Jan das "Witwentrösten". Das hat nichts Falsches, Beflissenes an sich, wie etwa die Tröstungen eines Erbschleichers. Es genügt ihm nicht, von den Witwen gemocht zu werden. Vielmehr will er ihnen alles sein: der verlorene Ehemann, der gefallene Bruder, der vernachlässigte Sohn. Er verteilt Obst oder Medikamente und wechselt dabei die Rolle von Zimmer zu Zimmer. Kein Wunder, daß die Bewohnerinnen ihn irgendwann ebenso sehr brauchen wie fürchten. Denn Jan hat Erfolg: Mit der Rückkehr der Erinnerung kommt Leben in die Frauen, und mit den Schlaken im Kopf lösen sich auch die Ablagerungen in den Gedärmen.
Marc Wortmann, Jahrgang 1966, hat sich einen ungewöhnlichen Schauplatz für seinen ersten Roman ausgesucht. Sein Thema ist das Alter, nicht die Jugend: Damit geht er dem Vergleich mit vielen anderen Debüts raffiniert aus dem Weg und vermeidet die Gefahr, in die wohlfeilen Schilderungen einer Generationsbefindlichkeit einzutauchen. Ihn interessiert das, was verloren zu gehen droht: die Biographien der alten Damen. Und so ist es auch nur folgerichtig, daß man über den Ich-Erzähler nichts erfährt, was außerhalb der Mauern des Altenpflegeheims liegt: "Ich habe über 5000 Jahre hinweggetröstet. Diese 5000 Jahre sind nicht als chronologische Abfolge zu betrachten, sondern als eine Vielzahl von Leben, die nebeneinander existieren."
Die Lebensdramen, die Jan aufdeckt, sind nicht besonders überraschend, doch gerade das macht sie authentisch. Großen Anteil daran, daß der Leser dem Witwentröster so bereitwillig von Zimmer zu Zimmer und über knapp 350 Seiten folgt, hat Wortmanns erstaunlich sichere Sprache. In kurzen Passagen und klaren Sätzen, die nicht durch besondere Originalität auffallen wollen, schildert er die Fortschritte des Witwentrösters. Dabei ist der Autor durchaus nicht zimperlich, wenn es darum geht, sinnliche Eindrücke zu beschreiben. Die alten Frauen werden von ihm nicht schöner, wohlriechender oder netter geschildert, als sie sind. Ihr Zustand wird nicht beschönigt, aber auch nicht flapsig verspottet. Nicht jede der zahlreichen Beschreibungen von Gestank und Fäkalien wäre nötig gewesen, und manches Mal geraten Sprache und Handlung durch den häufigen Einschub bilanzierender Abschnitte ins Stocken. Zuguterletzt aber erfährt die spiegelglatte Oberfläche doch noch einige wohltuende Brüche. Der Witwentröster jedenfalls verläßt die Louisenstiftung nach anderthalb Jahren nicht als moderner Heiliger, und die Witwen widersetzen sich, wenn sie nicht gestorben sind, weiterhin ihrer Erinnerung. So hinterläßt der Roman den bitteren, aber auch tröstlichen Nachgeschmack wirksamer Medizin.
Marc Wortmann: "Der Witwentröster". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 347 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einer Fallstudie gleicht dieser Debütroman, schreibt Nico Bleutge in seiner Besprechung. Obgleich der junge Autor durchaus eigene Erfahrungen hat einfließen lassen, ist das Buch "nichts weniger als eine Milieustudie oder ein flapsiger Ziviroman". Bleutge lobt es als "feines Buch über das Altwerden und die Schlacke der Erinnerung". Wie Wortmann die Konstellationen zwischen den Damen des Altenheims und ihrem 'Witwentröster' "mit kurzen, klaren Sätzen" protokolliert, hat ihm Eindruck gemacht. Um so mehr, als die genauen Schilderungen von einem "veritablen Sprachexperiment" begleitet werden: Raffiniert setzt der Autor seine Motive und variiert die Sprachbilder. "Eine interne Vernetzung strukturiert den Roman, die darüber hinwegzusehen hilft, dass es nicht wenige äußerst magere Abschnitte gibt." Sequenzen, so Bleutge, in denen "nur Beispiele angehäuft, kurze und kürzeste Anekdoten und Dialoge lustlos aneinander gereiht werden".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Wortmann verfügt über ein ausgeprägtes Gespür für pointenreiche Dialoge. Die Gespräche mit den geistig verwirrten Seniorinnen gehören zu den Glanzlichtern dieses Romanerstlings.", Südkurier